SUGAI KEN: Stille, Natur und Tradition in Field-Recordings
Field-Recordings, früher eher ein Randphänomen, kamen im Laufe der letzten Jahre zunehmend im Mainstream an. Einst eher ein akademisches Mittel, um Aufnahmen einer Zeit und eines Ortes zu kultur-anthropologischen Zwecken zu bewahren, sind Field-Recordings heute häufig Bestandteil massentauglicher Medien wie ASMR-Videos oder Hintergrund-Geräuschkulissen, sollen der Konzentration oder dem Schlaf förderlich sein. Und auch als kompositorisches Element der Gegenwartsmusik werden Field-Recordings immer beliebter. Dies mag daran liegen, dass es immer einfacher und bezahlbarer wird, die Umwelt mit hochwertige Mikrofonen oder Aufnahmegeräten aufzunehmen. Wie jedoch bleiben verschiedene Künstler:innen wiedererkennbar, wenn sie in ihren Arbeiten die Klänge der natürlichen Welt aufnehmen?
SUGAI KENs Produktionsstil und musikalische Ansätze als Künstler wurzeln tief in der Technik der Field-Recordings. Seit seinem 2010 veröffentlichten ersten Album 時子音 -ToKiShiNe- gibt Sugai japanischer Lyrik in Umgebungs- und elektronischen Klängen neuen Ausdruck. Nachdem prestigeträchtige Labels außerhalb Japans auf ihn aufmerksam geworden waren, veröffentlichte er 2016鯰上 - On The Quakefish auf dem Melbourner Label „Lullabies For Insomniacs” und 2017 UkabazUmorezU auf dem New Yorker Label „RVNG Intl.” Er erschloss sich eine weltweite Hörerschaft und begann durch den Auftrieb der beiden Releases, seine einzigartigen Philosophien und Methoden zu entwickeln.
In den letzten Jahren veröffentlichte er zwei Studioalben: Tone River und Be Sure to Listen to This at Japanese Teatime sind Meilensteine seines Versuchs, japanische Topographie und traditionelle Kultur mit elektronischer Musik zusammenzubringen.
Das auf dem niederländischen Label „Field Records” erschienene Album Tone River war eine Auftragsarbeit für die niederländische Botschaft in Tokyo. Der Release sollte die Beziehung zwischen Japan und den Niederlanden hinsichtlich der gemeinsamen Wasserwirtschaft untersuchen. Der Albumname stammt von einem 322 Kilometer langen Fluss, der Mount Ōminakami in Miniamiuonuma in der Niigata-Präfektur entspringt, sich durch die Kanto-Region zieht und bis in den Pazifik fließt. In der Vergangenheit war der Fluss für seine unkontrollierbare Natur bekannt, sein heutiger Verlauf wurde jedoch im 19. Jahrhundert mit der Hilfe niederländischer Ingenieure festgelegt.
2021 releaste Sugai Be Sure to Listen to This at Japanese Teatime, auf dem Umgebungsgeräusche verlassener Teegärten zu hören sind. Das Album ist ein Teil des Tealightsound-Musikprojekts von Uji Koen, einem Tee-Händler mit einer über 150-jährigen Tradition in Kyoto.
Beide Alben bildeten die Grundlage unseres Gesprächs mit SUGAI KEN. Im Interview erklärt der Künstler, wie er mit Sounds aus Field-Recordings arbeitet und beantwortet unsere Fragen zu den Aspekten der japanischen Kultur, die seine Musik beeinflussen. SUGAI KEN hat für dieses Interview eine Sammlung an Field-Recordings zur Verfügung gestellt.
Welches Equipment und welche Plug-ins hast du für dein 2020 erschienenes Album Tone River genutzt? Welche Sounds wolltest du mit deinem Set-up einfangen?
Für die Aufnahmen der Umweltgeräusche habe ich binaurale Mikrofone und Hydrophone benutzt. Die binauralen Mikrofone erzeugten ein realistisches Gefühl, so als wäre man selbst an dem Ort, an dem die Sounds aufgenommen wurden. Die Hydrophone habe ich für Unterwasseraufnahmen genutzt, um den Hörenden das Gefühl des Eintauchens zu vermitteln; mit dem binauralen Mikrofon konnte ich aus einer relativ großen Bandbreite an Winkeln aufnehmen. Ich habe die Mikrofone auf keine besonders unkonventionelle Art genutzt, habe nicht wirklich einen festgelegten Prozess, sondern glaube ich eine relativ normale Aufnahmemethode. Trotzdem variiere ich ein wenig. Manchmal bleibe ich beim Aufnehmen am Mikrofon, manchmal lasse ich es dort, um Klänge aufzunehmen und komme dann zurück, um die Aufnahme anzuhalten. Im Klang mag das keinen großen Unterschied machen, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass ich die Atmosphäre natürlicher einfange, wenn ich das Mikrofon nur aufstelle und dann dort alleine lasse. Meistens, wenn Leute Field-Recordings machen, verstecken sie ihre eigene Anwesenheit in der Umgebung so stark wie möglich, sind ganz still und halten den Atem an, um keinen Ton von sich zu geben – aber wenn man da mal drüber nachdenkt, erscheint einem das doch eher unnatürlich. Auf meinem Track „Joya no Kane” habe ich das Mikrofon sogar absichtlich während der Aufnahmen angefasst.
Welche Arten von Umweltgeräuschen nimmst du gerne auf?
Dazu fallen mir zwei Sachen ein. Das erste sind Klänge, die zum Konzept der Arbeit passen. Zum Beispiel wollte das Label bei Tone River etwas, was tatsächlich was mit diesem speziellen Fluss zu tun hat, also bin ich da eben hin und habe den aufgenommen. Das zweite sind Klänge, die mich persönlich anziehen. Zusätzlich zu Klängen, die ein Gefühl von Alltagsleben und regionalen Besonderheiten einfangen, nehme ich auch gern Sounds auf, die die hässlichere Seite menschlichen Begehrens aufscheinen lassen, wie etwa wütendes Schreien, gewaltvolle Sprache und Lügen. Ich nehme oft die unnötig tiefen Frequenzen aus diesen Klängen raus, wenn ich an Produktion und Mix arbeite. Manchmal muss ich aber auch einen dynamischen EQ einsetzen, wenn es unnatürlich klingt, all diese Frequenzen auf dieselbe Art abzuschneiden.
Der erste Track, „Headwaters of the Tone River”, enthält genau diese Art der geräuschvollen Aufnahmen. Kannst du uns ein bisschen erklären, wie du das erreicht hast?
Ich habe Bitcrusher auf die Stimme gelegt. Die Quellgebiete des Tone River sind von Umweltverschmutzung betroffen und ich wollte diese Verschmutzung mit dem rohen und lärmenden Klang des Effekts einfangen. Ich hab’s auch mit anderen Effekten versucht, hatte aber das Gefühl, dass Bitcrusher mit der Griffigkeit des Klangs die Fäulnis der Verschmutzung besser widerspiegelt. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Auf Track 5 von Tone River, „Estuary of the Tone River”, habe ich den röhrenden Sound um Minute 2:13 herum durch die Kombination mehrerer Frequenzbänder erzeugt. Das gibt einen spannenden Vibrationseffekt. Ich glaube, ich habe drei oder vier Frequenzbänder übereinander gelayert und war beeindruckt von diesem besonderen, dröhnenden Sound, den ich bekommen habe – der klang wie Wellen-Interferenz-Phasing.
Als du die Field-Recordings für Tone River gemacht hast, wie hast du entschieden, welche Parts du nutzt und welche nicht?
Wenn ich mich recht erinnere, habe ich an jeder Location etwa 10 Minuten aufgenommen. Insgesamt lag die Aufnahmezeit vielleicht zwischen 20 und 30 Minuten. Das war das erste mal, dass ich an einem Tag 600 Kilometer herumgefahren bin, körperlich war das sehr anstrengend. Ich habe dann die Parts der Aufnahmen genutzt, die keine scharfen Peaks hatten. Hätte ich die Momente genommen, wo der Sound plötzlich anstieg, hätte ich Schwierigkeiten mit dem Headroom bekommen. Wenn ich Umweltgeräusche aufnehme und einsetze, will ich die Aufnahme nicht unnatürlich mit einem Kompressor zusammenquetschen. Also passe ich sehr gut mit dem Headroom auf und achte darauf, die Lautstärke der Aufnahme natürlich zu steigern.
Wie sah dein Produktionsprozess aus, wenn du die Field-Recordings in die Musik integriert hast?
Für dieses Album habe ich die Umweltklänge und die Musik getrennt behandelt. Also, heruntergebrochen: Ich habe zuerst die Musik komponiert, bevor ich die ganzen Umweltgeräusche zusammengestellt habe. Ich ging so vor, weil ich es sinnvoller fand, die zufällige und unkontrollierte Dokumentation von Klängen vom exakteren und intentionalen Akt des Musikschaffens zu trennen – und dann erst zu einer Arbeit zu kombinieren. Tatsächlich habe ich mit dem Komponieren vor den Field-Recordings begonnen. Ich hatte also den Ort noch gar nicht gesehen, habe aber ein bisschen Recherche über die Geschichte der Flutenkontrolle entlang des Flusses betrieben, und auch über andere Dinge, die mit dem Fluss zu tun haben. Die Bilder, die mir bei diesen Recherchen in den Kopf kamen, habe ich dann in die Komposition integriert.
Das andere erwähnenswerte Equipment, das ich für Tone River eingesetzt habe, waren analoge Synths, weil ich dieses Gefühl von Wärme im Klang erzeugen wollte. Ich habe aber auch mit digitalen Synths gearbeitet, um den Texturen einen hellen Nachklang hinzuzufügen. Als ich die Synths aufgenommen habe, habe ich einen Transistor-Saturator benutzt, um irgendwie die Oberfläche des Klangs zu verwischen. Außerdem habe ich mit analogem Echo-Delay gearbeitet, um dem Stereobild eine Art sanften Schatteneffekt hinzuzufügen. Ich habe auch einen Vocoder benutzt, um der Stimme diesen elektronischen Effekt zu geben. Dann habe ich die Sounds durch eine Reel-to-Reel-Tapemaschine geschickt, für eine Art ganz besonderen Schimmer.
Wie bist du vorgegangen, als du die Klänge strukturiert und den akustischen Raum von Tone River aufgebaut hast?
In meinen jüngeren Arbeiten ist das wahrscheinlich offensichtlicher: Ich versuche, meinen mentalen Bildern akustischer Landschaften und der Verortung der Klänge darin so treu wie möglich bleiben. Das mag ein abstrakter Ausdruck sein, aber wenn ich eine klare visuelle Repräsentation dieser mentalen Landschaft einfange, dann versuche ich, dieses „Gedankenbild” in Klängen auszudrücken. Zum Beispiel: Wenn auf der linken Seite des „Gedankenbildes” eine klares Bild steht, dann panne ich einen klaren Sound nach links. Wenn ich ein weiches Bild auf der rechten Seite sehe, dann baue ich für den rechten Kanal weichere Sounds – sowas eben. Da es unendlich viele Arten gibt, auf die jeder Mensch sich so eine Szene vorstellt, gibt es da glaube ich keinen richtigen oder falschen Ansatz.
Wenn man beim eigenen Ansatz Kompromisse eingeht oder für schnelle Erfolge vom „Kern” der eigenen künstlerischen Vision abweicht, dann werden die Ergebnisse auf lange Sicht nicht besonders gut sein. Wer aber künstlerisch bei sich bleibt, kann ein künstlerisches Ich aufbauen und sich des eigenen öffentlichen Bildes stärker bewusst werden. Dann kann man das Außen des eigenen Kerns in den Farben seiner Wahl gestalten. Seit 2010 verwende ich ein bestimmtes Klangmotiv – ein Sound, den viele Japaner:innen nostalgisch finden, da er auch sprachlich mit der Tradition des Lebens in Holzhäusern zusammenhängt. Es handelt sich um einen Klang, der nicht im gleichen Maß zu Steinhaus-Traditionen im Westen zu passen scheint. Dieses Motiv ist ein Beispiel für die Farbe, die ich – wie oben erwähnt – meinem „Kern” gegeben habe. Bei dem Motiv handelt es sich um eine „SUGAI KEN”-Melodie, die Teil des Bildes von meiner Kunst ist – einen bewussten Akt, etwas zu schaffen, das Verbindungen herstellt.
Wenden wir uns Listen to This at Japanese Teatime aus dem Jahr 2021 zu. Welche Art von Klang und Gefühl hattest du dabei im Sinn?
Der Release begann mit einer Anfrage des Uji-Koen-Teevertriebs in Tokyo. Ich glaube, Track 5 („Are you high purity?”) kommt dem Bild am nächsten, das ich mit der Arbeit erzeugen wollte. Ich hatte das Gefühl, wenn ich den zu sehr nach einem „Musikstück” hätte klingen lassen wollen, wäre er zu ausgedacht gewesen und hätte nicht zu meinem inneren Bild gepasst. Ich hatte das Gefühl, ich würde dann die Reinheit des Klangs verlieren, also habe ich versucht, meinem Gedankenbild beim Gestalten des Klangs so gut wie möglich zu folgen.
Ich persönlich finde das Bild des Teetrinkens als Erfahrung der „reinen und unschuldigen Heilung” irgendwie flach. Ich wollte einen Schritt weitergehen und eine Art des Irrsinns ausdrücken, der während der Erfahrung des Teetrinkens in der Luft liegt. Ich bin bei grünem Tee ein bisschen abgeschweift und habe irgendwo diese schockierende Geschichte über einen Samurai-Kommandanten gelesen. Er war in einem komischen Geisteszustand, weil er nicht wusste, wann er getötet wird. Er trank dann einen stark konzentrierten Matcha-Tee und ging auf eine innere Reise, bevor er wieder aufs Schlachtfeld zog. Ich persönlich finde diese weniger reine Seite des Heilungsprozesses spannender.
Mit welchen Herausforderungen musst du umgehen, wenn du natürliche Klänge mit elektronischen Instrumenten nachempfinden willst, wie auf deinem Album Goto No Yoniwa oder auf dem Track „A Mysterious Voice Echoing in the Mountain Forest at Dawn, Reproduced with Electronic Sounds”? Kannst du ein paar Details aus dem Produktionsprozess mit uns teilen?
Ich weiß, ich spreche hier ein bisschen das Offensichtliche aus, aber die Klänge der Natur sind sehr organisch. Wenn man sie analysiert und darin ein Muster zu finden meint, ist da tatsächlich einfach keins. Das Gegenteil ist ebenso wahr. Deshalb ist es ein ziemlich zeitaufwändiger Prozess, sie nachzubilden. Man muss den kompletten Prozess manuell machen, und man muss sich die Aufnahmen zahllose Male anhören, um auch nur in die Nähe einer analogen Wellenform zu kommen. Wenn man das tut, kann man reinzoomen und sich die Wellenform in einer DAW detailliert anschauen. Ich verwende auch Impulsantwort-Daten (IR-Daten), um die Akustik der Umgebung zu messen, in der ich aufgenommen habe – so verstehe ich, wie der Klang in Außenbereichen nachhallt. Dadurch kann ich Klänge wie Vogelrufe isolieren, die ich aufgenommen habe, um sie elektronisch nachzubilden. Ich wende dann die Menge an Hall an, die für einen natürlichen Klang nötig ist, so als wären sie im Setting der Field-Recordings entstanden. Dann mische ich die Teile der Field-Recordings wieder rein, die einfach nur die Grundlage an Geräuschen enthalten. „A Mysterious Voice Echoing in the Mountain Forest at Dawn, Reproduced with Electronic Sounds” nutzt die tatsächlichen Umgebungsgeräusche als Basis. Nur die Vögel- und Insektengeräusche sind elektronisch nachgebildet.
Wo und wie hast du die Field-Recordings für das Sound-Pack aufgenommen, das du freundlicherweise mit uns geteilt hast? Was sind für dich die Highlights der Aufnahmen?
Die Aufnahmen habe ich mit binauralen Mikrofonen und Hydrophonen an einem Bach in der Nähe meines Zuhauses gemacht, am Pausenbereich eines Fahrradwegs, in einem Einkaufszentrum und in einer Bibliothek. Das Highlight der Aufnahme war für mich, als auf einmal ein Läufer unerwartet am Pausenplatz des Fahrradwegs aufgetaucht ist und seinen Mund auf eine vulgäre Art ausgespült hat.
In deiner Arbeit setzt du Pausen und Stille sehr effektiv ein. Kannst du uns erzählen, was deine Intention hinter diesen Pausen ist und wie du deren Timing bestimmst?
Zugegebenermaßen trifft das nicht überall zu, aber ich habe schon das Gefühl, dass Trends in Japan immer noch vor allem aus dem Westen kommen. Ich habe das Gefühl, dass die Grundprinzipien des Westens animalisch sind und auf dem Konzept von Rebellion und Eroberung bauen. Es wird viel Druck auf Leute aus dem Medienbereich ausgeübt, so wie DAWs Druck auf Sound ausüben. Natürlich sage ich nicht, dass ich gegen westliche Kultur bin und will den Westen auch nicht schlechtreden; das ist nur eine Beobachtung. Ich denke, dass asiatische Kulturen im Gegensatz dazu viel organischer sind und auf einem Grundgedanken der Assimilation beruhen. Außerdem finde ich, dass die moderne Verwestlichung Japans uns deutlich animalischer gemacht hat. Und ich hatte immer das Gefühl, wenn wir weiterhin die westliche Methodologie befolgen, werden wir immer an zweiter Stelle kommen. Also habe ich an meiner eigenen Trial-And-Error-Methode gearbeitet – und hier bin ich nun. Dennoch bin ich immer noch weit davon entfernt, wie ich es mir vorstelle. Aus einer persönlichen Perspektive ziele ich darauf, eine Beziehung zwischen Stille und Klang aufzubauen, besonders in meinen Live-Performances. Ich glaube, auch die Erfahrung der Lektüre von Zeami Motokiyos „Fūshikaden”* hat diese Vorstellungen in ihrem Grunde wesentlich geformt.
[*Fūshikaden (frei übersetzt als „Der blühende Geist”) vom Sarugaku-Theatermeister Zeami Motokiyo ist das älteste Buch über Theatertheorie in Japan. Es entstand in der frühen Muromachi-Zeit (1336 - 1573) und wurde zur Grundlage des Noh-Theaters sowie zahlreicher weiterer Theaterkünste in Japan.]
Viele Beschreibungen von dir als Künstler betonen, dass du sehr „japanisch” bist. Was denkst du über dieses Bild, das Menschen von dir haben, und über das allgemeine Konzept des Japonismus? Wie drückst du dieses japanische Gefühl aus, ohne auf symbolische Klänge wie japanische Instrumente zurückzugreifen?
Ich überlasse es den Hörenden, zu entscheiden, ob meine Musik japanisch ist oder nicht. Ich hadere immer damit, wie ich ausdrücken kann, dass es sich bei meiner Arbeit um japanische Musik handelt. Ich versuche, immer klar und rational zu bleiben, genieße aber auch zu einem gewissen Grad die „frivole” Kreativität. Das mag sich vom Japonismus entfernen, ich möchte aber gern zwei Aussagen über die japanische Kultur treffen.
Der erste Punkt ist, dass das gängige Verständnis des japanischen Worts „shibui” [eine Ästhetik einfacher und subtiler Schönheit] ein wirklich wichtiger Begriff im Herzen der japanischen Kultur ist. Das Wort „wabi-sabi” ist mittlerweile ein eher exportiertes Konzept, aber trifft nicht das, mit was wir in Japan in unserem Alltagsleben konfrontiert sind. Das Wort „shibui” hingegen taucht immer noch in alltäglichen Unterhaltungen auf. Ich glaube, die Menschen in Japan sollten sich dieses wertvolle Gemeingut nochmal mit frischem Blick anschauen. Das Wort „wabi-sabi”, besonders in den Buchstaben des westlichen Alphabets geschrieben und damit zum exportierten Konzept geronnen, ist vielleicht zu einer Art nützlichen Parodie geworden. Das traditionelle Konzept des „wabi-sabi” ist jedoch immer noch von Bedeutung. Das „wabi” ist nah am Wort „seihin”, was so viel bedeutet wie „ehrenhafte Armut”. Meine eigene Interpretation davon ist jedoch, dass es ein Stadium der Enthüllung gibt, in dem man von etablierter Ästhetik und Trends gelangweilt ist und ein Begehren nach anderen Werten, einfacheren oder zerrütteteren Dingen entwickelt. Ich glaube, dass er auch eine gewisse Härte erfordert, die Realität der Dinge zu genießen, auch wenn sie nicht so laufen, wie man es sich vorgestellt hat. Ich interpretiere „sabi” als eine Art des Mitgefühls für die Gebrochenheit und die unbezwingbare Tatsache, dass alle Dinge irgendwann alt werden.
Meinem Gefühl nach liegt der Fokus in Japan gegenwärtig immer noch zu stark auf der Jugendkultur, obwohl ja die Zeit in unserem Leben, in der wir uns als „jung” bezeichnen können, relativ kurz ist. Ich habe viele Leute miterlebt, die mit um die 30 ihren „Abschluss” mit der Welt der kulturellen Kreationen gemacht haben. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass man in Japan viel arbeitet, eine altbekannte schlechte Praxis. Andererseits ist der mit am meisten Stolz in die Welt exportierte Aspekt der japanischen Kultur das, was wir „shibui” nennen, oder? Und ein großer Teil dieser Kultur wurde von unseren Vorfahren gemacht, die im Älterwerden aufblühten, deren Kunst an Tiefe gewann, je älter sie wurden. Ich hoffe darauf, dass wir in der Zukunft eine Welle an reifem und sehr konzentriertem persönlichem Ausdruck im Mainstream erleben werden. Ich warte auf die freigelegte Freude an der Kunst und an gealterter Exzentrik.
Der zweite Punkt ist, dass sich viele japanische Menschen der ungewöhnlichen Elemente ihrer eigenen Kultur noch nicht bewusst sind. Hier sind einige Videos, die diesen Punkt ein bisschen deutlicher machen.
Mahlzeiten für den unsichtbaren Gott des Reisfelds
Es wird zwar in diesem Video nicht erwähnt, aber ich habe gehört, dass der Meister als Form der Gastfreundschaft gegenüber den ungesehenen Göttern des Reisfelds auch nackt ein Bad in der Luft mit ihnen nimmt.
Sumo-Wrestling mit einer Person
Alles daran ist brilliant, inklusive der Gesichtsausdrücke der zuschauenden Kinder.
Der Surrealismus des Ganzen.
Ich wünsche mir, dass die Lesenden dieses Artikels in japanische Volkskultur und die frühe Geschichte Japans eintauchen und all das in ihre eigenen Kreationen einfließen lassen. Von Ichichu, dem legendären Meister des dengaku [einer Art Musikritual und Tanz für Schreine und Tempel, oft mit Reis-Feierlichkeiten assoziiert] aus dem 14. Jahrhundert, zum genialen Gärtner Enen aus dem 11. Jahrhundert, zu Ryo Okawa, der Vorgänger von Muneyoshi Yanagi [dem Gründer der japanischen Volkskunst-Bewegung Mingei, die der Kunst der alltäglichen Objekte von anonymen oder gewöhnlichen Handwerker:innen zu Ansehen verhalf]. Von Koson Suzuki [einem Maler aus dem späten 19. Und frühen 20. Jahrhundert], der bereits in der Taisho-Zeit [1912 - 1926] Klänge in Farben einfing, über Kazuo Linuma, der Rhythmus als einen Kreis betrachtete, bis hin zu Murray Schafer, der sagte, „Das Leben und die Bewegung der Menschen fallen in einen festen Rhythmus”. Dies sind die endlos Großen, die darauf warten, dass wir tiefer eintauchen.
Hier geht’s zum Download von SUGAI KENs kostenlosen Field-Recordings.
Text und Interview: Keita Takahashi
Alle Fotos sind Eigentum von SUGAI KEN
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