Wortmusik: Komponieren mit Textpartituren – ein Workshop von Maya Shenfeld
Egal ob Elektronikproduzent:in oder Komponist:in klassischer Musik: Die meisten Musikschaffenden kennen das Gefühl, von ungeschriebenen Regeln eingeengt zu sein, einer bestimmten Rolle entsprechen oder die Erwartungen anderer erfüllen zu müssen. Für das kreative Schaffen sind diese (vermeintlichen) Normen natürlich eher hinderlich als hilfreich. Wir sind gehemmt von unserer Angst vor Verfehlungen – musikalisch, kreativ oder in Hinblick auf unsere Verhältnisse zu anderen.
Zum Glück gibt es Tools, die uns beim Musikmachen zu neuer Freude, Spontaneität und Inspiration verhelfen können – insbesondere in Kollaborationen mit Anderen. Textpartituren etwa können aus Anweisungen, Konzepten, Aktionen oder Ideen für ein Musikstück bestehen, festgehalten nicht mit Noten, sondern mit Worten. Sie laden die ausführenden Musiker:innen zum Nachdenken oder zu konkreten musikalischen Aktionen ein. Bei Loop Create 2022 sprach die Komponistin, Performerin und Pädagogin Maya Shenfeld über die befreiende Wirkung von Textpartituren auf das Komponieren und Aufführen von Musik. In ihrem Workshop konnten Loop-Teilnehmer:innen eigene Textpartituren schreiben, diese miteinander teilen und sie dann in Klänge übersetzen.
Wer damit arbeiten will, findet hier eine Sammlung von Textpartituren, die im Rahmen von Shenfelds Workshop entstanden sind.
Fluxus
Beim ersten Fluxus-Festival, das 1962 in Wiesbaden stattfand, führte der Komponist und Künstler Nam June Paik das Stück „Composition 1960 #10“ von La Monte Young auf.
Amüsiert sah das Publikum Paik dabei zu, wie er nach Youngs Anweisung zuerst seine Krawatte und dann seine Frisur in einen Farbeimer tunkte, um dann rückwärts robbend eine Linie zu malen.
Haben wir es hier mit Musik zu tun, mit einer Partitur, mit nichts davon oder gar mit beidem? Und an wem liegt es, das zu bestimmen?
Paik und Young, Künstler der Fluxus-Bewegung der 1960er Jahre, nahmen an deren „Happenings“ teil – multimedialen Performances, die die Grenzen zwischen Kunst, Musik und Alltag zu verwischen suchten. Aus Sicht der Fluxus-Künstler:innen spiegelten sich soziale Problemlagen in den Hierarchien von Kunst und Musik sowie in antagonistisch angelegten Rollen: Komponist:in und Musiker:in, Musiker:in und Publikum, Künstler:in und Kritiker:in. Laut George Manciunas „Fluxus-Manifest“ aus dem Jahr 1963 zielte die Bewegung unter anderem darauf, „lebendige Kunst, Anti-Kunst und NICHT-KUNST-REALITÄT zu fördern, damit sie von allen Völkern verstanden werde – nicht nur von Kritiker:innen, Dilettant:innen und Fachleuten“.
Fluxus-Komponist:innen wollten Musik schaffen, die jede:r komponieren und spielen kann, unabhängig vom musikalischen Erfahrungslevel. Beginnend mit George Brecht schrieben viele Fluxus-Künstler:innen die Anweisungen für ihre Werke lieber in Worten auf kleine Karten, anstatt sich der formalen Notenschrift zu bedienen. Auf diese Weise entwickelten sie Situationen oder Szenen, die von den Performer:innen vielfältig interpretiert werden konnten und begründeten damit eine bis in die Gegenwart reichende Tradition des Schreibens von Textpartituren.
Was sind Textpartituren?
Textpartituren können so simpel sein wie das oben gezeigte Beispiel von La Monte Young, sind mitunter aber auch weitaus komplexer. Ein Beispiel ist „Piano Activities“ von Philip Corner: eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, die sich über drei Seiten erstreckt.
Das Konzept der Textpartitur als Kompositionsmedium regte seit seiner Entstehung in den 1960er Jahren Komponist:innen aller Genres zu neuen Arten der musikalischen Interpretation und Kollaboration an. Die Fluxus-Bewegung hatte etwa entscheidenden Einfluss auf die experimentellen Kompositionen von Pauline Oliveros. Die Pionierin der elektronischen Musik hat das Konzept der Textpartitur mit ihrem Buch „Sonic Meditations I – XXV (1971)“ noch erweitert: „Eine Sammlung verbal notierter Meditationen, die jede:r auf vielfältige Weise erleben kann: als Gedicht gelesen, privat ausgeführt oder für ein Publikum.“
Ein weiteres Beispiel ist „Oblique Strategies“ von Brian Eno und Peter Schmidt, eine Sammlung von 115 schlichten weißen Karten mit kurzen Anweisungen: Wer in eine Schaffenskrise gerät, kann nach dem Zufallsprinzip eine Karte ziehen und nach ihrer Anweisung Musik machen. Die Kartensammlung ist bis heute gefragt und ist online erhältlich.
Auch die zeitgenössische irische Komponistin Jennifer Walshe steht in der Tradition von Fluxus. Ihr geht es vor allem darum, dass Musiker:innen mithilfe von Textpartituren ihre vorgegebenen Rollen und somit auch Hierarchien überwinden können – insbesondere in der Welt der klassischen Musik. In „The New Discipline Manifesto“ von 2016 stellt Walshe ihren Ansatz vor: „Komponist:innen haben das Interesse und die Bereitschaft dazu, die Performance zu übernehmen. Sich die Hände schmutzig zu machen, selbst aktiv zu werden – und zwar ganz spontan.“
Für ihre 2021 erschienene Sammlung The Text Score Dataset 1.0 speiste Walshe ein riesiges Archiv von Textpartituren in ein neuronales Netzwerk ein, um ihre Leidenschaft mit einer viel neueren Technologie zu verbinden. Das Ergebnis sind Partituren, die so aufwühlend und spannend sind wie jene von früheren Komponist:innen.
Textpartituren folgen
In Vorbereitung auf Loop Create lud Shenfeld zwei Musiker:innen ins Ableton-Studio ein, um mit der Umsetzung von Textpartituren zu experimentieren: die Produzentin und Sängerin Lani Bagley und den Komponisten und Kontrabassisten Caleb Salgado. Anschließend wurde gemeinsam über das Erlebnis reflektiert.
Yoko Ono, die vielleicht bekannteste Fluxus-Komponistin, hat häufig mit Textpartituren gearbeitet. Viele ihrer Werke sind in ihrem 1964 erschienenen Buch „Grapefruit“ zu finden. Eines dieser Werke, „Secret Piece“, entstand als Antwort auf die an der Musikschule gestellte Aufgabe, die Klanglandschaft ihrer Umgebung in traditionelle Notation zu übersetzen.
Im unteren Teil der Partitur sehen wir eine frühe Version des Stücks, in der Ono begann, mit traditioneller Notation zu arbeiten. Im Bassschlüssel steht eine einzelne lang gehaltene Note, doch im Violinschlüssel hat Ono die traditionelle Notation durch eine schriftliche Anweisung ersetzt: „mit der Begleitung der Vögel in der Morgendämmerung”. Der Text oben auf der Seite ist die spätere Version des Stückes.
Diese Anweisungen sind sowohl spezifisch (es gibt eine Jahres- und Tageszeit) als auch allgemein gehalten (muss das Stück zwischen 5 und 8 Uhr aufgeführt werden? Oder brauchen wir nur das morgendliche Vogelkonzert? Soll diese Note gehalten, wiederholt oder nur einmal gespielt werden?). Anstatt das Stück bei Tagesanbruch im Wald aufzuführen, entschied sich Shenfelds Ensemble dafür, sich von einer Feldaufnahme begleiten zu lassen und diskutierte während der Session über ihre kreativen Entscheidungen.
Die Diskussion zeigt die Fülle der Möglichkeiten, eine solche Partitur umzusetzen; bei einer zweiten Aufführung durch das Ensemble entstanden ganz andere Ergebnisse. Und die Ergebnisse unterscheiden sich auch von Ensemble zu Ensemble, wie etwa die Interpretation des experimentellen HipHop-Trios clipping. zeigt:
Auf der Suche nach einem zeitgenössischeren Werk wählte Shenfeld für ihr Ensemble außerdem eine neuronale Komposition aus Jennifer Walshes „The Text Score Dataset 1.0“ aus.
Für die Umsetzung der Partitur entschied sich das Ensemble für zwei unterschiedliche Ansätze: Beim ersten Durchgang wurde die Partitur laut vorgelesen, dann begann – ohne dass sich die Musiker:innen über eine gemeinsame Herangehensweise ausgetauscht hätten – die Musik; die Reflexion über das musikalische Erlebnis findet sich im Video. Bedingt durch den Austausch über verschiedene Absichten und Ansätze ist das Ergebnis im zweiten Durchgang ein völlig anderes. Da es keinen „richtigen“ oder „falschen“ Weg für die Aufführung einer Textpartitur gibt, kann sich jede:r für eine eigene Interpretation entscheiden. Dahinter steht die Intention, dass jede Aufführung so einzigartig ist wie die ausführenden Musiker:innen.
Eigene Textpartituren schreiben und nutzen
Die Geschichte der Textpartituren ist reichhaltig und inspirierend. In der Tradition von Fluxus und The New Discipline können wir uns aber auch – und ganz spontan – „selbst die Hände schmutzig machen“.
Und das geht ganz einfach: Eine Anweisung muss zunächst aufgeschrieben und dann befolgt werden. Diese Anweisung kann zum Beispiel ein poetischer Gedanke oder eine praktische Handlung sein. Im Idealfall bringt sie uns dazu, vertraute Pfade zu verlassen und einen neuen Zugang zu Musik zu finden.
Textpartituren eignen sich sowohl für Solomusik als auch für Kollaborationen, wie wir am Beispiel von Shenfeld und ihrem Ensemble sehen können. Ganz egal, ob wir mit einer bereits existierenden Textpartitur arbeiten oder eine neue Partitur entwickeln: Die Praxis der gemeinsamen Interpretation kann bestehende Hierarchien und Strukturen innerhalb einer Musikgruppe aufbrechen. Und sie kann auch ein Startpunkt sein – für die spontane und überraschende Weiterentwicklung von bereits vorhandener Musik oder auch für ganz neues musikalisches Material.
Textpartituren eignen sich nicht nur für Konzerte oder länger andauernde musikalische Projekte, sondern sind auch eine hervorragende Möglichkeit, eine Session anzukurbeln und in Schwung zu halten. Bei Loop Create haben wir unsere Teilnehmer:innen dazu eingeladen, innerhalb von 20 Minuten eine Textpartitur zu schreiben, aufzuführen und die Ergebnisse zu teilen.
Im Laufe der Jahrzehnte hat sich immer wieder gezeigt, wie viel Potenzial in Textpartituren steckt. Sie helfen nicht nur Solo-Musiker:innen gegen kreative Blockaden, sondern können auch zum Ausgangspunkt für gemeinsame Improvisationen werden. Außerdem schaffen sie einen Rahmen, in dem vermeintliche Rollen verlassen werden können und der Spaß an Spiel und Experiment im Vordergrund steht. Trotz ihrer konzeptuellen Einfachheit führen Textpartituren nie zweimal zum gleichen Ergebnis und sind in vielerlei Hinsicht zu einer eigenen Kunstform geworden. Wer selbst Interesse an der Arbeit mit Textpartituren hat, kann sich an den Partituren von Loop Create 2022 versuchen – oder einfach eine neue Textpartitur schreiben. Die Loop Community auf Discord* ist der beste Ort, um eigene Textpartituren – und natürlich auch die daraus entstandene Musik – mit Gleichgesinnten zu teilen.
Text: Ivy Rossiter
Mehr über Maya Shenfeld gibt es auf ihrer Website und auf Bandcamp und Instagram.
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