Sowall: Vom Jazz zum Finger-Drumming
Manche Künstler legen all ihre Sounds und Tricks auf den Tisch, dann reduzieren sie das Ganze wieder und fügen neue Elemente ein. Andere beginnen mit Grundbausteinen – Sounds und Patterns mit viel Raum, die dann allmählich um komplexere Ebenen erweitert werden.
Lee Sowall gehört zur zweiten Kategorie. Ihre Tracks – ganz egal ob Studiokompositionen oder die beliebten Finger-Drumming-Improvisationen auf YouTube und Instagram – sind von einer nahtlos zunehmenden Komplexität. Ähnlich wie großartige Schauspieler das Publikum vergessen lassen, dass es ein Theaterstück sieht, lässt Sowalls Spielweise die einzelnen Track-Elemente vergessen: keine Gruppe von Bäumen, sondern ein üppiger Wald.
Als gelernte Jazz-Drummerin zeigt Sowall ihr Pop/Rock-Können als Schlagzeugerin und Songwriterin auf The Temperature of Saying “Hi” und hat einen beeindruckenden Output als Solo-Beatmakerin/Songwriterin. Ganz gleich ob Finger-Drumming auf Push, mit Drumsticks gespielte akustische oder elektronische Drum-Pads, weitläufige Synth- und E-Piano-Melodien oder intime Lovesongs mit gefilterten Luftblasen – Sowall kennt die zeitlose Maxime der Virtuosität: zu wissen, wann man spielen sollte und wann nicht.
Im Rahmen von Loop spielte sie gleich mehrere improvisierte Sessions – eine davon blieb 90 Minuten lang im gleichen Tempo, bei einer anderen spielte sie zum ersten Mal mit der Cellistin Clarice Jensen zusammen. David Abravanel traf sich mit Sowall für ein Interview über ihre Musik – übersetzt von Howon Lee.
Bei deinen Videos finde ich interessant, dass dein Finger-Drumming immer im Takt ist, obwohl man kein Metronom hört. Das ist ziemlich schwierig – wie machst du das? Hat es damit zu tun, dass du Schlagzeug gelernt hast? Welche Tipps würdest du angehenden Finger-Drummern geben?
Eine gute Frage – ich habe immer darauf gewartet, dass sie in Interviews mal gestellt wird, aber du bist der erste! [lacht]
Wenn man Schlagzeugerin und Musikerin ist, kann das eine gute Sache sein. Es hat seine Vor- und Nachteile, aber ich bin wirklich besessen vom Tempo. Ich finde es selbstverständlich, mich an den Takt zu binden. Aber beim Finger-Drumming versuche ich zu vergessen, was mir beim Schlagzeugspielen wichtig ist. Da versuche ich eher, aus dem Takt auszubrechen. Wenn ich hauptsächlich Schlagzeug spiele, bin ich im Tempo eingesperrt. Beim Finger-Drumming habe ich ein bisschen mehr Freiheit.
Als ich damit anfing, wusste ich gar nicht, dass es diese musikalische Disziplin bereits gibt – ich hatte nie danach gesucht. Ich fand es einfach lustig, das zu machen. Und so war ich fast 10 Monate lang mit Finger-Drumming beschäftigt und habe Videos aufgenommen, ohne andere Videos zu kennen. So konnte ich mir die Phantasie bewahren und hatte einen Riesenspaß. Erst später wurde mir klar, dass es viele andere Finger-Drummer gibt. Diese Erkenntnis hat mich natürlich angenehm überrascht, aber gleichzeitig auch ein wenig gelangweilt. Manchmal ist es einfach schön, nichts zu wissen – und als das vorbei war, machte mir das Finger-Drumming weniger Spaß. Also habe ich eine Pause eingelegt. Vielleicht werde ich irgendwann weitermachen, wenn ich wieder inspiriert bin.
Wenn ich ein Video mache, ist das meiste auch Improvisation – wenn das Video fertig ist, kann ich es nicht reproduzieren. Manchmal gefällt mir, was dabei entstanden ist. Dann greife ich es wieder auf und lerne den Song zu Trainingszwecken neu.
Du hast auch für die Popband The Temperature of Saying “Hi” Drums gespielt. Wie hast du vom Schlagzeugspielen zum Finger-Drumming und Beatmaking gefunden?
Ich spiele immer noch viel Schlagzeug. Anfangs spielte ich hauptsächlich Jazz. Ich mag Jazz immer noch sehr gerne, genau wie andere Musikrichtungen. Aber im Jazz gibt es formale Beschränkungen. Ich wollte neue Ideen und alle Arten von Sounds und Musik erkunden und mich auch nicht nur mit Jazzmusikern zusammenschließen. Mir ging es darum, eine größere Klangpalette zu erforschen, und deswegen begann ich, Musik am Computer zu produzieren.
Und was das Finger-Drumming angeht – zuerst machte ich es zum Spaß, und bin ziemlich gut darin geworden, wie man sieht. Aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und es ist auch gar nicht so anders als Schlagzeug zu spielen. Es macht keinen großen Unterschied, denn Musik ist universell.
In deinem Against the Clock-Video legst du zuerst ein 4x4-Raster aus Samples an, um dann einen kompletten Track damit zu performen. Wie gelingt es dir, auf diese Weise zu improvisieren und gleichzeitig einen fertigen Track zu machen?
Ich habe in Live einen Ordner mit Lieblings-Sounds und -Musik, die ich dann einfach auf ein Drum-Rack ziehen kann. Als Live-Musikerin und Performerin finde ich das sehr praktisch – ich arbeite nur mit Drum-Loops und Drum-Racks. Ich füge einfach Samples ein, filtere die überflüssigen Samples heraus und konzentriere mich dann auf die Sounds, die ich für mein Set nutzen will.
In diesem Ordner sind auch viele Field Recordings – zum Beispiel Aufnahmen von Wassertropfen oder Wellen. Beim Musikmachen nutze ich das oft als Ausgangspunkt. Beim Finger-Drumming wähle ich eine andere Sound-Zusammenstellung. Im Studio arbeite ich nur mit Keyboard und Maus in der Session-Ansicht und experimentiere dann mit verschiedenen Sound-Kombinationen. Das Finger-Drumming ist also für die Performance, im Studio arbeite ich eher am Computer mit meinen Ideen.
Wie sieht dein Live-Setup aus?
Das hängt von der Größe der Bühne und der Art der Performance ab. Aber Live und Push stehen im Mittelpunkt. Die meisten Loops sind vorarrangiert und ich mache sie beim Live-Spielen interessanter. Manchmal nutze ich ein Roland SPD-Pad und mache viel mit dem Moog Sub 37. Bei anderen Gelegenheiten spiele ich akustische Drums, zusammen mit Push: Ich entwickle einen Loop und setze mich dann ans Schlagzeug, nutze also mehrere Synths und zusätzliche Drums zusammen mit Push und Live.
In der Musikpresse wirst du oft als Beatmakerin bezeichnet. Aber die Tracks auf deinem Album Favorite sind starke Songs – mit gefühlvollen Akkordfolgen und tollen Lyrics. Meist werden sie von musikalischen Gästen gesungen, aber schreibst du die Texte alle selbst?
Die meisten Texte sind von mir, und ich schreibe auch welche für die anderen Bands, in denen ich gerade spiele. Ich finde das spannend und habe auch ein spezielles Notizbuch dafür, eine Art Tagebuch. Ich trenne das vom Songwriting und denke beim Texten nicht gleich an einen Song. Wenn ich ein Thema finde, kann das also ein Text werden – oder Musik.
Und was die Melodien betrifft – ich nehme mir beim Komponieren gerne viel Zeit und es dauert lange, bis ein Song fertig wird. Ich denke nicht im Schema Vers, Chorus, Vers, Chorus. Es ist ganz ähnlich wie beim Texte schreiben – wenn ich ein Motiv finde, erweitere ich es jeden Tag ein wenig, Stück für Stück. An einem Tag komponiere ich einen Takt für den Song, am nächsten Tag komponiere ich einen Takt für einen anderen Song. Jeden Tag ein kleines Stück, und am Ende wird dann ein Song daraus.