Der modernistische Maler Edouard Manet gab einst der Impressionistin Eva Gonzales eine Unterrichtsstunde zur Kunst des Stilllebens. Sein Ratschlag an die französische Malerin ließe sich leicht auf jede Form des kreativen Skizzierens übertragen: „Sei schnell, denk nicht an den Hintergrund. Konzentriere dich einfach auf die Farbtöne.”
Wenn es um Skizzen geht, denken die meisten von uns erstmal an visuelle Medien – eine Malerin skizziert eine schnelle Studie, bevor sie den Pinsel zur Hand nimmt, ein Architekt bringt Visionen grob zu Papier, um mit Form und Textur zu spielen, Grafikdesigner:innen arbeiten mit Moodboards und Doodles, bevor sie sich ans finale Design setzen. Im ersten Schritt geht es immer darum, eine Richtung zu finden.
„In der Musik ist es genauso”, sagt Elektrokumbia-Artist Raúl Sotomayor, Mitglied des Geschwisterduos Sotomayor und Begründer des Soloprojekts Tonga Conga. „Man muss eine Idee haben, die man sich anhören kann. Diese Idee kann alles sein – eine Struktur, ein Sound, ein rhythmisches Muster, eine Akkordfolge, eine gesungene Melodie. Aber einfach nur im Kopf funktioniert das nicht richtig, das Wichtigste ist, dass man sie irgendwo festgehalten hat.”
Sotomayor beginnt oft mit einem klanglichen Element, für andere Musiker:innen nimmt der Prozess seinen Ausgang auf Papier. Das kann sehr gegenständliche Formen annehmen, etwa die von niedergeschriebenen Konzepten, initiale Ideen können aber auch ganz abstrakt sein.
Die russische Ambient-Musikerin und Sounddesignerin Perila kombiniert beide Ansätze: „Ich schreibe jeden Tag Ideen für potenzielle Projekte oder Traumprojekte nieder. Ich schreibe auch Geschichten und Gedichte, um meine Gefühle abstrakter auszudrücken. Wenn ich eine Idee für eine bestimmte Komposition habe, zeichne ich eine Zeitachse. Sowas wie: ‘Intro, Klang-Eskalation, alles tropft, Ambient-Konzentration’, und so weiter. Ich halte das schriftlich und zeichnerisch schematisch fest. Schreiben, zeichnen und aufnehmen sind meine Arten des Skizzierens.”
Routine entwickeln
„Man kann nur Selbstvertrauen als Schriftstellerin aufbauen”, sagt Autorin Ursula K. le Guin, “indem man schreibt.” Und das gilt nicht nur für das Festhalten von Wörtern: das Geheimnis des Musikmachens ist das Musikmachen. Wer das Skizzieren und das Experimentieren in die eigenen kreativen Routinen integriert, kann sich musikalisch und technisch weiterentwickeln und mehr künstlerische Befriedigung aus Musik-Sessions ziehen. Und: Wer viel skizziert, kommt schneller und einfacher in den kreativen Modus für neue Musik.
„Für mich ist das Schreiben ein Ritual”, sagt Perila. „Morgens, wenn alle noch schlafen und ich GMail noch nicht offen habe, bin ich so: Okay, was ist heute meine Stimmung?” Auch die in Seoul lebende Avantgarde-Electro-Produzentin Net Gala setzt auf Beständigkeit, wenn es um das Entwickeln neuer Musik geht. „Ich versuche, jeden Tag [zu skizzieren], mindestens eine oder zwei Stunden.”
Raúl Sotomayor im Studio
Regelmäßig mit Skizzen zu arbeiten, ermöglicht Musiker:innen einen niederschwelligeren Einstieg in die kreative Arbeit und kann hemmenden Perfektionismus abfedern. Das Prinzip dahinter ist denkbar einfach: Einfach loslegen, dann das Material durchgehen und das Gelungene herausfiltern. Bei Sotomayor sorgt diese an Quantität orientierte Arbeitsweise für hochwertige Ideen, auf denen er aufbauen kann: „Ich habe früher jeden Morgen einen Beat gemacht, 10 Minuten bis hin zu einer Stunde, danach ging mein Tagwerk weiter. Das half mir so richtig, zum Ende der Woche hin hatte ich dann nämlich sieben Beats, und meistens war zumindest einer davon ein guter Anfang.”
Seine Skizzen-Routine half ihm nicht nur beim Einstieg in neue Projekte, sondern schärfte auch sein Hörvermögen. „Ich habe dadurch einen besseren Blick darauf bekommen, welche Idee funktioniert und welche eher nicht. Denn manchmal hat man ja innerhalb einer Minute eine goldene Idee und denkt sich: ‘Das ist’s jetzt – ich weiß, wie der Song am Ende klingt’, und das war’s dann, man macht dann später damit weiter. Wenn ich schon eine gute Skizze von einer Idee habe, ist der schwierigste Teil des Songwritings geschafft. Wichtig ist, dass man darin wirklich konsequent ist und keine Zeit an schlechte Ideen verschwendet. Manchmal verbringt man zwei oder drei Stunden nur damit, sich irgendeine Kickdrum auszusuchen. Ich meine: Wieso macht man sowas?”
Die Kunst des Anfangs
Am Anfang einer Skizze steht im besten Fall ein Element, das zum Spielen einlädt, manipuliert werden will oder die Fantasie anregt. Das kann ein wandlungsfähiges Sample sein, ein vor melodischem Potenzial strotzender Synth-Sound oder ein Beat, der einfach nicht aus dem Kopf gehen will. Dieses erste Element hilft beim Einstieg in den kreativen Prozess und prägt manchmal auch den finalen Track.
Jeden Tag auf dieselbe Weise in den kreativen Prozess einzusteigen, kann der Schlüssel zu einem eigenen, unverwechselbaren Sound sein oder die eigene Musik stärker in einem Genre verankern – oder auch irgendwann in die ästhetische Homogenität führen. Neue kreative Ausgangssituationen herzustellen, kann Künstler:innen einen Ausweg aus dem Gefühl bieten, festgefahren zu sein.
Der südafrikanische DJ, Musiker und Performer Floyd Lavine lebt und arbeitet in Berlin, wo er das Afro-House-Kollektiv RISE sowie das afrofuturistische Label Afrikan Tales betreibt. Bei seiner Arbeit behält er gerne ganz spezifische Einstellungen im Kopf, wie etwa die BPM-Zahl oder die Soundpalette eines Tracks. Damit setzt er feste Rahmenbedingungen, von denen aus er kreativ werden kann.
„Generell will ich immer was rausbekommen, was ich gern auch auflegen oder herausbringen würde. Ein Beispiel wäre, dass ich einen Track machen will, den man um 4 Uhr morgens in einem Keller spielt. Das behalte ich dann als Konzept – dadurch weiß ich, welche Elemente aus meinem Rechner dazu passen.” Mit seinen Tracks will Lavine Menschen in Bewegung bringen. Deshalb legt er schon früh im Prozess besonderen Wert auf den Groove. „Ich will, dass der Rhythmusteil sich ergibt, dann fange ich mit den Melodien an, Samples und sowas… Ich starte mit dem Part, der im Club funktioniert.”
Wenn Net Gala einen Track beginnt, orientiert er sich an dessen Zweck: „Für mich transportieren Drums, Melodien und die ganzen unterschiedlichen Elemente innerhalb eines Tracks verschiedene Bedeutungen. Wenn ich finde, dass ein Track sich mehr auf dieses oder jenes Genre konzentrieren sollte, schreibe ich zum Beispiel als erstes die Drums. Wenn ich finde, dass der Song ein bisschen mehr dramatischen, theatralen Charakter vertragen kann, fange ich mit den Melodien an und füge dann entsprechend die Drums hinzu.”
Raus in die Welt
So viele kreative Möglichkeiten es uns auch bieten mag: Das Studio hat es so an sich, sich von der Welt abzuschotten. Um auf neue Ideen zu kommen, lohnt sich deshalb manchmal der Blick hinter die Instrumente.
Dieser Gedanke bewegte auch westeuropäische Maler:innen der frühen Renaissance: Einfach mit ein paar Blättern Papier und Kalk in die Welt hinauszugehen und sich begeistern zu lassen. Inspiration in der Natur oder im Alltagsleben der Menschen zu finden, einen flüchtigen Eindruck einzufangen, damit ins gut ausgestattete Studio zurückzukehren und einen vergänglichen Moment der Schönheit in ein vollständiges Kunstwerk zu verwandeln.
So wie Caravaggio oder Da Vinci können auch wir nicht unser ganzes Studio mit zum See oder ins Café nehmen. Doch auch wir haben die Möglichkeit, unser Skizzenbuch, oder auch unser Smartphone oder sogar mobile Musikgeräte einzupacken und raus in die Welt zu gehen. Eine neue Umgebung zu schaffen, kann uns den Druck des Anfangs nehmen – vor allem, wenn wir von zu Hause arbeiten, wo wir oft mit den unterschiedlichsten Ablenkungen konfrontiert sind.
David Lynch ist sowohl für sein Bestehen auf Routinen als auch für sein enges Verhältnis zu bestimmten Orte bekannt. Der Filmemacher, bildende Künstler und Musiker war acht Jahre lang Stammgast in Bob’s Big Boy im kalifornischen Burbank, wo er jeden Tag um halb drei Uhr nachmittags mehrere Tassen Kaffee und einen Schokoladen-Milchshake trank. Angetrieben von Koffein und Zucker begann er, Ideen auf Servietten zu kritzeln, bis er sich irgendwann eilig nach Hause begab, um zu schreiben.
Auch Net Gala genießt die Geschäftigkeit seines Stammcafés, wo er gerne mit einem DigiTech-Sampler, einem Laptop oder Push arbeitet. „Wenn es zu leise ist, wird man schnell ängstlich, aber hier ist es super laut, also geht’s mir gut. Bei mir zu Hause ginge das nicht – ich habe ein Single-Studio-Apartment –, weil mein Kopf dann einfach zu voll ist, also muss ich eben rausgehen.”
Jeder Ort birgt seine eigenen Klänge und kann uns auf seine eigene Art inspirieren. Wir können natürliche Klänge wie Vogelgesang, Regen oder das Rascheln von Blättern aufnehmen und schichten, um in unseren Tracks ein Gefühl von Verortung und Räumlichkeit zu erzeugen. Menschengemachte Klänge wie der Rhythmus eines Zugs oder das Klirren von Metall können zum initialen Sound für Beats werden. Und auch, wenn wir unsere Stimme oder anregende Klänge aus unserer Umgebung mit dem Smartphone aufnehmen, sammeln wir damit Ausgangspunkten für neue Projekte.
Auch gesprochene Sprache, die uns in Fetzen in der Außenwelt begegnet, kann musikalische Ideen inspirieren. Eine aufgeschnappte Unterhaltung kann sich in Songtexte übersetzen, ein zufällig im Gedächtnis gebliebener Satz kann musikalische Stimmungen prägen, die Rhythmen indifferenter Gesprächskulissen können zu Texturen werden.
„Wenn ich Filme schaue und jemand irgendwas sagt, was wie der perfekte Songtitel klingt, dann schreibe ich mir das [in meiner Notizen-App] auf. Ich habe unendlich viele Notizen von Sätzen und Wörtern. Manchmal ist das eher der Grundstein für ein Konzept als für einen Song, aber es ist wesentlich für meine Arbeit”, erzählt Raúl Sotomayor.
Die musikalische Muse
Wir machen Musik, weil wir Musik lieben – sie zu machen und sie zu hören. Nichts ist daher inspirierender als dieser eine Track, den wir eigentlich am liebsten selbst produziert hätten. Musik, die uns bewegt, als Inspiration festzuhalten, ist das perfekte Sprungbrett für eigene Skizzen und Werke.
Zeuge einer Menschenmenge zu sein, die in Echtzeit auf Musik reagiert, elektrisiert. Kein Wunder also, dass Sotomayor oft mitten während seiner DJ-Sets Momente der Inspiration erlebt. „Ich lege mit Traktor auf – wenn ich einen Song spiele, den ich dann sampeln will, mache ich mir einfach eine Notiz, weil man Songs mit Kommentaren versehen kann. Danach gehe ich in meine Library und schaue mir die ganzen Songs an, die ich sampeln kann.”
Viele Künstler:innen nutzen Playlists als Moodboards für eigene Musik-Sessions. „Manchmal komme ich beim Hören von Songs auf Ideen. Ich ziehe den Song dann in eine Spotify-Playlist namens ‘Inspirationen’ und komme später darauf zurück”, erzählt Floyd Lavine.
Eine einzelne Playlist mit inspirierenden Tracks ist natürlich ein guter Anfang – wer einen Schritt weitergehen will, kann die Playlists aber noch weiter aufteilen. Tracks können nach Genres sortiert oder nach Elementen wie Beats, Melodien, Texten, Vocal-Performances oder Instrumentierung geordnet werden. Sobald es dann ans Skizzieren geht, steht eine ganze Datenbank an inspirierenden Sounds für jede Stimmung und Laune bereit.
Welche Bedeutung der Praxis des Skizzierens zukommt, variiert von Musiker:in zu Musiker:in. Egal, welche Tools jedoch dabei zum Einsatz kommen oder welche Orte am meisten Inspiration spenden: Am wichtigsten ist, sich Zeit für Experimente zu lassen, dem eigenen Instinkt zu vertrauen und der eigenen Neugier zu folgen.
Die Artists aus diesem Artikel findest du hier: Raúl Sotomayors Projekte Tonga Conga und Sotomayor, Perila, Net Gala und Floyd Lavine.
Text von Lani Bagley
Raúl Sotomayor wurde interviewt von Christine Kakaire
Perila interviewed wurde interviewt von Richard Akingbehin
Net Gala interviewed wurde interviewt von Tayyab Amin
Floyd Lavine interviewed wurde interviewt von Richard Akingbehin