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Tennyson: Produktionen, die Geschichten erzählen
Luke Pretty hat seine ganz eigene Methode gefunden, um produktiv zu bleiben: Livestreams. „Wenn Leute mir zuschauen, fühle ich mich zum Arbeiten gezwungen,” lacht der unter dem Alias Tennyson bekannte Künstler. „Normalerweise nenne ich eine Session ‘Achtstündiger Livestream’ oder so, und dann bin ich am Arsch. Ich muss mich dann halt acht Stunden hinsetzen und arbeiten.”
Es mag überraschen, dass Tennyson nach über zehn Jahren als aktiver Musiker noch immer auf Tricks zurückgreifen muss, um in den Songwriting-Modus zu kommen. Seine Technik jedoch zahlt sich aus: „Ich versteh das ja noch nicht mal. Aber wenn’s gut läuft, kann ich das Material danach abspielen, und obwohl ich nicht weiß, was passiert ist oder was gut lief, ist mir klar: Es funktioniert.”
Die Ergebnisse auf Rot, Tennysons im Februar erschienenen ersten LP, sprechen für sich. Die Produktion ist makellos, und trotz der zahlreichen, in allen Songs vertretenen Samples und Sounds passt alles auf dem Album nahtlos zusammen. Keine zwei Songs scheinen demselben Genre oder derselben Stimmung zuzugehören, und doch teilen sie alle dieselbe verspielte Energie, fast durchgehend begleitet von Tennysons warmen, emotional packenden Vocals.
Inspiration zog der in Edmonton, Kanada aufgewachsene Musiker aus verschiedensten Quellen – manche davon bewusster als andere. „In meiner Jugend habe ich viel introspektive elektronische Musik gehört, wie James Blake oder Boards of Canada”, erinnert sich Tennyson. „Ich habe einfach Stunden über Stunden zugehört, vor allem als ich noch jünger war, 16 oder 17. Ich habe nachts Spiele mit meinen Freunden gespielt und hatte dabei einfach ständig Musik an, und ich glaube, diese vielen Stunden des Musikhörens haben sich am Ende auf mich ausgewirkt.”
Anders als die Künstler:innen, die ihn inspirierten, verzichtet Tennyson auf analoge Synths und externe Geräte. Die Sounds in seinen Tracks sind dennoch von einzigartiger Unmittelbarkeit und Lebendigkeit – als wären sie Figuren aus einer Geschichte. Oft entstehen sie durch ungewöhnliche Produktionstechniken: Auf „Feelwitchu” brummt und rasselt eine synkopierte Bassline wie eine Biene in einem Glas. Ein Video auf Tennysons Instagram-Seite zeigt, wie er dafür einen Schlagzeugbesen gegen die Lautsprechermembran einer seiner Studiomonitore vibrieren lässt.
„Ich habe einen massiven Patch sehr laut über meine Lautsprecher gespielt, habe verschiedene Objekte drangehalten und das in Stereo aufgenommen. Ich glaube, ich habe jeden Lautsprecher separat aufgenommen, damit ich irgendwie denselben Stereo-Input bekomme. Schlagzeugbesen funktionieren gut, und ich hatte noch einen japanischen Ventilator, den ich auch viel benutzt habe. Vor allem habe ich aber glaube ich mit Papier gearbeitet. Für das Video habe ich den Besen genommen, Papier hat dann aber schon den besseren Sound ergeben. Man hätte da aber, glaube ich, noch viel mehr Raum für Experimente. Es wäre lustig, mir mal Lautsprecher zu holen, um sie dann kaputtzumachen. Zum Beispiel, indem man Löcher in die Membranen haut und das aufnimmt. Der Bass soll einfach bei jeder Lautstärke laut klingen.”
Auch in Tennysons Umgang mit Live zeigt sich dessen Enthusiasmus für das Experimentelle. Wenn er über die Software spricht, erscheint sie fast als eine Erweiterung seines eigenen Körpers: „Mit Ableton fühlt es sich nicht so an, als gäbe es eine Barriere zwischen einem selbst und dem Programm”, erzählt er. „Man kann irgendwie ein Teil von Ableton werden, wie ein Mech – ein schönes Gefühl.”
Lives Corpus-Effekt hat es dem Künstler besonders angetan, vor allem für die Produktion von Leads und Basslines. „Der ist echt krass”, sagt Tennyson, „man kann damit so viel machen.” Statt zur Steuerung des Pitches einfach den eingebauten MIDI-Input zu nutzen, automatisiert er die Tune- und Decay-Parameter. „Ich finde einfach, man kann mit diesen zwei Reglern so viel mehr machen. Man kann damit Bending-Effekte erzeugen, oder den Noten nach den Hits einen Wobble-Effekt zu verpassen. Pipe und Tube sind beide irre für tiefe Pitches. Damit kriegt man einfach den besten Bass-Sound.”
Eine besondere Fähigkeit Tennysons: Er layert Klänge, ohne den Sound im Mix fahrig oder unkonzentriert wirken zu lassen. Die Projekt-Dateien auf seinem Instagram-Account lassen ahnen, wie CPU-intensiv einige seiner Sets sind – sie enthalten bis zu 100 Spuren, mit Dutzenden an Gruppen und einer beeindruckenden Anzahl an Automationen. Folgt Tennyson hinsichtlich des Layerings und der Soundauswahl bestimmten Regeln, oder verfährt er nach Gefühl? „Da steckt definitiv viel Intuition dahinter”, sagt er. „Ich verschwende nie irgendwelche Gedanken an Frequenzräume. Ich finde das ein bisschen kitschig. Wenn man damit noch am Anfang steht, macht das wahrscheinlich schon Sinn, aber irgendwie finde ich diese ganze Seite der Produktion auch komisch – also zum Beispiel diese Grafiken, die zeigen, wohin man zum Beispiel eine Snare pannt.”
„Ich würde sagen, die anfängliche Auswahl an Sounds hat viel mit Glück zu tun. Wenn ich Sounds auswähle, klicke ich mich einfach durch Unterordner und ziehe relativ zufällig Sachen rüber. Es hilft schon, eine große Auswahl an Sachen zu haben, aus denen man auswählen kann, und sich dann konstant davon überraschen zu lassen, was man rüberzieht. Ich nutze Soulseek, wo man generisch klassische Musiktermini wie „Largo-Quartett” oder “experimentelle 80er” eingeben und einfach 60 verschiedene Aufnahmen runterladen kann. So finde ich Sachen, mit denen ich dann arbeite. Aber wie ich sie dann mische, ist einfach komplett random.”
So imposant seine Produktions-Skills auch sein mögen: Tennyson ist sich über die Notwendigkeit bewusst, technisches Können und Zurückhaltung im Gleichgewicht zu halten und seine Kompositionen gut zu strukturieren.
„Als ich anfing, Musik zu machen, hat mich der Produktions-Aspekt schnell sehr fasziniert. In letzter Zeit hat sich daran aber irgendwie was geändert. Ich bin schon froh über meine Skills, aber ich will meinen Fokus mehr darauf legen, durch meine Produktionen Geschichten zu erzählen. Und wenn da viel los ist, dann wird die Story nicht besonders klar. Ich finde die Vorstellung schön, durch Sounds eine Geschichte zu erzählen, und durch Synths, und nur ungefähr zehn solide Sounds als Figuren in der Geschichte zu haben. Das war in letzter Zeit mein Umgang mit Musikproduktion, statt mich zum Beispiel zu fragen: ‘Wie sehr kann ich damit andere Produzent:innen beeindrucken?’, was ich davor lange gemacht habe.”
Dennoch ist es ohne Zweifel beeindruckend, wie Tennyson das Maximum aus jedem Tool rausholt. Im Mittelteil von „Iron” erzeugt er durch einen Delay auf der Masterspur, dessen Time- und Dry/Wet-Regler er automatisiert, einen seltsam gedehnten Effekt – wie ein Space-Echo, das dringend gewartet werden muss. Auf „Nine Lives” versetzt ein auf random und 1/64-Rate gestellter Arpeggiator ein ohnehin schon hyperaktives Stakkato-Synth-Riff in chaotische Raserei.
Sogar der EQ Eight, einer der funktionaleren Live-Effekte, wird bei Pretty zu einem kreativen Tool: Auf demselben Track erzeugt er damit einen Shepard-Ton im Hintergrund – also die Illusion eines endlos ansteigenden Pitches, der die nervöse Stimmung des Tracks ständig vorantreibt.
„Ich will, dass es sich anfühlt, als würde permanent etwas aufgebaut – oder dass so eine Spannung entsteht, als würde etwas zum Überlaufen gebracht werden, aber es passiert einfach nicht. Wahrscheinlich gibt es für diese Shepard-Töne auch ein Plug-in, ich habe einfach den EQ Eight genutzt.”
Das komplette Album ist geprägt davon, gleichermaßen Wert auf den den Vorder- wie auf den Hintergrund zu legen – das obige Vorgehen ist nur eines der vielen Beispiele dafür. Jedes Element hat innerhalb eines Songs seinen Ort, und wird mit Bedacht und Aufmerksamkeit behandelt.
„Auf dem Album wollte ich dafür sorgen, dass man – falls gewünscht – alles hören kann, was passiert. Also, nichts wurde begraben oder so. Ich denke aber schon wohl über Vorder- und Hintergrund nach, und darüber, worauf die Leute am Ende ihre Aufmerksamkeit richten werden. Ich glaube, dass Kontrast generell sehr wichtig ist. Zum Beispiel, wenn man trockene und klare Sounds mit einem wolkigen Nachklang hat. Kontraste kann man auf verschiedenste Arten erzeugen.”
Hat Pretty einen Lieblingstrack? Oder wäre das, als würde man ein Kind den anderen vorziehen? „Ich glaube schon, dass mir manche davon wichtiger sind”, gesteht er. „Ich glaube, ‘Doors’ mag ich am liebsten. Einfach vom Vibe her, da finde ich den am stärksten. Es gibt online diese Ästhetik, die sich Weirdcore nennt, die ist ein bisschen wie Liminal spaces, aber es geht darum, herauszufinden, wieso diese Liminal Spaces so sehr einen Nerv treffen, und in dieses Gefühl irgendwie tiefer reinzugehen. Das ist der Vibe, den ich mit dem Song einfangen wollte.”
„Ich glaube, Kindheit ist generell einfach was Traumatisches”, überlegt Pretty. „Im Sinne von: das menschliche Gehirn sollte einfach nicht mit modernen Dingen aufwachsen, und Plastik, und komischen Umgebungen, für deren Verständnis es eigentlich nicht gemacht ist. Als Kind schaufelt man sich diese Informationen einfach in den Kopf. Also, in der Schule bringen sie einem Sachen wie ‘Krankenhaus’ oder ‘Feuerwehrauto’ bei, und versuchen einfach, einem diese ganzen menschlichen Konzepte so schnell wie möglich reindzurücken, damit man in der Gesellschaft überlebt. Ich glaube, das Resultat ist einfach so ein bisschen ein Trauma. Also glaube ich, diese [Weirdcore-]Bilder überspringen einfach einen Teil des Gehirns und gehen direkt an den Grund. Also ja, das ist mein Lieblingslied.”
Prettys Vocals sind auf beinahe jedem Track des Albums vertreten, manchmal nur mit ein wenig EQ und Kompression versehen, manchmal auch gewarpt, mit Pitch-Shifting bearbeitet oder geloopt, bis man sie kaum mehr erkennt. Auf „Slow Dance”, einem der melancholischeren Tracks auf dem Album, sind die Vocals des britischen Singer-Songwriters Rae Morris zu hören.
„Ich wollte damit brechen, dass meine Stimme einfach in jedem Song vorkommt – also war ich froh darüber, dass das geklappt hat”, erzählt Pretty. „Ich hätte wahrscheinlich auch noch einen anderen Vokalisten gehabt, aber das ganze war schwer zu orchestrieren, und auch so vom Timing her. Ich hatte alle Songs geschrieben, aber noch gar keine Lyrics, also musste ich im ersten Schritt erstmal die ganzen Lyrics schreiben. Und wenn die dann fertig sind, und man sie irgendwie aufnimmt, um zu schauen wie sie klingen, ist man so: Ah ok, ich bin ja schon fertig, ich muss einfach nur drauf singen.”
Prettys Texte sind sparsam, dabei aber zutiefst persönlich und an manchen Stellen brilliant rätselhaft. „Für mich ist die Melodie wichtiger als die Texte. Das wird sich wohl irgendwann ändern, aber jetzt gerade habe ich das Gefühl, durch die Melodie mehr vermitteln zu können.”
Warum sich daran etwas ändern wird? „Das ist einfach ein Ding der Übung. Also: je mehr Lyrics ich schreibe, desto größer wird wahrscheinlich auch mein Bedürfnis, Dinge zu verbalisieren. Ich merke, wie dieser Teil von mir größer wird – das Bedürfnis, tatsächlich mit Worten durch Musik zu kommunizieren.”
Mehr zu Tennyson gibt es auf Facebook, Instagram, Soundcloud und Bandcamp.
Text und Interview von Hal Churchman.