Visible Cloaks: Synergien und Systeme
Auch wenn Algorithmen – basierend auf unserem bisherigen Verhalten – immer mehr Inhalte für uns filtern und immer besser vorhersagen, was uns interessieren könnte: Nichts schlägt persönlich an eine musikalische Welt herangeführt zu werden, von der man vorher nichts wusste und in die man sich sofort verliebt.
Für viele Hörer waren zwei Mixtapes mit den fesselnden Titeln Fairlights, Mallets and Bamboo Vol.1 und 2 genau so eine geführte Rundreise durch eine zuvor noch nie gehörte Gegenströmung, die verborgene Zusammenhänge zwischen japanischem Elektropop, Ambient und so genannter „Weltmusik“ offenbarte.
Die Mixes wurden ursprünglich 2010 auf dem Label-Blog von Root Strata veröffentlicht und stellten Musik von Künstlern vor, die außerhalb Japans kaum bekannt waren, zusammen mit Koryphäen wie Ryuichi Sakamoto, Haruomi Hosono und dem Yellow Magic Orchestra. Der Untertitel lautete An investigation into fourth-world undercurrents in Japanese ambient and pop music, 1980-1986. Weil dir Mix digitale Synth-Texturen traditionellen Percussion-Klängen gegenüberstellte, fand er bei zahlreichen Musikern großen Anklang und tauchte immer wieder aufs Neue in diversen progressiven Musikszenen auf.
Zusammengestellt wurden die Mixes von Spencer Doran, der gemeinsam mit Ryan Carlile Visible Cloaks bildet. Die beiden haben vor kurzem bei dem New Yorker Label RVNG Intl. ihr zweites Album Reassemblage veröffentlicht. Da ist es wohl nicht sonderlich überraschend, dass es an dem plastischen Sound-Design, den kunstvollen Arrangements und der kontemplativen Atmosphäre offenbar wird, welchen Einfluss die japanischen Musiker der oben erwähnten Fairlights-Mixes auf das Album hatten. Aber wie sich in unserem Interview mit Spencer herausstellt, ist die Musik von Visible Cloaks durch weitaus mehr geprägt als durch den Rückgriff auf einen bestimmten Zusammenfluss von Stilen und Sounds. Dass ihre Arbeiten so überaus eigenständig sind, liegt vor allem daran, dass das Duo seine Musik systematisch mit Ideen aus anderen Disziplinen verknüpft.
Woher kommt ihr und seit wann seid ihr mit Visible Cloaks aktiv?
Ich bin in Nordkalifornien aufgewachsen (wo Ryan und ich uns begegneten) und ich wohne schon mein ganzes Leben an der Westküste. Ich komme aus der Philosophie und Ryan aus der Anthropologie, wir haben beide College-Abschlüsse, entfernten uns aber von der akademischen Laufbahn. Visible Cloaks war ursprünglich mein Soloprojekt und hieß einfach „Cloaks“, seitdem hat es eine ganze Reihe von Transformationen und Neuausrichtungen durchgemacht. Den aktuellen Namen verwenden wir seit ein paar Jahren.
Bei Visible Cloaks hört man sofort eure ganz spezifische Klangwelt heraus. Es ist sogar ganz schön schwierig, überhaupt direkte Einflüsse auszumachen. Gibt es eine spezielle musikalische Linie, der ihr euch zuordnen würdet?
Mich hat es schon immer stark angezogen, welches Gespür die Komponisten am Ina GRM für den komponierten Raum hatten, beim Hören dieser Aufnahmen habe ich im Laufe der Jahre vieles gelernt. Außerdem bewegt sich unsere Arbeit sehr in der Tradition der amerikanischen Komponisten Paul Lansky, Carl Stone und Paul DeMarinis, denn sie nutzen die digitalen Tools zum Dekonstruieren. Beispielsweise kitzeln sie mit technologischen Mitteln aus der Sprache die musikalischen Elemente heraus. Es gibt daneben die eher theoretischen Denker, die einen anderen Einfluss haben: Pauline Oliveros, R. Murray Schafer, auch Brian Eno oder Haruomi Hosono mit ihrer Verwendung kybernetischer Systeme sowie in vielerlei Hinsicht auch [der Gründer von Geinō Yamashirogumi und Filmkomponist von Akira] Tsutomu Ōhashi.
Die Musik und das ortsspezifische Sound-Design von Hiroshi Yoshimura, Satoshi Ashikawa und Toshio Ojima bilden einen weiteren roten Faden, der sich durch unsere Arbeit zieht. Bei ihnen fließt so eine spezielle avantgardistische Heiterkeit hindurch, die sich bis zu Erik Satie zurückverfolgen lässt. Ojima erschuf einen ganzen Ambient-Zyklus, der im Inneren des verrückten Spiral-Gebäudes gespielt werden sollte. Das Kunst- und Kulturzentrum wurde von Fumohiko Maki entworfen und steht mit dem architektonischen Metabolismus in Verbindung. Gesponsert wurde es von der Unterwäschemarke Wacoal und ist damit ein treffendes Symbol für die Schirmherrschaft der Firmen in der japanischen Kulturlandschaft während der Finanzblase in den 80er Jahren.
Hiroshi Yoshimura arbeitete umfassend an ortsspezifischem Sound-Design im Zusammenhang mit öffentlicher Architektur, z.B. an Interface-Sounds für das U-Bahn-System in Kobe, Sound-Logos für das Hayama Museum für Moderne Kunst, Musik für den Eingang zum Yokohama-Fußballstadions usw. Diese Komponisten treten mit dem Raum in Dialog, was dem Konzept von Musik als „Umgebung“ entspringt. Musik ist dort etwas, das innerhalb der natürlichen Klangwelt existiert und davon untrennbar ist. Das wirkte sich stark auf mein konzeptionelles Denken über Akustik aus: Mit Tonaufnahmen zu arbeiten bedeutet quasi, den Übergang zu schaffen zwischen der imaginierten Welt, die man beispielsweise in einer DAW komponiert und dem tatsächlichen physikalischen Raum, den sie beim Abspielen einnehmen.
Für Ashikawa existiert Hintergrundmusik nicht losgelöst vom Rest der Außenwelt, sondern als etwas, das sich mit dem vorhandenen Raum überlagert und seine Bedeutung verschiebt. Ich denke, beides ist möglich oder zumindest – wie ich zuvor schon sagte – zielt unsere Arbeit eher auf einen Dualismus ab.
Wie sieht euer Workflow beim Produzieren aus und wann entscheidet ihr, dass ein Stück fertig ist?
Wir haben keinen festgelegten Prozess, wir bewegen uns immer zwischen verschiedenen Workflows, damit es frisch bleibt (siehe This Heats Philosophie „alle Prozesse sind möglich, alle Kanäle offen“). Ich habe schon immer am liebsten in einer Mixtur aus verschiedenen Ansätzen gearbeitet. Dadurch versuche ich Ergebnisse zu erzielen, die in ihrer Bedeutung facettenreich sind und den Hörern somit etwas Vielschichtiges bieten, das sie durch ihre Hörerfahrung entdecken und freilegen können. Im Normalfall ist es ein ziemlich langer Weg, bis ein Stück „fertig“ ist und häufig gibt es von einem Stück am Ende mehrere Arrangements, aus denen wir wählen.
Wendet ihr für eure Produktionen bestimmte kreative Techniken an?
Es ist ein Mix aus vielen verschiedenen Strategien. Beispielsweise konvertieren wir Audio-Samples oft zu MIDI-Informationen (mit Melodyne oder mit Lives Audio-to-MIDI-Funktion). Im fertigen Stück verwenden wir dann allein die MIDI-Informationen, so dass man nur noch den melodischen Fußabdruck des Samples hört und nicht das Sample an sich. Wir arbeiten auch viel mit MIDI-Randomisierung als eine Form aleatorischer Komposition. Walter Zimmermann vertritt ein Konzept, das er als „nichtzentrierte Tonalität“ bezeichnet, er bezweckt damit, seine Kompositionen von vorgeschriebenen Strukturen zu befreien, damit er einen frischen Zugang zur Musik hat und zwar genauso, wie Hörer es bei einem neuen Stück erleben. Er erreichte das mithilfe von Rastersystemen und Mathematik, inspiriert von Kompositionsmethoden in der chinesischen Musik. Unser Ziel ist dasselbe. Sobald wir den Mixdown für ein Album machen, muss der Prozess zwar „eingefroren“ werden, aber er bleibt bei unseren Auftritten und Installationen sehr lebendig.
Habt ihr beiden unterschiedliche Rollen?
Unser Rollen sind nicht allzu spezifisch, obwohl meine Stärken wohl eher im Komponieren, Editieren und Arrangieren liegen. Ryan befasst sich vor allem mit Improvisation und Elektronik bzw. Hardware, außerdem spielt er über seinen elektronischen Blascontroller die virtuellen Holzblasinstrumente, er ist gelernter Saxofonist. Ziemlich viele abstrakte Elemente in unserem Sound-Design sind Aufnahmen von Ryan, wie er mit Elektronik improvisiert. Ich schneide und bearbeite diese in mehreren Durchgängen. Bei unseren Stücken ist eine Menge Layering am Werk und die Klänge werden oft auch auf der Zeitachse manipuliert.
Es scheint bei eurer Musik eine klare Vorstellung von der Klangpalette und den Texturen zu geben. Welche Instrumente und Klanggeneratoren nehmt ihr dafür und wie verarbeitet ihr die Sounds weiter?
Es handelt sich um eine ganz bunte Mischung. Ohne zuviel zu verraten, würde ich sagen, wir verwenden eine Kombination aus Hardware und Software. Darunter sind viele VST-Instrumente, die auf Physical Modeling beruhen, bei denen echte Instrumenten-Samples zum Einsatz kommen und die so einen faszinierenden hyperrealistischen Glanz besitzen. Für „Valve“ verwenden wir die Pan Drum und das Tingklik (im chromatischen Modus) von Soniccouture. Miyako Kodas Stimme läuft da durch und wird in MIDI-Daten umgewandelt. Die Ironie an der Sache ist, wir haben selber ein echtes Tingklik bei uns im Studio, aber – und das unterstreicht die Sache noch – was wir mit den Software-Instrumenten anstellen, ist mit echten Instrumenten nicht möglich.
Die [Physical-Modeling-] Technologie ist momentan so weit verbreitet, dass Softwarefirmen speziell in „nichtwestlichen“ Kulturkreisen Instrumenten-Packs vermarkten, die dort hergestellt und gespielt werden. Man kann sich z.B. bei YouTube Wahnsinnsvideos ansehen, wie aserbaidschanische Virtuosen bei einem Mugham abgehen, aber das funktioniert alles über Software, mit einem Headset für den Breath-Controller, einem Pitch-Bend-Regler usw. Das ist eine interessante Umkehrung des Verhältnisses, das früher zwischen Musiktechnologie und traditionellen Instrumenten herrschte, als das eine mit Exotik und kultureller Symbolik verknüpft war und das andere mit Funktionalität (z.B. hat das Shakuhachi-Sample im Ensoniq Emulator beinahe ein foleyartige Funktion). Die Globalisierung dezimiert zwar beträchtlich die althergebrachten musikalischen Traditionen auf der Welt, verschmilzt sie aber auch mit Technologie, und zwar in derselben Weise, wie Migrationsbewegungen seit Jahrtausenden die Entwicklung der Instrumente prägen. Ich finde, es lohnt sich zu untersuchen, wofür solche künstlichen Erscheinungen stehen und welche Folgen sich daraus beispielsweise kulturell ergeben, denn höchstwahrscheinlich ist das die Richtung, in die es geht.
Um zwischendurch kurz der Spekulation freien Lauf zu lassen: Traditionelle Sounds aus anderen Erdteilen sind uns heutzutage vertrauter, ob sie nun echt sind oder emuliert. Denkst du, das könnte dazu führen, dass eine größere Zahl von Musikern nichtwestliche Rhythmen, Harmonien, Stimmungen und andere Mittel einfließen lässt?
Ich glaube nicht, dass meine Generation in irgendeiner Weise mehr auf traditionelle Musik eingestimmt ist als vorherige. Gewiss sind eher abgeschottete Kulturaspekte nun zugänglicher als je zuvor, aber man braucht trotzdem das Interesse, sich mit ihnen zu beschäftigen. Nach meiner Studienzeit tauchte ich viele Jahre in ethnographische Field-Recordings, musique concrète und Alte Musik ein. Dadurch wollte ich ganz bewusst soviel wie möglich von den Strukturen verlernen, die durch westliche Popmusik in uns einprogrammiert sind. Auch wenn sich einige mit wachsender Selbstverständlichkeit aus unseren kulturellen Gefilden hinauswagen, werden Institutionen wie Rock’n’Roll oder sogar House immer eintöniger und dogmatischer. Deshalb glaube ich nicht, dass es jemals zu einem echten Paradigmenwechsel kommen wird.
Zurück zur Musik von Visible Cloaks. Eure Stücke klingen sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene akribisch arrangiert. Welche Gedanken machst du dir über das Zusammenspiel zwischen den Details und dem großen Ganzen und wie arbeitest du es aus?
Man kann wohl sagen, dass dort sehr umfangreich arrangiert wurde. Ich mochte immer die Elastizität, die Software einem beim Arrangieren bietet und die Möglichkeit, den Zoom auf Makro- und Mikrolevel einzustellen. Ich finde es interessant, ein Werk zu erschaffen, das auf mehreren Hörebenen funktioniert: etwas, das an der Oberfläche unaufdringlich ist (und deshalb in anderen Umgebungen im Hintergrund funktionieren kann), aber genügend Wert auf Details und Komplexität legt, damit es ebenso durch „deep listening“ hinterfragt werden kann. Mein Anliegen ist immer, atmosphärische und dennoch keine statische Musik zu machen. An dieser Stelle kommt dann eine akribische Vorgehensweise beim Arrangement und bei der Songstruktur ins Spiel.
Baukunst und Innenarchitektur wirken sich stark auf mein Denken über Akustik und Klangorganisation aus, denn sie teilen das Gespür für die Verteilung im dreidimensionalen Raum (das Stereofeld, das Frequenzspektrum und die Zeit) und machen sich Gedanken über die Art und Weise, wie man sie ausgestaltet, mit Details verziert usw. Ich glaube, das ist so etwas wie Synästhesie im Raum, aber wenn man Musik in zusammenhängenden Systemen denkt, ist es eine ziemlich natürliche Begriffserweiterung.
Erfahren Sie bei Soundcloud und Twitter das Neueste über Visible Cloaks.