Wenn wir Musik machen, denken wir wenig über die Vergangenheit oder Zukunft nach – genau das schätzen viele Musiker ja daran. Beim Komponieren, Spielen und Produzieren schauen wir nicht mehr auf die Uhr und vergessen manchmal sogar, welcher Tag heute ist. Alles was zählt ist das Taschenuniversum der musikalischen Zeit. Doch sobald unsere Musik fertig ist und hinaus in die Welt soll, wird ihr Verhältnis zur Vergangenheit und Zukunft zum Thema. Und wenn wir es nicht selbst angehen, wird es jemand anderes tun. Dann überlagern die Haltungen zum Gestern und zum Morgen das Gespräch, in Begleitung der Metaphern von Fortschritt und Rückzug – ganz beiläufig („frisch“) oder ganz komplex.
Ihre Songs wirken weniger wie Ergebnisse von Erfahrungen, sondern eher wie schwer messbare Sprünge darüber hinaus – wie eine Flaschenpost, die uns aus der Zukunft erreicht.
Dieser Satz über ein Album von Kelly Lee Owens wirkt ein wenig seltsam, aber vermutlich handelt es sich dabei um ein Kompliment. Denn die Rezension legt nahe, dass Owens’ musikalische Ideen eher aus der Zukunft als aus der Vergangenheit kommen. Künstler, die ihre Erinnerungen – ob musikalisch oder außer-musikalisch – aufrufen, auffrischen oder wiederverwerten, sind gute Künstler. Aber die ganz besonderen Künstler sind innovativ, zukunftsorientiert und stellen manchmal fest, dass sie ihrer Zeit voraus sind – was weniger Spaß macht, als man denken könnte.
Baby that’s why
I ain’t making no paper
‘Cause I’m an innovator
That means the cash comes later…
Mit diesen Zeilen stellt die Rapperin Reverie aus L.A. fest, dass sie momentan kaum etwas mit ihrer Musik verdient – was sich aber irgendwann in der Zukunft ändern wird. Im Kontext der üblichen Rap-Prahlerei mag das ungewöhnlich erscheinen – eher wie eine Ausrede als wie der Anspruch auf Ruhm. Aber wir wissen, wie es gemeint ist: Ich werde für meine Musik nicht bezahlt, weil sie großartig ist (und nicht: Meine Musik ist großartig, obwohl ich nichts damit verdiene). Dies ist eine ganz neue Version eines wohlbekannten popkulturellen Sujets: Der Künstler macht heute etwas, das erst in der Zukunft verstanden wird. Wie Reverie sicherlich weiß, ist dies für manche Menschen viel beeindruckender als zu sehen, wie jemand heute Erfolg hat.
Reverie beschwört hier ein Bild, das drei starke Bilder in sich vereint. Genauer gesagt stützen sie sich gegenseitig. Zuerst das Bild des Künstlers als Pionier, der um der Hoffnung willen etwas riskiert. Das heißt, Reverie will für die Innovation das Risiko eingehen, kein Geld zu haben und hungrig zu bleiben – ein Gedanke, der laut dem Geschichtsforscher Eric Hobsbawm Anfang des 20. Jahrhunderts mindestens zwei Generationen von Komponisten, Malern und Dichtern befeuerte. Sie waren davon überzeugt, dass ihr Außenseitertum eine Art Vorspiel für die spätere Akzeptanz und das Verständnis ihrer futuristischen Kunst und Musik war. Pablo Picassos Porträt von Gertrude Stein ist ein gutes Beispiel dafür – seine Freunde und Kritiker beschwerten sich darüber, dass sie auf dem Bild nicht zu erkennen sei. Picassos Antwort: „Das wird sich ändern“. Stein selbst war fest davon überzeugt, dass ihre „modernen Kompositionen“ für die meisten Menschen seltsam und verwirrend sind – weil modern – aber ihre Denkweise mit der Zeit einleuchten würde. Wie sich herausstellen sollte, hatte sie damit (bis zu einem gewissen Grad) Recht, konnte das aber nicht mehr genießen – oder doch?
The light of the future is the light which is to be
The wisdom of the future is the light of the future, see?
(‘Madvillainy’, 2004)
Die zweite Zutat unseres kunsthistorischen Cocktails könnte als die Grundidee des Hellsehens beschrieben werden – unsere Ahnung, dass die zukunftsweisende Künstlerin von mehr als einfachem Glauben getragen wird. Sie weiß, dass ihre musikalischen Ideen in den kommenden Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten ein Zuhause finden werden. Das muss nicht unbedingt etwas mit Magie oder Science-Fiction zu tun haben, sondern eher mit einem Satz des surrealistische Dichters André Breton: Kunst „sollte von den Spiegelungen der Zukunft bewegt werden“.
Wenn Grace Jones in ihrer Autobiographie schreibt, dass Andy Warhol in Bezug auf Medien, Musik und Kunst „wusste, was kommen würde“, dann bedeutet das nicht unbedingt, dass Warhol in seiner Kristallkugel Kylie Jenner, Sunn O)))) und Unboxing-Videos auf YouTube erblickte, und seine Kunst entsprechend gestaltete. Viel eher könnten wir uns Warhol als eine Art Business-Trendforscher vorstellen – als jemanden, der aus den Tendenzen der Gegenwart Visionen der Zukunft ableitet. Mit diesem Bild wäre Warhol mit seiner wenig romantischen Vorstellung von Kunst als Geschäft wahrscheinlich einverstanden gewesen. Und der nächste Satz von Grace Jones verdeutlicht die Dinge: „Andy wusste, was kommt – er hat geformt, was kommt.“ Wie Jones zu Recht betont, ist der Künstler kein passiver Beobachter von Entwicklungen, sondern treibt sie aktiv in eine bestimmte Richtung: Er setzt auf die Zukunft und nimmt die Würfel in die Hand. Laut der Komponistin Daphne Oram ist dies das Mindeste, was Künstler und Musikschaffende tun können. „Glaubst du wirklich, dass es die Rolle der Musik ist, stets das Alltagsleben zu reflektieren? Ich persönlich denke, es ist viel mehr als das... für mich sollte sie nicht nur den Alltag widerspiegeln, sondern auch die Möglichkeiten für die Zukunft aufzeigen.“
Die dritte Zutat ist Romantik – die Romantik des Abenteuers, aber erstaunlicherweise auch des Scheiterns. Der zukunftsgewandte Künstler leidet aus dem gleichen Grund wie alle romantischen Helden: Die Welt wird ihren Träumen einfach nicht gerecht. Aber wo einige Romantiker in eine imaginäre Vergangenheit flüchten oder davon träumen, durch ideale Liebe erlöst zu werden, finden andere ihre Erlösung in der Zukunft. Dass diese Zukunft vielleicht nie oder erst nach dem Tod des Künstlers eintritt, ist nicht der springende Punkt. Wichtig ist das Leiden um des Unmöglichen willen. Das klingt egoistisch und sentimental? Ist es auch – und glücklicherweise steckt sehr wenig davon in Reveries Freestyle-Rap oder Jones' Memoiren. Don McLeans Easy-Listening-Song Vincent (Starry Starry Starry Night) ist hingegen komplett davon durchdrungen:
Now I understand what you tried to say to me
And how you suffered for your sanity
How you tried to set them free
They would not listen, they did not know how
Perhaps they'll listen now
McLeans Song über Vincent Van Gogh ist ein typisches Porträt des Künstlers aus (oder vor) seiner Zeit – ein Märtyrer für die Zukunft der Kunst und als solches eine Variation aller oben genannten Geschichten. Diese Version wurde der Künstlerin und Komponistin Yoko Ono schon in jungen Jahren gelehrt, und sie glaubte sehr lange daran. „Ich wuchs mit dem Gedanken auf, dass Van Gogh großartig ist“, sagte Ono 1996, „und dachte immer: Wahre Künstler werden erst nach ihrem Tod geschätzt.“ Don McLean fügt dem Ganzen noch eine moralische Dimension hinzu: Der Künstler kämpft für die „Freiheit“, wird aber durch „sie“ daran gehindert, sie zu Lebzeiten zu verwirklichen. Wer ist mit „sie“ gemeint? Die Öffentlichkeit – aber eine Öffentlichkeit, die uns nicht einschließt. „Sie“ erkennen nicht die Wahrheit in Van Goghs Vision, machen sich über die Wiederholungen in Gertrude Steins Prosa lustig und ärgern Picasso mit der dummen Forderung, dass Porträts möglichst wie die Menschen aussehen sollten, die man malt. Und 100 Jahre hat sich nichts daran geändert. Was stimmt nicht mit „ihnen“? Es ist nicht schwer, sich über diese überspannte Sicht des Künstlers als Märtyrer lustig zu machen, mit dem Publikum in der Rolle des Bösewichts (und ich habe ein besonders fragwürdiges Beispiel gewählt, um die Dinge zu verdeutlichen).
Aber mal ganz ehrlich: Waren wir nicht alle irgendwann schon mal wütend auf „sie“ – weil unser Track beim Publikum nicht ankommt? Weil das Demo vom Label abgelehnt wird? Oder weil die Musik toll ist, aber niemand tanzt? Und haben uns dann mit dem Gedanken an eine Zukunft, in der alles besser läuft, getröstet? Nichts wäre natürlicher als das – und sich dann auch zu fragen, ob es vielleicht daran liegt, dass die eigene Musik besser zur Zukunft als zur Gegenwartskultur passt. Ohne zu denken, dass sie deswegen keine Substanz hat.
Diese besondere Art des Denkens und Redens über die künstlerische Leistung in Bezug auf die Zeit ist typisch für das, was Claude Levi-Strauss eine „heiße“ Kultur nannte – eine geschichtsbewusste Gesellschaft, die so viel Wissen über ihre eigene Vergangenheit angesammelt hat, dass sie nicht umhin kommt, sich in die Zukunft zu versetzen – mit Zuversicht, Hoffnung oder Angst. An dieser Stelle ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass dies nicht der einzige Weg ist. Viele menschliche Gesellschaften sind auch ohne den Fortschrittsgedanken ausgekommen, und das war (wie Levi-Strauss glaubte) auch gut so. Wie ist das mit unserer Welt? Eine Abfolge mächtiger Denkmodelle – vom teleologischen Schema des Alten Testaments über den wissenschaftlichen Optimismus des 18. Jahrhunderts und den Marxismus bis hin zur Moderne – hat uns weitgehend von der Idee überzeugt, dass das Morgen dem Heute ein Stück voraus sein wird. Eine Künstlerin, die hofft, ihrer Zeit voraus zu sein, ihre Fans, die sie für ihren „vorausschauenden“ Ansatz bewundern, die Öffentlichkeit („sie“), die sie nicht verstehen kann, und der Kritiker, die ihr Werk und das von anderen in Bezug auf Fortschritt, Stillstand und Rückschritt beurteilt: Alle sind in diesem Schema gefangen, selbst wenn sie es überwinden wollen.
I don’t make music that most people would see as ‘classical’. It’s certainly not represented in major concert halls… You know, I make avant-garde music. I make music for the future! (Lea Bertucci in einem Interview von 2017)
Bei Loop 2018 in Hollywood traf sich eine Gruppe von Musikern und Schriftstellern, um über unsere Vorstellung von Musik in Beziehung zur geschichtlichen Zeit zu sprechen. Es ging dabei nicht um den Versuch, die Zukunft vorherzusagen oder vorwegzunehmen, sondern um eine Bestandsaufnahme unserer gedanklichen Geschichtsmodelle. Um die Frage, wo unser Platz darin ist, und um Erfahrungen – sowohl persönliche als auch kulturelle – die diese Ansichten geprägt haben. Der Veranstaltungsort passte zum Thema: Die East West Studios am Sunset Boulevard sind ein Ort, der dazu einlädt, darüber nachzudenken, was als nächstes passieren wird – einfach weil dort bereits so viel passiert ist. Von Peggy Lee bis Janelle Monae, von Frank Sinatras My Way bis Frank Oceans Blonde. Wer eine chronologische Playlist von Hits macht, die dort in den letzten fünfzig Jahren aufgenommen wurden, schreibt eine Geschichte und fragt sich, wie sie enden mag – oder zumindest, was das nächste Kapitel auf Lager hat. Was ist das überhaupt für eine Geschichte? Eine Romanze oder eine Tragödie? Eine Geschichte vom Nieder- und Untergang? Oder ein langsamer, aber stetiger Marsch zur Perfektion? Gibt es die imaginäre Geschichte wirklich? Oder zwingen wir sie dem Ort nur auf, um dem eigentlich Sinnlosen einen Sinn zu geben? Friedrich Nietzsche sprach 1886 von „jener schrecklichen Herrschaft des Unsinns und der Kontingenz, die bisher als ‘Geschichte’ bezeichnet wurde...“. In Peggy Lees Worten: Is That All There Is?
So weit wollte allerdings keiner der Gesprächsteilnehmer gehen. Alle teilen die Vorstellung, dass ihre Arbeit in einer bedeutsamen Tradition steht, und haben sich irgendwann einmal dem musikalischen Fortschritt verschrieben – selbst wenn sie diesen unterschiedlich definieren. Gavsborg und Shanique Marie von Equiknoxx beschreiben sich selbst als Mitglieder eines „zukunftsorientierten“ Musikkollektivs und Teil einer langen Tradition der Innovation in der jamaikanischen Musik, die im Grunde von ihnen verlangt, dass sie die Tradition selbst neu erfinden. Die maori-samoanische Rapperin, Autorin und Aktivistin Coco Solid setzt sich intensiv für eine Zukunftsvision der Musikkultur ein – erneuert durch Stimmen und Gesichter, die viel zu lange aus dem popkulturellen Diskurs ausgeklammert wurden. Hier ein Zitat aus ihrem Vortrag, der zu einem früheren Zeitpunkt des Loop-Wochenendes stattgefunden hatte: „Der ständige Hunger der Musik nach einem revolutionären Sound, kann meiner Meinung nach nur durch Inklusion gestillt werden – indem man die allzu oft Geächteten mit einbezieht“. Und der britische Musikjournalist Simon Reynolds hat zum Thema Musikgeschichte ein Buch geschrieben – mehrere sogar. Rip it Up and Start Again und Energy Flash sind sowohl Chroniken des Post-Punk und Rave als auch Manifeste. Sie feiern das Tempo, mit dem die Jugendkultur die Zukunft über zwei Generationen hinweg erfunden hat. Sein jüngstes Buch Retromania hingegen beklagt das Verschwinden dieser Impulse im 21. Jahrhundert. Und trotzdem: Alle vier setzen – bis zu einem gewissen Grad – auf das „Morgen". Sie sind neugierig auf die Ideen und Einflüsse, Mythen und Memes, die uns dazu bringen und weiterhin unsere Vorstellungen prägen, wie dieses Morgen klingen soll. Im East West Studio 1, wo so viel Musikgeschichte geschrieben wurde, habe ich – Craig Schuftan – mit Simon Reynolds, Coco Solid, Gavsborg und Shanique Marie darüber gesprochen, was wir von der Musik in Zukunft erwarten und – noch wichtiger – aus welchem Grund.
Erfahren Sie mehr über Simon Reynolds auf seiner Webseite
Folgen Sie Equiknoxx auf Twitter
Folgen Sie Coco Solid auf Twitter