Als 2009 das vorerst letzte Album von Telefon Tel Aviv erschien, hatte die ursprünglich aus New Orleans stammende Band bereits eine verworrene Geschichte hinter sich. Mit ihrem 2001 veröffentlichten Debütalbum Fahrenheit Fair Enough hatten Josh Eustis und Charles Cooper schnell viele begeisterte Hörer gefunden. Die Kombination aus Mikrosampling, Folk-Songwriting und ausdrucksstarkem Sound Design war allerdings ein Konzept, von dem sich das Duo mit den folgenden Alben Map Of What Is Effortless und Immolate Yourself immer weiter entfernte. So ließen Telefon Tel Aviv manche Hörer ratlos zurück und gewannen neue dazu. Als Cooper 2009 auf tragische Weise ums Leben kam, wurde Telefon Tel Aviv für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt und hinterließ eine überschaubare Diskographie, die es aber in sich hat. Eine Band, die sich immer gegen Genre-Konventionen und Erwartungshaltungen gesträubt hat – mit dem Nebeneffekt, dass ihr Kultstatus immer größer wurde.
Mit der hohen Qualität der TTA-Veröffentlichungen als Referenz setzte Josh Eustis seine musikalische Karriere fort und arbeitete als Sound Designer, Produzent und Mastering Engineer für eine Vielzahl von Projekten. Er wurde von Mega-Rockbands wie Nine Inch Nails, A Perfect Circle und Puscifer gebucht und sammelte Credits als Produzent von Tropic Of Cancer, Vatican Shadow und vielen anderen. Parallel dazu startete er zusammen mit Turk Dietrich das Projekt Second Woman, um durch raffiniertes Sound Design die Grenzen der Clubästhetik auszuloten.
Aus verständlichen Gründen war es für Eustis eine widersprüchliche Entscheidung, den Faden von Telefon Tel Aviv wieder aufzunehmen. Doch als ihn seine Arbeit mit Dietrich in ganz ähnliche Bereiche der Musikproduktion zurückführte, kamen automatisch neue Ideen für das Projekt. Dank jahrelanger Studioarbeit war Eustis als Produzent zwar mit allen Wassern gewaschen, doch ein bestimmtes Konzept der Zeitmanipulation ließ sich mit herkömmlichen Mitteln einfach nicht verwirklichen. Also tauchte Eustis 2016 in die Welt von Max/MSP ein und entwickelte parallel dazu neue musikalische Motive, die jetzt auf dem vierten Telefon Tel Aviv-Album Dreams Are Not Enough Gestalt angenommen haben.
Dreams Are Not Enough ist eine brodelnde, fast schon stürmische Platte, die einerseits an frühere TTA-Werke erinnert, andererseits aber ein weiteres neues Kapitel aufschlägt. Das Album erscheint dieser Tage auf Ghostly International und ist die gelungene Fortsetzung eines Projekts, das in der Geschichte der US-Electronica wirklich einzigartig ist. Wir haben uns mit Josh Eustis getroffen, um mehr über den kreativen Prozess hinter dem lang erwarteten Comeback zu erfahren.
In welcher Beziehung steht Dreams Are Not Enough klanglich zu den früheren Veröffentlichungen von Telefon Tel Aviv?
Kurzgesagt: Für mich schließt das Album komplett an das letzte Album an. Aber die Platten sind ja so unterschiedlich, dass viele denken, es seien drei verschiedene Platten von drei verschiedenen Bands. Also habe ich diesmal versucht, Elemente aller drei Platten auf einer Platte zu versammeln – ein wenig Map [Of What Is Effortless],ein wenig Fahrenheit [Fair Enough], ein wenig Immolate [Yourself] und dann was sonst noch kommen sollte. Egal was wir gemacht haben, wir waren jedesmal gelangweilt und nahmen bei jedem Album einen drastischen Kurswechsel vor. Vielleicht ist dieses Album in diesem Punkt wie die anderen: Es ist eine Abkehr.
Hast du einen bestimmte Herangehensweise gewählt, von der du dachtest, dass sie zu Telefon Tel Aviv passt?
Ich brauchte fünf Jahre, um herauszufinden, ob ich das verdammte Ding überhaupt machen sollte. Und dann musste ich mir über den Sound Gedanken machen. Als ich eine Vorstellung davon hatte, wurde mir klar: „Das werde ich mit meinen derzeitigen Fähigkeiten nicht schaffen.“ 2016 begann ich damit, Max online zu lernen und bastelte dann zwei Jahre lang an kleinen Melodien und Lyrics, die ich gespeichert habe. So habe ich das Toolkit gebaut, das ich für die neue Platte brauchte.
Welche technische Vision hattest du für das Album?
Es ging mir darum, die Zeit zu manipulieren. Und das knüpft direkt an die Musik von Second Woman an, die ich mit Turk gemacht habe. Der Grundgedanke war, dass alles fließend und locker sein sollte – nicht im Raster. Das reicht bis zu den Anfängen von Telefon Tel Aviv zurück. Auf Fahrenheit Fair Enough sind viele Rhythmen nach der Fibonacci-Sequenz programmiert oder musikalische Elemente nach der Mandelbrot-Menge zerlegt. Wir haben klassische Mathematik angewendet, um das Klangmaterial manuell zu programmieren und diese kurvigen Rhythmen zu erreichen. Das hat mich schon immer fasziniert. Aber weil wir uns damals eher auf das Sound Design und komplexe Sound-Programmierung konzentrierten, habe ich mich nicht weiter mit diesen kurvigen Rhythmen auseinandergesetzt. Ich wollte das im Kontext des melodischen Materials weiter erforschen und gleichzeitig etwas erreichen, das beim Hören einfach Spaß macht und nicht wie etwas klingt, das man schon kennt.
Komplex verschachtelte Patterns – seit dem Debütalbum „Fahrenheit Fair Enough“ ein Markenzeichen von Telefon Tel Aviv
Wie hast du deine Ideen und den technischen Ansatz mit Max verwirklicht?
Das machte genausoviel Spaß wie meine ersten Gehversuche mit der elektronischen Musik. Es war eine unglaublich befreiende und überwältigende Erfahrung – genau wie damals, als Charlie und ich zum ersten Mal vor Pro Tools saßen und ohne jegliches Vorwissen zusammen Musik machten. Eine völlig eigene Welt, ohne dass du weißt, wie alles funktioniert. Du experimentierst einfach, bis die Musik cool, interessant oder neu klingt. Ich habe seitdem so viele Platten für mich und andere Künstler gemacht, dass ich einen fast schon überheblichen Standpunkt eingenommen hatte: Ich dachte, dass ich alles über die Musikproduktion weiß. In Max einzusteigen, das war wie aus dem Nichtschwimmerbecken geholt und ins tiefe Wasser geworfen zu werden.
Wie sieht dein Max-Toolkit aus?
Im Grunde habe ich in Max eine große Stand-alone-Anwendung gebaut, die ich dann in einzelne Patches für Max For Live zerlegt habe, damit sie in Ableton Live funktionieren. Ich wusste, dass Live wegen seiner Max-Implementierung die Leinwand für dieses Projekt sein wird. Die Alternative wäre gewesen, Javascript zu lernen und Logic zu nutzen, und das erschien mir viel schwieriger. Also lernte ich Max, um Max for Live das Timing in Ableton steuern zu lassen. In Ableton fühle ich mich gerade einfach wie zu Hause.
Welches System hast du in Max entwickelt?
Alles dreht sich um das Manipulieren der Zeitaufteilung. Das Hauptsystem heisst Guilt. Ich kann damit zum Beispiel einen Zeitraum von zwei Takten wählen und habe dann 32 Steps, die beliebig lang sein können – anstatt zwei Takte, die in 32tel-Noten aufgeteilt sind. Die Step-Längen lassen sich mit einem Multi-Slider oder einem Graphen zeichnen, und dann werden die beiden Takte perfekt geloopt. Dabei werden die Abstände zwischen den Steps nicht mit Notenlängen gemessen, sondern mit reinen Zeitwerten. So kann jeder Step seinen eigenen Zeitwert haben und man bekommt stets verschiedene Zeitaufteilungen, mit denen sich dann andere Dinge triggern lassen. Wenn ich einen Synth hinter das Guilt-System setze und Akkorde oder Melodien spiele, spielt er die gedrückten Noten ähnlich wie ein Arpeggiator. Aber gemäß der Zeitwerte, die ich mit dem Multi-Slider festgelegt habe.
Und damit lassen sich auch andere Dinge triggern. Das Tragedy-System [ursprünglich entwickelt von Alessio / K-Devices] funktioniert ähnlich, ist aber ein polyphoner MIDI-Noten-Repeater mit integrierten LFOs für die Velocity-Werte. Tragedy kann zusammen mit Guilt triggern, wenn man es anders machen will. Das Tool kann Patterns speichern und zwischen Patterns morphen oder interpolieren – ein wirklich cooles Feature. Dann gibt es noch Pity: Ein Gate, das auch ein eigenes Timing-System hat oder sich mit dem von Guilt zusammenschalten kann. Bei jedem „Bang“-Impuls von einem der anderen Tools startet es eine Amplituden-Hüllkurve oder was gerade da durchgeht. So lassen sich die Sounds auf interessante Weise zerlegen. Es gibt polyphone MIDI-Noten-Delays, die ebenfalls biegsame Delay-Zeiten bieten, es gibt ein Mono-Delay… das meiste dreht sich um MIDI-Manipulation und wie das MIDI-Timing berechnet wird. Eigentlich ist alles ziemlich simpel.
Josh Eustis hat freundlicherweise ein kostenloses Live-Set zur Verfügung gestellt.
Wie lange hat es gedauert, das System zu entwickeln?
Mehrere Jahre. Ich wusste genau, was ich machen will, hatte aber keine Ahnung wie. Ich musste einfach so lange an der Idee dranbleiben, bis sie funktionierte. Ich habe den Online-Kurs Kadenze belegt und der hat alles für mich möglich gemacht. Bei vielen Dingen hat mir auch Tom Hall von Cycling ‘74 geholfen.
Wie weit entwickelt ist das System jetzt, im Vergleich zu deiner ursprünglichen Idee?
Viel weiter entwickelt als ich mir jemals vorstellen konnte. Ohne dass ich darauf übertrieben stolz sein will, aber ich war wirklich begeistert, dass ich es irgendwie geschafft habe und viel mehr erreicht habe, als ich anfangs dachte.
Egal was wir gemacht haben, wir waren jedesmal gelangweilt und nahmen bei jedem Album einen drastischen Kurswechsel vor. Vielleicht ist dieses Album in diesem Punkt wie die anderen: Es ist eine Abkehr.
Hast du jemals befürchtet, den kreativen Aspekt aus dem Auge zu verlieren und nur noch auf die technische Seite des Systems abzufahren?
Diese Falle droht ja allen, die sich mit der technischen Seite von Musik beschäftigen. Aber ich habe mir selbst Grenzen gesetzt: Ich habe nur tagsüber mit Max programmiert, abends durfte ich nur an Melodien oder Beats arbeiten – kreative Dinge, nichts Technisches. Es ging nur darum, das strikt voneinander zu trennen und sicherzustellen, dass ich nicht nur fleißig für mich selbst arbeite. Das wurde mir bei der dieser Platte klar. Ich arbeitete 60-70 Stunden pro Woche und rechtfertigte das damit, dass ich mir sagte: „Ich werde dieses Album erst machen können, wenn das Toolkit fertig ist“. In den schlimmsten Momenten dachte ich, dass ich diese extrem mühsame technische Arbeit vielleicht nur mache, um kein schlechtes Gewissen zu habe, falls die Platte nicht fertig wird. Aber dann nahm das Toolkit wirklich Gestalt an und Ghostly [International] meldeten sich: „Hey, wirst du diese Platte machen?“ Ich wusste sogar schon, wie die Songs heißen sollten. Ich hatte alle Motive ausgearbeitet und die meisten Melodien komponiert. Also musste ich mir nur noch Zeit nehmen und das Album produzieren.
Hast du diese Aufmunterung von Ghostly gebraucht?
Ja, denn ich hätte wahrscheinlich für den Rest meiner Tage an diesem Max/MSP-Kram arbeiten können, ohne eine Platte zu machen! Ich musste mir selbst Grenzen setzen. Ich habe die Aufforderung des Label ernstgenommen und das war gut für mich.
Wie lief die eigentliche Produktion des Albums?
Technisch gesehen ging es 2016 los. Ich hatte schon drei Songs fertig, bevor ich mich dann wirklich auf das Album konzentriert habe.
Und für die sechs fehlenden Tracks hast du dann das Guilt-System angeworfen und mit vorab entwickelten Zutaten gefüttert?
Ja – ich wusste schon im Vorfeld, in welche Richtung die Tracks gehen würden. Ich setze mich nicht wirklich hin und experimentiere mit Song-Aspekten. Wenn es um Melodien oder grundlegende Songstrukturen geht, weiß ich meistens schnell, wohin die Reise geht.
Man kann elektronische Musik ja auch nichtlinear und ohne kompositorische Aspekte machen. Aber gehst du sie aus der Songwriter-Perspektive an?
Ja, ganz bestimmt. Ich wusste, dass ich mir Gedanken über Wörter und Motive machen und ein Bild entwerfen würde. Ich wusste, worum es in den Songs gehen sollte, aber wusste nicht genau, wie ich es sagen würde. Ich war mir auch nicht sicher, ob es vielleicht doch im Dance-Bereich verwurzelt sein würde, denn ich liebe das. Aber am Ende wurde es eher... ich will nicht sagen ein Folk-Album, aber es geht eher in diese Richtung als in Richtung Dancefloor.
Second Woman – Josh Eustis’ Projekt mit Turk Dietrich von Belong – zielt direkter auf den Dancefloor
Mir kommt es so vor, als ob du dich bei Dreams Are Not Enough nicht nur mit Zeitverschiebungen beschäftigt hast, sondern auch mit Räumlichkeit und Atempausen im Mix.
Auf jeden Fall. Ich habe versucht, über den Raum zwischen den Noten nachzudenken. Die Platte sollte nicht zu voll sein und ich wollte auch nicht 70 Spuren in einem Projekt haben wie bei früheren Tracks von Telefon Tel Aviv. Ich wollte ein bisschen Selbstzensur üben und den Dingen viel Raum lassen. Neuerdings mag ich, wie Raum in der Musik klingt: ein sehr angenehmes Gefühl.
Seit einiger Zeit spielst du wieder live als Telefon Tel Aviv und wirst mit dem neuen Album auch auf Tour gehen. Wie sieht dein Live-Set aus?
Es ist mit Szenen in der Session-Ansicht angelegt. Manche Instrumente sind einfach Klangerzeuger, die offen sind, es gibt MIDI-Clips und Vocal-Effektketten und all das. Eine Spur ist für Video, eine weitere triggert Lichter und es gibt noch andere zusätzliche Elemente. Aber im Grunde nutze ich Max – ich habe eine eigene grafische Oberfläche für alles. Beim Spielen schaue ich also nicht auf Ableton Live. Auf diesem Interface kann ich Timing-Daten an wiedergegebenes MIDI schicken, es verändern oder so manipulieren, dass es für mich spannend ist. Bei den Vocals gehe ich ähnlich vor. Es ist ziemlich simpel, aber gleichzeitig auch mit einem offenen Ende. Wenn ich will, kann ich die Songs genau wie auf der Platte spielen, aber ich kann sie auch in neue Richtungen lenken und komplett durcheinanderbringen. Das macht mir eigentlich am meisten Spaß.
Hast du dein Live-Set so gestaltet, dass du damit auf der Bühne mehr improvisieren kannst?
Ich würde sagen, dass die Improvisation bei der Live-Performance in der elektronischen Musikkultur einen hohen Stellenwert hat. Im Song-Kontext funktioniert die Improvisation für mich nicht so gut. Ich bleibe meinem ursprünglichen Plan einfach gerne treu und es fällt mir nicht leicht, Wege für das Improvisieren zu finden: Wenn ich nur einen bestimmten Zeitraum für eine musikalische Idee habe, wie weit kann ich sie dann in dieser Zeit bringen?
Folgen Sie Telefon Tel Aviv auf Soundcloud
Text und Interview von Oli Warwick