Amamelia: Der Wow-Faktor
Virtuell ist die Musikkultur Neuseelands genauso an die kulturellen Hotspots angebunden wie der Rest der Welt – dennoch hat Neuseelands geographische Lage Einfluss darauf, wie sich Musikszenen im Vergleich zu den Szenen Europas und der USA entwickeln. Amelia Berry wuchs in den 90er- und 00er-Jahren in Tāmaki Makaurau, Aukland auf, wo sie aus den Kinderzimmern ihrer Geschwister ein internationales musikalisches Spektrum aus Kraftwerk, Radiohead und Snoop Dogg aufschnappte. Durch Musikvideos lernte sie europäische Artists wie Daft Punk oder Fatboy Slim kennen, ihre erste eigene Kassette war von Aqua. Am ehesten nach zu Hause fühlte sich für Berry noch eine lokale Hip-Hop-Strömung an, die sich rund um das „Dawn Rain Entertainment”- Label formierte.
Heute ist die Musiklandschaft Neuseelands um einiges vielfältiger, und auch Berry hat in verschiedensten Szenen eine musikalische Heimat gefunden. Unter dem Alias Amamelia lebt sie die elektronische Seite ihres kreativen Schaffens aus, 2020 veröffentlichte sie mit WOW! ihr Debütalbum auf Sunreturn. Auf dem lebensbejahenden und sonnigen Release zelebriert die Künstlerin Rave-Motive wie Breakbeats oder satte Basslines und legt eine hohe Sensibilität für Pop an den Tag – nicht zu schweigen von jener queeren Energie, die alle Projekte Berrys verbindet.
Vielen Neuseeländer:innen ist Berry vor allem aus dem Radio bekannt, seit sie mehrere Sendungen auf dem lokalen, studentischen Radiosender 94b FM moderiert hat.
„95bFM ist in Tāmaki Makaurau eine richtige Institution”, erzählt sie. „Ich weiß noch, dass das der Inbegriff von cool war, als ich klein war. Ich habe vor ungefähr sechs Jahren mit einer Graveyard-Sendung angefangen, lange habe ich aber auch eine Sendung namens Amelia’s Secret gemacht – die war eigentlich nur eine Ausrede, um all die extrem merkwürdige Musik zu spielen, die ich so gehört habe. Wenn man Mittwochabend um elf eingeschaltet hat, konnte man ein Radio-Spiel von Ivor Cutler hören, das dann in 20 Minuten sozialistischen Reggae überging, und dann in polnischen Synth-Ambient aus den 80ern, und dann in eine Test-Flexi-Disc, mit der ich gezeigt habe, was ein alter Vocoder so kann.”
Neben ihren Radiotätigkeiten ist Berry als Musikerin aktiv. Nachdem sie mit 16 in ihrer ersten Band Gitarre gespielt hatte, wurde sie Teil einer lebendigen Szene aus Menschen aller Altersklassen, die Konzerte lokaler Indiebands veranstalteten. Für Berry war es eine wegweisende Erfahrung, eine in Neuseeland verwurzelte musikalische Bewegung mitzuerleben. Im Gespräch spielt sie auf das Label Flying Nun an, das für den musikalischen Ruf ihres Heimatlandes eine entscheidende Rolle spielte, mit Bands, die in den 80ern und 90ern von dort aus ihren weltweiten Durchbruch hatten. In Anbetracht ihrer Liebe für Blink 182 erscheint es folgerichtig, dass Berrys Hang zur Gitarrenmusik zur Teilhabe an der dreiköpfigen „Queerbo Pop-Punk”-Kombo Babyteeth führte, die letztes Jahr mit Poser EP ihr Debüt veröffentlichte. Durch die Beschäftigung mit den technischen Möglichkeiten, ihre Bands selbst aufzunehmen, fand sie schließlich ihren Weg in die Welt der Produktion – obwohl die Autonomie einer DAW Künstler:innen, die Musik vorrangig sozial begreifen, durchaus auch hinderlich sein kann.
„Es war für mich immer etwas Natürliches, Musik mit anderen Menschen zu machen”, erklärt Berry. „Live-Musik finde ich so spannend – mit ein paar Leuten auf der Bühne zu stehen und Sound zu erzeugen ist etwas Einzigartiges. Elektronische Musikproduktion hat sich irgendwie hintenrum an mich angeschlichen, weil ich damit die Möglichkeit hatte, meine eigene Musik zu kontrollieren. Ich habe so viel Zeit mit DAWs verbracht, und war besessen von Ninja Tune, aber ich habe lange gebraucht um irgendwas zu releasen, weil es sich anfühlte als würde das nicht so richtig zu mir passen – die Musik war einfach zu weird. Ich wusste nicht wirklich, wie ich damit eine Verbindung zum Publikum aufbauen sollte.”
WOW! entsprang weniger der koordinierten Entscheidung, ein Album zu produzieren, als einer Kombination an Zufällen und unvorhergesehenen Begebenheiten. Für Berry, die einen Hang zum kritischen Blick auf die eigene Arbeit hat, war elektronische Produktion eher ein Hobby als ein Schwerpunkt. Nachdem sie einige Tracks auf Soundcloud veröffentlicht hatte, meldete sich Zac Arnold vom aus Tāmaki stammenden, aufstrebenden Label Sunreturn bei ihr, und schlug ihr vor, eine EP daraus zu machen. Als Berry jedoch kurz davor stand, die Tracks für den Release fertigzustellen, gab ihr Computer plötzlich den Geist auf und die Pandemie brach aus – die Künstlerin war zum Umdenken gezwungen.
„Wir haben den Release nach hinten verschoben, und in der Zwischenzeit habe ich einen antiken Laptop wieder ausgegraben. Ich habe an ein paar neuen Sachen gearbeitet und richtig altes Zeug wiedergefunden, das ich schon total vergessen hatte.”, erzählt sie. „Als mein eigentlicher Computer wieder repariert war, hatten wir bereits genug Material für ein Album. Für mich fühlt sich das eher an wie eine Sammlung der besten Sachen, die ich zu dem Zeitpunkt produziert hatte. Tracks wie ‘Sad and Lonely’ gibt es schon seit Jahren, andere habe ich genau für diese Platte gemacht.”
Für ein Album, das über so einen langen Zeitraum entstanden ist, bildet WOW! ein natürliches klangliches Ganzes. Die Platte ist so vielfältig, wie ein Album es sein sollte, doch egal ob glänzender House, melancholischer Downtempo oder hoffnungslos romantische Aufreißer: Alle Tracks gehören zusammen. Berry selbst beschreibt den Sound von WOW! Als ein „digitales Chaos”. Ihre Ästhetik steht im Kontrast zur aufpolierten Makellosigkeit gegenwärtiger Musikproduktion, ohne dabei aber in einen komplett analogen Distortion-Modus zu verfallen – der Sound von WOW! „klingt, als hätte man ihn von einer alten CDR.”
„Für mich definiert sich ein großer Teil von WOW! durch FM-Synthese”, erklärt Berry. „Vor allem durch Dexed, einen kostenlosen VST-Emulator des Yamaha DX7, und Operator, den FM-Synthesizer von Ableton. Ich glaube, dieser Ruf der FM-Synthese, schwer zugänglich und esoterisch zu sein, hat mich total angezogen, ich liebe es, wie spröde und digital und künstlich die Sounds sein können. Ich war auch ein bisschen besessen von diesem einen Crash-Sound, den ich von einem alten Casio gesampelt habe.”
Die von ihr angestrebte Ästhetik erreichte Berry unter Anderem durch Resampling. In der Tanzmusik der 90er waren gesampelte Synth-Sounds allgegenwärtig; Produzent:innen standen die benötigten Sounds ganz einfach zur Verfügung, ohne dass sie die Hardware kaufen mussten, und die Techniken des Samplings, Re-Pitchings und Weiterbearbeitens sorgten für einzigartige klangliche Artefakte. Genau jenes ungepflegte Finish hatte Berry im Blick. Sie rekonstruierte die Ästhetik, indem sie Live-eigene Synthsounds übereinanderlegte, Effekte wie Reverb, Overdrive, Delay und Redux hinzufügte, Akkorde erstellte und dann bouncte. Zusätzlich arbeitete sie mit Vintage-Sample- und SoundFont-Packs, die sie auf Streifzügen durch das Internet oder bei Nischenherstellern wie Breakbeat Paradise fand.
Mit WOW! feiert Berry die diversen Möglichkeiten elektronischer Musikproduktion. Die Musikerin geht offen mit ihrer Identität als Transfrau um – nicht zuletzt in Form eines selbsternannten „geradlinigen Ausdrucks von Queerness” bei Babyteeth –, auf WOW! umgeht sie direkte Themensetzungen jedoch zugunsten einer eher spielerischen Repräsentation. Ein Beispiel dafür liefert ‘Hot Bitch Dot Zip’, eine unvergleichlich wilde und queere Clubhymne mit energievollen Vocals von bb gurl und Baby Zionov.
„Ich bin nicht unsicher damit, trans zu sein, und für mich war es ziemlich authentisch, einen Track wie ‘Hot Bitch Dot Zip’ zu produzieren”, erklärt Berry. „bb gurl und Baby Zionov sind Leute, deren Musik ich liebe, und mit denen ich es liebe, über Musik zu sprechen. So sind wir halt: Wir haben Spaß und machen Sachen, zu denen unsere Freund:innen singen können.”
Berry nennt Baby Zionov, auch bekannt als Aaliyah, als eine ihrer wichtigsten Anlaufstellen für neue Sound-Ideen. Queerer elektronischer Musik aus Tāmaki, so ist sich die Künstlerin sicher, steht unmittelbar ein goldenes Zeitalter bevor. Berry erzählt von einem einzigartigen Sinn für das Lokale, von Menschen, die einander unmittelbar nah sind und sich gegenseitig unterstützen – egal ob im Studio oder auf der Lipgloss-Clubnacht, die sie mit Zionov und Princess Richard veranstaltet. Ob es um nun enge Weggefährt:innen oder um flüchtige Bekanntschaften geht: Berry begreift jene diffuse kollektive Energie als wesentlichen Antrieb hinter ihrer Entwicklung als elektronische Musikerin.
„Ich denke: Über Musik zu reden und zu Musik zu tanzen, neidisch auf jemandes Synth-Setup zu sein, jemanden um Hilfe für einen Mix zu bitten, das sind alles Dinge, die Musik ermöglichen, und die dafür sorgen, dass Musik gut wird”, erklärt Berry. „Früher, als ich noch mehr in der Indie-Gitarren-Szene unterwegs war, waren alle irgendwie viel individualistischer und viel territorialer, was Musik anging. Ich weiß noch, dass sich mal ein Typ beschwert hat, weil jemand anderes ‘seinen Akkord’ gespielt hat. Für mich fühlt es sich in der elektronischen Musik und in der erweiterten queer-elektronischen Musik-Community aus Tāmaki eher so an, als wäre Musik was, was man teilt und zusammen erlebt.”
Anspielend auf Kollektive wie Filth (die gerade ihren Boilerroom-Durchbruch hatten) und Labels wie Noa Records und Kuini Qontrol, erklärt Berry die neuseeländische Szene für äußerst stabil. Weder deren moderate Größe noch ihre Abgelegenheit sind für sie Hindernisse – beide Faktoren begreift Berry eher als förderlich, wenn es darum geht, Support für unkonventionelle, gemeinsame Projekte zu finden.
„Vielleicht liegt es daran, dass wir uns in Nischen-Genres wie Dungeon Synth und Vaporwave so wohl fühlen,” überlegt Berry. „Ich glaube, man hat vielleicht noch ein bisschen das Gefühl, dass man mit Aspekten der Clubkultur besonders aus UK oder Berlin mithalten will, oder das nachahmen möchte, aber die letzten Jahre haben gezeigt, dass Tāmaki eher so ein eigenes Ding entwickelt hat, das in unserem kleineren Maßstabs auch mehr Sinn ergibt.”
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