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Tijn Wybenga: Komponieren mit Samples
UnabhĂ€ngige Musik braucht RĂ€ume, um sich zu entwickeln und zu wachsen â und wie auch viele andere StĂ€dte hat Amsterdam so seine Probleme, diese RĂ€ume zu erhalten. Deren Rolle ĂŒbernimmt heute glĂŒcklicherweise eine ganzen Reihe an umfunktionierten IndustriegebĂ€uden in den AuĂenbezirken: Orte wie alte KfZ-WerkstĂ€tten oder eine strahlend pinke Tankstelle namens âRoze Tankerâ gewinnen immer mehr an Bedeutung. So bieten sie zum Beispiel den Musiker:innen, die Jazz-Komponist und -Dirigent Tijn Wybenga eigens fĂŒr sein Orchesterprojekt âAM.OKâ (Gesprochen: AMOK) ausgesucht hat, ein kreatives Zuhause. âMan muss echt danach suchen, aber auf einmal ist da wieder ein bisschen Platz fĂŒr die Untergrund-Szene. Das ist sehr spannend. Ich habe die Leute fĂŒr AM.OK gefunden, indem ich an all diesen sonderbaren Orten mit ihnen gesprochen habe. Ich bin richtig auf Feldforschung gegangen, um diese Leute zu finden.â
Der klassisch ausgebildete Jazz-Pianist schuf mithilfe der Musiker:innen ein orchestrales Sample-Pack, mit dem er daraufhin sein neues, mit Live und Push entstandenes Album Brainteaser produzierte. âDas Album ist komplett live, aber ich habe es mit Ableton produziert, indem ich die Improvisationen meiner eigenen Musiker:innen gesampelt habe. Vieles habe ich ausgeschnitten, eingefĂŒgt, rĂŒckwĂ€rts abgespielt und verĂ€ndert. Ich habe elektronische Musiktools und -kultur genutzt, aber die aufgenommene Musik gab vor, was ich zu tun hatte â live aufgenommene Akustikmusik hat mich an die Hand genommen.â Das Sample-Pack, das dem Album zugrunde liegt, baute er aus vier Stunden improvisierter Musik, inklusive sechs Spuren mit live aufgenommenen elektronischen KlĂ€ngen des Drummers, der all seine Parts mit einem Modular-Synth gekoppelt hatte.
Das Ausgangsmaterial des Albums wurde in einem GebĂ€ude aufgenommen, das in der Vergangenheit als Filmstudio diente. Im zweiten Weltkrieg wurden hier Propagandafilme produziert, heute werden die RĂ€umlichkeiten als Studio fĂŒr KĂŒnstler:innen genutzt. FĂŒr die Aufnahmen besuchte jede:r der Musiker:innen das Studio fĂŒr jeweils eine Stunde und wurde an verschiedenen Orten im Raum aufgenommen. Zum Teil ging Wybenga so vor, um das Auftreten von Phasing zu vermeiden â âWir hatten trotzdem jede Menge Probleme mit Phasingâ, lacht er â, vor allem aber ging es ihm darum, den Umgebungsklang aufzunehmen. âDer Umgang mit dem Mikro hat mich ein bisschen enthusiastisch gemachtâ, erzĂ€hlt der Musiker. FĂŒr die Aufnahmen verwendete er extrem nahe Mikrofone und nahm auch den Sound auf, der sich weit hinter den Spielenden befand, um am Ende eine gute Auswahl an Klangquellen zu bekommen.
Wybenga bat die Musiker:innen, lange Töne zu spielen, aufsteigend von tiefen zu hohen Noten, sowie Texturen und Stimmungen zu alternieren. Aus den Sounds baute er dann ein Sampler-Instrument (den Download finden Sie weiter unten), mit dem er Akkorde spielen konnte. âSie haben komische Sounds geschaffen, aber die Textur ist so cool. Das hĂ€tten sie mit der ganzen Crew niemals gespielt. Ich habe ein sehr einzigartiges Instrument entwickelt, mit dem ich arbeiten kann.â
Laden Sie sich hier Tijn Wybengaâs kostenloses Pad-Projekt fĂŒr Brainteaser herunter
Das Instrument erfordert Ableton Live 11 oder eine Demo-Version und enthÀlt Samples von Kika Sprangers (Saxophon), Federico Calcagno (Bass-Klarinette), Alessandro Fongaro (Kontrabass), Alistair Payne (Trompete), Pau Sola (Cello), George Dumitriu (Bratsche). Produktion: Angelo Boltini.
Den Prozess der Improvisation gestaltete er spielerisch: Allen Musiker:innen stand auĂerdem eine Art Notation zur VerfĂŒgung, die aus handgezeichneten Kreisen mit Noten bestand. âIch habe den Musiker:innen gesagt, sie sollen das Ganze wie eine Runde Tetris betrachten und die Strukturen, die ich gezeichnet habe [âŠ] auf und ab zu bewegen, als wĂŒrden sie durch ein Labyrinth aus Tönen laufenâ, erklĂ€rt er. âDas Spiel ist fast unmusikalisch, es geht einfach darum, sich zwischen verschiedenen Akkordmustern zu bewegen. Dadurch spielen sie Sachen, die sie von sich aus niemals spielen wĂŒrden. Sonst wĂŒrden sie vier Töne spielen und sich denken: Das ist cool. Sie zu diesem Spiel zu zwingen, hat dazu gefĂŒhrt, dass sie andere Musik gemacht haben.â
Erwachsene sollten mehr spielen, ergĂ€nzt er. âVor allem ich als ausgebildeter Komponistâ, fĂŒgt er hinzu, âneige dazu, mit dem Kopf zu hören. Ich neige auch dazu, im Kopf zu komponieren. Ich wollte einen spielerischeren Umgang mit dem Musikmachen entwickeln. Ableton hat mir dabei geholfen. Es gab mir die Möglichkeit, nicht zu wissen was ich tue, wĂ€hrend ich wusste, dass ich gute Musik machte. Ich konnte einfach meine Intuition nutzen und genieĂen.â
Mit der Kombination aus gejammten oder improvisierten Live-Sessions und Samples feierte auch Multi-Instrumentalist Makaya McCraven kĂŒrzlich groĂe Erfolge. Wybenga fĂŒgt dem eine weitere Ebene hinzu, indem er seine in Ableton gebauten Sessions als Demos nutzt, die neuen Noten in traditioneller Notation festhĂ€lt und das Orchester dann nochmal aufnimmt, wenn sie die zerschnipselten, verdrehten und zusammengeschnittenen Sessions spielen.Â
âMir gefiel, was Makaya McCraven gemacht hatâ, sagt er. âSie haben zusammen gejammt, dann hat er die isolierten Beats und Ausschnitte genommen und geloopt, mit groĂartigen Ergebnissen. Oder auch was Radiohead gemacht hat. NatĂŒrlich liebe ich Radiohead. Die jammen zusammen zu einem Metronom und nehmen dann vom ersten Takt den Drum-Beat und von Takt einhundertsieben das Klaviersample, und dann bauen sie neue Beats drĂŒber, die sie beim gemeinsamen Jamming entwickelt haben. Das funktioniert.â
Die Reaktionen der Musiker:innen auf die manipulierten Versionen ihrer Improvisationen beschreibt Wybenga als sehr positiv. Dennoch musste er mit einigen Schwierigkeiten umgehen: âWenn man etwas eher Komplexes nimmt und dann loopt, ist das schwierigâ, erklĂ€rt er. âEs war super neu und spannend fĂŒr sie, und gleichzeitig richtig ungemĂŒtlich. Wenn man sich Hip-Hop anschaut: Dillas Art des Drum-Samplings ist heute eine Art, live zu spielen. Questlove spielt Drums, als wĂ€re er ein Sampler, der von J Dilla bedient wird. Oder Robert Glasper, der spielt Klavier so wie J Dilla das Klavier gesampelt hat. Sampling findet in der Live-Musik-Szene ein Echo.â
Tjin absolvierte eine klassische Ausbildung als Jazzkomponist am Conservatorium van Amsterdam, wuchs aber mit Old-School-Hip-Hop auf. Durch die BeschĂ€ftigung mit der Producer-Kultur begriff er, dass jedes Audiomaterial zu Musik geformt werden kann: âDiese Musik zu verstehen hat mehr mit alledem zu tun, was davor passiert ist â Man lernt, dass man Dinge wiederverwenden und re-komponieren kann.â, erklĂ€rt er. âDiese Last auf meinen Schultern verschwand, original sein zu wollen, ein Beethoven sein zu mĂŒssen, der an seinem Schreibtisch sitzt und die perfekte Melodie einfach aus dem Kopf runterschreibt. Ich verstehe nun, dass das Schaffen von Musik auch heiĂen kann, bereits Bestehendes zu transformieren.â
In seiner Jugend fand der Musiker auch Inspiration in elektronischer Musik, vor allem von Aphex Twin. Statt in Clubs dazu zu tanzen, lieĂ er die Musik ganz bewusst auf sich wirken, âim Bett, Kopfhörer auf, Licht aus, am abdriftenâ. 2016 kollaborierte er schlieĂlich mit dem Amsterdam Dance Event: Als Teil eines Team an Arrangeur:innen war er daran beteiligt, 90 Minuten Musik von Heinrich Schwartz mit Metropole Orkest fĂŒr das Boiler-Room-Eröffnungskonzert von ADE aufzubereiten.
Die ersten elektronischen Komponenten, die in seine Kompositionen einflossen, waren Pedale und Effekte, mit denen er Live-Sounds in Ableton Live bearbeitete. 2018 machte er die Musik fĂŒr âPrikkelâ, eine Tanzperformance in einer riesigen, ein Publikum von 150 Menschen umfassenden Plastik-Blase mitten im nordhollĂ€ndischen Wald. Tijn Wybenga und Angelo Boltini bearbeiteten die Sounds der vier Live-Musiker:innen mit Modular-Synths, Sequencern und MIDI und mischten den entstehenden Klang dann mit Live- und Akustikmusik.
Eine weiteres Projekt im Feld elektronischer Livemusik brachte Wybenga mit Perforator zusammen. Das Duo trackt seine eigenen Bewegungen mit Mikro-Computern, um sie dann mit Samplern und Effekten in Ableton Live zu verbinden. Von ihnen stammt auch der Cricket Synth, der auf Grundlage âextrem unzuverlĂ€ssiger, selbst gebauter Analog-Synthsâ neue musikalische Ideen entwickelt. Nebenbei kollaboriert Wybenga derzeit mit dem sĂŒdafrikanischen Gitarristen Vuma Levin, der nach seinem Studium in Amsterdam nach Johannesburg zurĂŒckging und fĂŒr sein neues Album mit AM.OK zusammenarbeitet. FĂŒr das nĂ€chste Jahr ist auĂerdem eine Kooperation mit Orchestre Partout geplant, einem Projekt mit Musiker:innen mit Fluchterfahrung. Die Arbeit zeigt, so Wybenga, welche positiven Effekte neue Stimmen und neue KlĂ€nge auf ein Land haben können. âEs gibt so viele Musikkulturen und Backgrounds [in den Niederlanden], aber ich finde, dass wir als Land im Ganzen ziemlich hinterher sind, was die Anerkennung verschiedenster Arten der Musik und Kultur angeht. Da haben wir einiges zu lernen.â
Zu den Orten dieser VerĂ€nderung gehört BIMHUIS, ein renommiertes Jazz-Lokal, das ein Residency-Programm fĂŒr junge Musiker:innen ins Leben gerufen hat. Wybenga war der erste teilnehmende KĂŒnstler, nicht zuletzt aufgrund seiner Verbindungen zu den jungen Musiker:innen von AM.OK. âSie wussten, dass ich diese groĂe, 14-köpfige Kombo habe, dass wir den Leuten vermitteln wĂŒrden: Dieser Ort ist seit den 70ern ein Zentrum des Jazz â und fĂŒr junge Leute, die Lust auf was neues haben, ist er das auch heute noch.â
In naher Zukunft plant Wybenga gemeinsam mit dem in Amsterdam ansĂ€ssigen Produzenten lowkolos, âeinem Ableton Maniacâ, eine Remix-Version von Brainteaser. âEr arbeitet mit allem, was der gröĂte Ableton-Nerd gern hört. FĂŒr mein Album habe ich ziemlich old-school gearbeitet: Ich hatte meinen Push, ich habe Sampling, Warping, Reversing und Delays benutzt. Ich habe die Musik wirklich komponiert, und dann habe ich Ableton verworfen und alles von neuem geschrieben, als traditionelle Noten, und sie live gespielt. Dadurch habe ich aber auch etwas verloren, was ich in Ableton gefunden hatte â bestimmte Sounds und Texturen, die man live schwer findet. Wenn ich beides kombiniert hĂ€tte, wĂ€re der Sound charakteristischer geworden. Mein zweiter Schritt ist nun, meine Ableton-Demos zu nehmen und zu remixen, Ableton wirklich bei jedem Schritt zu nutzen.â
Text und Interview von Emma Warren.
Mehr Infos zu Tijn Wybenga finden Sie auf seiner Webseite.