Eine kurze Geschichte des Studios als Instrument: Teil 2 - Tomorrow Never Knows
Im ersten Teil unserer Geschichte des Studios als Instrument warfen wir einen Blick auf die frühesten Wegbereiter für das Komponieren mit aufgezeichneten Klängen und spürten einige Vorläufer des modernen Samplens, Loopens und kreativer Aufnahmetechnik auf. Die Geschichte geht weiter mit Produzenten, deren bahnbrechenden Werke es auf Fernsehbildschirme, in Werbefilme und an die Chartspitze schafften.
George Martin und die Beatles
Es gilt als Binsenweisheit: Die Beatles sind für die Musik der Moderne eine der einflussreichsten Bands - und das liegt nicht nur an ihrem enormen kommerziellen Erfolg. Das Quartett aus Liverpool läutete den britischen Siegeszug in den Charts ein, brachte psychedelische Musik zu den Massen, transformierte den Single-Markt in der Popmusik zu einem albumbasierten Geschäft und verstieß gegen alle Regeln des Musikbusiness’ als die Band beschloss, nicht mehr aufzutreten und als reines Studioprojekt weiter zu existieren. Da ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Beatles ebenso in Sachen Studio- und Aufnahmeinnovationen als eine der einflussreichsten Gruppen gelten. Größtenteils ist das dem ideenreichen Produzenten zu verdanken, der die künstlerischen Ideen der Band mit dem nötigen technischen Know-how verknüpfte: George Martin.
Martin, der Anfang 2016 im Alter von 90 Jahren verstarb, wurde oft als der fünfte Beatle bezeichnet. Seine Arbeit mit der Band begann 1962, nachdem er als Hausproduzent bei der Plattenfirma Parlophone von Ende der 50er bis Anfang der 60er Jahre an Jazz-, Skiffle-, Klassik- und Comedyaufnahmen mitwirkte. Während der Zusammenarbeit mit den Beatles fiel ihm bald auf, worin ihre große Stärke bestand, nämlich in ihrem Wunsch sich ständig künstlerisch weiterzuentwickeln. Unter seiner Leitung wurde das Studio zum Werkzeug, mit dem sie immer gewagtere Kompositionen umsetzten. Besonders in der Mehrspurbandmaschine sah Martin das beste Werkzeug für die Erzeugung der Klänge, nach denen die Band suchte. Ebenso wie die Pioniere der musique concrète verstand Martin die Bandmaschine nicht bloß als statisches Speichergerät, sondern als ein Mittel, das man aktiv in den Kompositionsprozess einbinden konnte. Ein frühes Beispiel dafür ist das von Martin persönlich gespielte cembaloartige Solo in der Mitte von „In My Life“. Ursprünglich wurde es auf einem Klavier eingespielt während der Song im halben Tempo dazu lief, aber als es auf das Originaltempo beschleunigt wurde, war das Solo durchtränkt von einer Klangqualität, die viel mit einem barocken Cembalo gemeinsam hatte.
Weil sie so eng mit Martin zusammenarbeiteten, wuchs bei den Beatles das Bewusstsein für die kreativen Möglichkeiten des Studios. Auf „Rain“ von 1966 manipulierte Martin erneut die Abspielgeschwindigkeiten, zeichnete den Instrumentalpart des Songs schneller als normal auf und verlangsamte ihn beim Abspielen, um passend zu dem taumelnden, mäandernden Gesang einen undurchsichtigen, eingetrübten Sound zu erzielen. Das genaue Gegenteil dessen tat Martin mit John Lennons Stimme, die in etwas geringerem Tempo aufgenommen und für das Endprodukt beschleunigt wurde. Außerdem markierte dieser Song das erste Mal, dass Martin und die Beatles ein rückwärts abgespieltes Tonband in ihren Stücken verwendeten. Später erklärte Martin gegenüber der BBC: „Ab diesem Zeitpunkt wollten sie alles rückwärts machen. Sie wollten Gitarren rückwärts, Schlagzeug rückwärts, und einfach alles rückwärts bis es öde wurde.“ Trotzdem baute die Band in einigen ihrer akribisch produzierten Songs das rückwärts abgespielte Tonband effektiv ein, z.B. für die traumwandlerische Gitarre bei „I’m Only Sleeping“ oder für Ringo Starrs Becken bei „Strawberry Fields“.
„Tomorrow Never Knows“ bietet ein weiteres Paradebeispiel für Martins Rezepte in Sachen Produktionstechnik. Ein breites, stark komprimiertes Schlagzeug pumpt und atmet unter verzerrten Gitarrenriffs hervor, ungezähmte Tonband-Loops zerreißen das Stereobild zwischen Lennons waberndem, verstörendem Gesang, der vor der Aufnahme noch durch ein Lautsprecherkabinett von Leslie geschickt wurde, d.h. durch einen Rotationslautsprecher, der gewöhnlich zusammen mit der Hammond-Orgel B3 eingesetzt wurde.
Obwohl sie nicht gerade die ersten waren, die mit Bandmaschinen experimentierten oder Studiogeräte auf unkonventionelle Art nutzten, um die Sounds ihrer Träume zu erschaffen, ist es dennoch als das Verdienst der Beatles und Martins anzusehen, dass in der Popmusik die Technik in den Vordergrund rückte. Sie veränderten ein für allemal das Verhältnis zwischen Künstlern und Studio: Es war nun zu einem Ort für Experimente und Komposition geworden, und das Ziel einer Aufnahme überstieg das bloße Aufzeichnen einer Darbietung für die Reproduktion. Im Ergebnis bedeutete ein Album für die Beatles und für zahllose andere nach ihnen mehr als nur eine Songsammlung; es diente nun als Leinwand für immer ehrgeizigere, eigene künstlerische Standpunkte. Die Qualität und der Erfindungsreichtum einer Produktion wurden so zum Indikator für künstlerische Leistung.
Delia Derbyshire und wissenschaftliche Musik
Im Jahr 1962, vier Jahre nachdem Daphne Oram den BBC Radiophonic Workshop mitbegründet hatte, stieß auch Delia Derbyshire zum Kreis des Labors für Klangeffekte. Ausgestattet mit einem Diplom in Musik und Mathematik, verfügte Derbyshire über ein außerordentliches Verständnis für Klanggestaltung, das Desmond Briscoe, der Mitbegründer des Workshops, sehr treffend beschrieb: „Die Mathematik des Klangs war ihr von Natur aus gegeben.“ Obwohl sie während ihrer elf Jahre beim Radiophonic Workshop für über 200 Stücke verantwortlich war, bleibt ihr bekanntestes Stück für die BBC die Titelmelodie für die Serie Dr. Who. Ron Grainer hatte es geschrieben und Derbyshire war beauftragt worden seine Partitur umzusetzen, wo Klänge wie „Wind“, „Blasen“ und „Wolken“ verlangt waren. Synthesizer waren erst einige Jahre später erhältlich und der Multibandrekorder steckte noch in den Kinderschuhen, also erschuf Derbyshire die Klänge aus Alltagsgeräuschen und einfachen Sinus- und Rechteckschwingungen aus Klanggeneratoren. Das Rohmaterial modellierte sie mit Hilfe der begrenzten technischen Möglichkeiten des Workshops. Die Toningenieurin filterte, kombinierte neu und nahm auf einspuriges Tonband auf, filterte wieder, nahm nochmals auf und verfeinerte alles so lange, bis die Titelmusik zur außerweltlichen Atmosphäre der Science-Fiction-Sendung passte. Als Derbyshire mit der Umsetzung der Partitur fertig war und diese dem ursprünglichen Komponisten Grainer präsentierte, fragte er sie: „Habe das wirklich ich geschrieben?“ Daraufhin soll sie geantwortet haben: „Das meiste davon schon.“
Für das Thema von Dr. Who ernteten sowohl Derbyshire als auch der Radiophonic Workshop viel Beifall, aber Derbyshires größte Errungenschaften nehmen viele außerhalb ihrer gewöhnlichen Jingle-Arbeit für die BBC wahr. Ihre Arbeiten in Kollaboration mit dem Dichter und Dramaturgen Barry Bermange stechen dabei besonders heraus. Die begleitenden Klänge für Bermanges „Dreams“, eine Collage, bei der Menschen ihre Träume nacherzählen, und „Amor Dei“, ein Stück, das sich auf Gottes- und Teufelserfahrungen bezieht, waren ebenso gespenstisch wie ehrgeizig. Oftmals waren diese innovativen Klangcollagen das Ergebnis langer arbeitsintensiver Wochen, in denen Derbyshire sowohl rohe Oszillatorenklänge verarbeitete als auch andere Sounds und ihre eigene Stimme aufnahm.
Unter dem Projektnamen Unit Delta Plus arbeitete Derbyshire Mitte der 60er Jahre außerdem mit dem Workshopkollegen und Künstler Brian Hodgson sowie mit dem Komponisten und Wegbereiter der Klangsynthese Peter Zinovieff zusammen. Später eröffneten Derbyshire, Hodgson und David Vorhaus ein unabhängiges Studio, wo sie gemeinsam am Album Electric Storm arbeiteten, das 1968 mit dem Projektnamen White Noise erschien und heute zu den Klassikern der elektronischen Popmusik zählt. Bemerkenswert ist außerdem, dass auf dem Album der erste britische Synthesizer EMS Synthi VCS3 zum Einsatz kommt.
In seinem Nachruf für Derbyshire von 2001 weist ihr ehemaliger Kollege Brian Hodgson auf ihre visionäre Komposition hin, die sie für einen BBC-Dokumentarfilm aus der Serie The World About Us schrieb. Der Film handelt von den Tuareg in der Sahara und demonstriert das gesamte Spektrum von Derbyshires Kreativität und ihrem technischen Können. In einer speziellen Szene dienen Teile ihrer Stimme als Kamelhufe und sie fügte „einen dünnen, hohen elektronischen Klang hinzu, für den sie nahezu alle Filter und Oszillatoren des Workshops einsetzte.“ Derbyshire beschrieb den Schaffensprozess mit eigenen Worten: „Damals kam mein schönster Sound von einem abgewetzten grünen Lampenschirm der BBC. Er hatte zwar die falsche Farbe, aber so ein wunderschönes Klingeln. Ich schlug den Lampenschirm an, zeichnete es auf und schob den Regler beim Klingeln nach oben, ohne den perkussiven Anfang. Ich analysierte den Klang in seinen Teiltönen und Frequenzen, nahm die 12 stärksten und rekonstruierte den Klang mit Hilfe der berühmten 12 Oszillatoren des Workshops, um ein zischelndes Geräusch zu erhalten. Die Kamele ritten also mit meiner Stimme in ihren Hufen und einem grünen Lampenschirm auf dem Rücken gen Sonnenuntergang.“
Raymond Scott und seine Maschinen
Jetzt kommt ein unerwarteter Fakt: Es ist der Mann, der für den Großteil der Musik in den Cartoonklassikern Looney Tunes verantwortlich war, dem auch der Bau des allerersten Sequencers zugeschrieben wird. Dieser Mann hieß Raymond Scott (bürgerlich Harry Warnow, „Raymond Scott“ war sein Künstlername). Als Leiter des Raymond Scott Quintette, das eigentlich sechs Mitglieder zählte, schrieb Scott klamaukige Kompositionen, die, wenn auch unabsichtlich, wie angegossen auf die slapstickhaften kleinen Katastrophen und ausufernden Abenteuer passten, die Bugs Bunny, Daffy Duck, Porky Pig und Kollegen überstehen mussten. Scott selbst war kein großer Cartoonfan, vielmehr galt er als anspruchsvoller Bandleader, der von seinen Musikern erwartete, dass sie sich die Musik genauso einprägten wie er sie aufgeschrieben hatte und sie stundenlang herausforderte, wodurch er einigen Groll auf sich zog. Ab diesem Punkt träumte Scott davon, eine Musik zu erschaffen, die ihn unabhängig von fehlbaren Individuen machte, damit er seine Ziele zu erreichen könnte. „Bei der Musik der Zukunft wird der Komponist allein auf der Konzertbühne sitzen und seine ideale Musikvorstellung bloß denken“, schrieb er 1949. „Seine Gehirnwellen werden von mechanischen Geräten abgenommen und direkt in die Gehirne der Zuhörer eingespeist, so stellt sich der ursprünglichen Idee nichts in den Weg. An Stelle einer Aufzeichnung von echten musikalischen Klängen werden Aufnahmen von Gehirnwellen des Komponisten direkt in die Gehirne der Zuhörer übertragen.“
Fast sein ganzes Leben lang verfolgte Scott seinen Traum, plante und konstruierte Musikmaschinen in seinem Heimstudio „Manhattan Research Inc“. Dort erbaute Scott in den 50ern und 60ern im Rahmen seiner Jingle-Produktionen für den Rundfunk seine „Wall of Dazzle“ (dt. schillernde Wand). Es handelte sich um eine 30-Fuß-lange Maschine mit Hunderten von Lichtern und Schaltern, mit denen er elektronisch generierte Sounds kontrollierte. Nach heutigen Maßstäben konnte er lediglich die Standardparameter beeinflussen, nämlich Tonhöhe, Lautstärke und Abspielgeschwindigkeit, aber in den späten 50ern war dies die absolute Spitze der Musiktechnik. Andere Erfindungen aus dem Hause Scott waren die „Videola", ein Klavier, das synchron zum Bild Filmmusik aufnehmen und abspielen konnte, das „Clavivox“, ein Vorläufer des Keyboards, das „Karloff“, ein mächtiger Generator für Klangeffekte, der Scotts erster selbstständiger elektronischer Klangerzeuger war und der „Rhythm Modulator“, ein einfacher früher Generator für rhythmische Abläufe.
Scotts anspruchsvollste Maschine war das Electronium, mit dessen Bau er 1959 begann und für dessen Fertigstellung er innerhalb von zehn Jahren angeblich knapp eine Million Dollar ausgab. Eine zweite Version baute Scott später übrigens für Berry Gordy, den Gründer von Motown Records. Das Electronium war sein Versuch einer Maschine, die Musik simultan komponieren und abspielen konnte. Auf der Grundlage der von Scott eingestellten Parameter generierte sie musikalische Ideen und gab sie wieder. Damit zählt sie zu den ersten Beispielen für den Einsatz künstlicher Intelligenz im musikalischen Schaffensprozess.
Scotts musikalische Leistungen sind weniger in Erinnerung geblieben als seine prophetische Sicht auf die musikalische Revolution, die mit der Technik einhergehen würde. Zudem verfolgte er kompromisslos seine Ideen HUMBLE STYLE, die damals wohl als recht absurd, wenn nicht ganz und gar als verrückt galten. Aber dieser Tendenz widersetzte sich Scott mit der so treffend benannten Albumserie Soothing Sounds for Baby von 1964. Es handelte sich dabei um ein dreiteiliges Set, wodurch Säuglinge verschiedener Entwicklungsstufen mit friedlichen Elektronikklängen beruhigt werden sollten. Diese merkwürdige Serie ist eine der ersten elektronischen Kompositionen in Langform, die für ein bestimmtes Setting und zu einem bestimmten Zweck geschrieben wurde, mit anderen Worten: Die Serie gehört zu den ersten Werken, auf denen elektronische Ambient-Musik zu hören ist. Vielleicht ist dies eine weitere ungewollte Hinterlassenschaft eines Mannes, der von Größerem träumte als viele andere.
Lesen Sie Teil 3 des Studios als Instrument, mit King Tubby, Lee „Scratch“ Perry, Conny Plan, Patrick Cowley und anderen.