Spektralklänge: Die neuen Spectral-Effekte von Live 11
Spectral Resonator und Spectral Time sind zwei neue Effekte in Ableton Live 11. Sie wandeln Sounds in Obertöne um, die dann vielfältig bearbeitet werden – für metallische Echos, Stutter- und Glitch-Effekte und disharmonische Klänge. Das Spektrum reicht von melodisch und satt bis zu gespenstisch und futuristisch. Obwohl die Effekte recht unterschiedlich klingen, basieren beide auf derselben Methode: der schnellen Fourier-Transformation (FFT).
Diese Technologie gibt es schon lange, und jetzt hält sie in Live Einzug. Natalye Childress hat mit dem Product Owner der Effekte und derzeitigen und früheren Ableton-Entwicklern gesprochen, um Ihnen einen Einblick in die Geschichte und Inspirationsquellen der beiden Effekte zu geben und Tipps und Tricks für die Anwendung in Ihrer Musik zu liefern.
Signale zerlegen
Die Fourier-Transformation ist ein mathematischer Algorithmus, der unter anderem in technischen Wissenschaften, in der Bildbearbeitung und in der Optik zum Einsatz kommt. Im musikalischen Kontext dient er dazu, Audiosignale in ihre Einzelteile oder Frequenzen zu zerlegen. Benannt ist die Technologie nach dem französischen Mathematiker Joseph Fourier, der 1822 die theoretische Grundlage für die später entwickelte Lehre der Fourierreihen legte.
Die schnelle Fourier-Transformation (FFT), auf der die neuen Spectral-Effekte von Live 11 basieren, hielt in den 1990er Jahren Einzug in die Audio-Technologie – die digitale Signalverarbeitung war leistungsfähiger geworden. Die FFT wird oft mit der diskreten Fourier-Transformation gleichgesetzt, was daran liegt, dass beide im Grunde dasselbe bezeichnen. Der Unterschied besteht darin, dass die FFT mit Berechnungen arbeitet, die schnell genug für den Echtzeit-Modus sind.
„Bei der Fourier-Transformation und damit verbundenen Technologie gab es lange das Problem, dass sie ein Offline-Prozess war“, sagt Product Owner Christian Kleine. „Sie ließ sich nicht in Echtzeit anwenden. Stattdessen musste man ein Signal einspeisen, es bearbeiten lassen, lange warten und dann noch auf die Festplatte rendern. Die Echtzeit-Bearbeitung wurde erst mit gesteigerter Rechenleistung möglich.“
Wenn ein Spectral-Effekt von Live 11 verwendet wird, führt er eine FFT für das jeweilige Audio-Signal durch und verwandelt es in Spektral-Daten, die dann in Form von Effekten manipuliert werden. Das Ergebnis wird durch eine invertierte schnelle Fourier-Transformation (IFFT) wieder hörbar gemacht.
„Schall besteht aus Sinuswellen, von denen jede eine bestimmte Amplitude, Frequenz und Phase besitzt“, erklärt Christian. „Mit diesen drei Komponenten lässt sich im Grunde jeder Sound erzeugen. Man kann Klänge also in einzelne Sinuswellen zerlegen, aber sie umgekehrt auch wieder zusammensetzen und ihre Form dabei drastisch beeinflussen.”
Eine ausführliche Betrachtung der mathematischen Aspekte dieser Technologie liefert diese Webseite von Jack Schaedler, der Mitglied des Ableton Learning Teams ist – hier wird die Materie anschaulich erklärt.
Vom Labor zu Ihnen nach Hause
„Anfangs war die FFT wie viele dieser Dinge in erster Linie eine wissenschaftliche Entdeckung“, erklärt Christian und weist darauf hin, dass die Nutzung der Technologie zunächst auf Personen mit Zugang zu einem Uni-Labor beschränkt war. Doch als die Heimcomputer erschwinglicher und alltäglicher wurden, war dieses Hindernis beseitigt.
Trotzdem blieb diese Art von Technologie in der akademischen Welt verwurzelt. Mit einer Ausnahme: Sie sprach viele Avantgarde-Musiker:innen an. Zum Beispiel INA GRM – das französische Institut für audiovisuelle Forschungen, eine Hochburg der Fourier-Transformation.
Für Ableton gab es keinen externen Druck oder einen bestimmten Anlass für die Entwicklung der Spectral-Effekte. Es ging einfach um den Wunsch, Live um neue Klangdimensionen zu erweitern. Christian vergleicht die Geräte mit Gewürzen oder Zutaten, die ein neues Geschmacksprofil erzeugen.
„Wenn man sich Ableton als eine Küche vorstellt und die Effekte verschiedene Arten des Kochens darstellen, liefern die Spectral-Effekte eine komplett neue Geschmacksrichtung“, sagt er.
Und fährt fort: „Die Technologie an sich ist nicht so neu, aber für uns ist das ein neuer Effekt-Typ, der andere Dinge macht. Alles an dieser Technologie ist kompliziert, aber die Ergebnisse können sehr interessant sein. Und das ist einer der Gründe für die Entwicklung dieser Effekte: Sie lassen uns im Handumdrehen Sounds erzeugen, die auf anderen Wegen überhaupt nicht möglich wären.“
Robert Tubb, der an der Effekt-Entwicklung beteiligt war, stimmt ihm zu: „Viele spektrale Effekte werden im akademischen Kontext oder in der experimentellen Musik genutzt – und scheinen allesamt sehr spezifisch und kompliziert zu sein. Wir wollten uns zwar von diesen experimentellen Anwendungen inspirieren lassen, aber unsere Effekte sollten zugänglich und intuitiv sein. Manchmal bekommt man diese riesigen Sammlungen spektraler Plug-ins und braucht dann mehrere Tage, um aus den ganzen verspielten Sachen die wirklich guten herauszupicken. Uns ging es darum, in diesem Bereich die Sweetspots ausfindig zu machen.”
Spektrale Effekte in der Popmusik
Eines der bekanntesten Beispiele für die FFT-Klangbearbeitung ist Aphex Twins Track „ΔMi−1 = −αΣn=1NDi[n] [Σj∈C[i]Fji[n − 1] +Fexti[n−1]“. Nach seiner Veröffentlichung erstellten neugierige Hörer ein Schall-Spektrogramm – und entdeckten am Track-Ende ein wohlbekanntes Gesicht.
Ein weiteres Beispiel ist Venetian Snares' Track „Look“, der spektral codierte Katzenbilder enthält.
Spektrale Effekte kamen in der Popmusik also schon zum Einsatz, doch die genannten Beispiele unterscheiden sich ein wenig von den neuen Effekten in Live. „Sie machen sozusagen Fotos, die dann direkt in spektrale Daten verwandelt werden“, meint Ian Hobson, der frühere Ableton-Entwickler. „Dann verwandeln sie diese mit IFFTs in Audiosignale – und verbildlichen die seltsamen und interessanten Dinge, die im spektralen Bereich möglich sind.”
Es gibt aber auch viele Kompositionen mit spektralen Effekten außerhalb des akademischen und avantgardistischen Bereichs, den Christian zuvor beschrieben hat.
Zum Beispiel „Wind Chimes“ von Denis Smalley, einem neuseeländischen Elektroakustik-Komponisten, der seinen musikalischen Ansatz und Stil als „spektromorphologisch“ beschreibt. Smalleys Kapitel über „Spektro-Morphology und Strukturierungsprozesse“ in dem Buch The Language of Electroacoustic Music taucht tief in die musikalischen Strukturen der Spektralsphäre ein.
Eine weitere Anwendung dieser Technologie in Songform ist „Puzzle Wood“ von der britischen Sound-Art-Komponistin und Klangforscherin Natasha Barrett.
Spektrale Klänge in Songs herauszuhören ist allerdings nicht so einfach, wenn man nicht weiß, wonach man genau sucht. „Ähnlich wie Spezialeffekte in Filmen“, so Hobson, „sind sie am wirkungsvollsten, wenn man sie gar nicht bemerkt.“
Und außerhalb der oben genannten Anwendungen „dient die Technologie häufig zur Sound-Restaurierung – um Klicks oder Vocals zu entfernen“, ergänzt Christian. „Also eher um das Polieren von Sounds oder Eliminieren bestimmter Artefakte als um das kreative Umfunktionieren, das bei uns im Vordergrund steht.“
Das Unmögliche möglich machen
Die FFT-Technologie kann also auf spielerische und praktische Weise angewendet werden oder das Unmögliche möglich machen. Aber was machen die neuen Effekte eigentlich genau?
Während Spectral Resonator die Audiosignale morpht und ihnen Farbe und Textur verleiht, friert Spectral Time die Signale ein oder verzögert sie.
Spectral Resonator – nicht zu verwechseln mit dem bereits vorhandenen Live-Effekt Resonator – eignet sich besonders gut für das Hinzufügen oder Entfernen von Obertönen. Ein Highlight des Effekts ist die MIDI-Sidechain-Funktion, mit der sich perkussive Parts als melodische Instrumente spielen lassen.
„Das ist wirklich neuartig“, sagt Robert und beschreibt den Effekt als flexiblere Version eines Vocoders (über den Sie hier mehr erfahren können, wenn Sie weiter in die Geschichte spektraler Audiosignal-Bearbeitung eintauchen wollen). „Es gibt zwar Plug-ins, die etwas Ähnliches machen – zum Beispiel modale Synthese, bei der man jede Menge Resonatoren hat, deren Frequenzen man einstellen kann. Aber meines Wissens gibt es das im spektralen Bereich noch nicht.“
Der Name von Spectral Time ist eine Anspielung darauf, dass alle erzielten Effekte in irgendeiner Weise durch das Einfrieren oder Verzögern des Eingangssignals zustande kommen. Christian vergleicht dies mit dem Schauen eines Films: „Wenn man den Film stoppt, friert das Bild ein. Und wenn gerade Musik zu hören ist, verstummt sie. Mit dieser Technologie stoppt man den Sound, aber er geht eingefroren weiter.“
In Kombination mit einem Fußpedal können melodische Elemente beim Live-Performen länger gehalten werden. Die Freeze- und Delay-Anteile lassen sich separat oder kombiniert verwenden. Hier ein Soundbeispiel:
Spektrales Sonogramm
An Bord der Effekte ist auch ein Sonogramm, das den Algorithmus visualisiert.
„Wer es zu lesen weiß, lernt mehr über die Effekte, als wenn nur die Veränderungen der Dry- und Wet-Signale betrachtet werden“, sagt Christian und weist auf die mehrfarbige Darstellung hin. „Wenn man eine Sinuswelle oder weißes Rauschen einspeist und die dann Effekte verändert, wird deutlich, wie das Eingangssignal bearbeitet wird. Die spektrale Klangbearbeitung ist kompliziert – und man kann sie auf dem Sonogramm verfolgen.“
Gleichzeitig warnt Christian davor, sich zu sehr auf die Visualisierung zu verlassen. Das Sonogramm kann zwar aufschlussreich sein, lässt sich aber auch zuklappen, wenn es zu sehr vom klanglichen Geschehen ablenkt.
Praktische Anwendungen
Wie wendet man diese Effekte am besten an? Christian denkt kurz über seine Antwort nach. „Heutzutage gibt es für alles supergenaue Empfehlungen, aber das passt in diesem Fall eigentlich nicht. Mit diesen Effekten kann man sehr viel machen, muss aber eigene Wege dafür finden.“
Trotzdem hat er natürlich Tipps auf Lager.
„Die Effekte eignen sich hervorragend für Stimmen – genauer gesagt, wie sich ihr Charakter verändern kann. Wenn du deine Freunde mit einer Alien-Stimme überraschen willst – nur zu!“ Die menschliche Stimme ist ein komplexer Klangerzeuger, und es ist interessant zu sehen, wie die Effekte mit dieser Komplexität umgehen – und wie das Ergebnis klingt.
„Spectral Resonator ermöglicht Vocoder-artige Effekte, kann aber auch subtil im Hintergrund agieren“, sagt Robert. „Man kann zum Beispiel eigene Vocals nutzen und die Resonanz weiter nach hinten legen, um die Vocals mit einem Drone zu untermalen.“
Auch klassische Klavierklänge eignen sich laut Christian bestens für die spektrale Verfremdung. Da uns der Klang von Stimmen und Klavieren sehr vertraut ist, wirkt der Kontrast nämlich umso stärker – der Unterschied zwischen Original und Effekt ist leichter zu erkennen.
„Das Problem bei elektronischer Musik: Oft fehlt der Kontext“, sagt er. „Man hat einen seltsamen Sound und kombiniert ihn dann mit etwas, dass ebenfalls seltsam ist. Und am Ende hat man einen seltsamen Sound aus einem seltsamen Sound gemacht.“
Bei gewöhnlichen Klängen steht dagegen am Anfang etwas Vertrautes, und dann wird sehr deutlich, wie anders diese Klänge sein können.
Robert empfiehlt die Kombination von Spectral Resonator und Gitarre – für Ambient-Drone-Sounds mit langsam hervortretenden Kanten. „Wenn man ein cleanes E-Gitarren-Riff mit vielen Noten in Spectral Resonator bearbeitet, erinnert das ein wenig an eine Sitar: Man spielt eine einzelne Note, und all die anderen Noten schwingen im Hintergrund mit.“
Er weist darauf hin, dass sich die Empfindlichkeit so einstellen lässt, dass nur laute Noten die Freeze-Funktion triggern, während leisere Noten davon unberührt bleiben.
Die Effekte lassen sich auch duplizieren – man kann mehrere Versionen spielen lassen oder beide Effekte kombinieren. Aber Robert warnt davor, es in diesem Punkt zu übertreiben.
„Mit zwei Spectral Resonator-Instanzen lassen sich interessante Klänge erzeugen – zum Beispiel wenn unterschiedliche Frequenzbereiche eingespeist werden und der erste Effekt den zweiten nur bei Überschneidungen anregt. Denn am Effekt-Eingang muss eine Frequenz anliegen, damit am Ausgang etwas passiert“, erklärt Robert. „Wenn man die Effekte allerdings stapelt, wird der Klang ganz schnell abstrakt.“
Digital – und stolz darauf
Christian fasst das Wesen der Effekte in einem Wort zusammen: digital. „In den letzten Jahren gab es diesen Run in Richtung analog, analog, analog – alles muss analog sein. Was einerseits toll ist, weil ich analog liebe. Alle lieben es. Es ist warm, unscharf und charmant. Analog ist cool. Digital aber auch! Und diese Effekte sind sehr, sehr digital. Digitaler geht es eigentlich nicht.“
Für Christian sind die Spectral-Effekte eine willkommene Neuerung für alle, die ihre Musik mit neuen Tools und Kontexten aufwerten wollen.
„Wir entwickeln Instrumente und Effekte, die das Musikmachen mit Ableton Live bereichern“, sagt er. „Um die eigene musikalische Sprache zu finden, müssen wir uns in Bereiche begeben, bei denen wir nicht wissen, was uns erwartet. Und diese Effekte machen das möglich.“
Schauen Sie sich ein ausführliches Video über Spectral Resonator von dem Entwickler Robert Tubb an.
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Text und Interviews: Natalye Childress