Sounds aus dem Polish Radio Experimental Studio
Am Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich das ehemals unabhängige Polen fest im Einflussbereich der Sowjetunion. Trotz kurzer Phasen der Liberalisierung waren die folgenden vier Jahrzehnte unter dem Kommunismus eine Ära der politischen und wirtschaftlichen Repression, die erst 1989 mit der Auflösung der Sowjetunion und des Ostblocks der verbündeten sozialistischen Staaten zu Ende ging. Viele polnische Künstler und Musiker dieser Zeit waren von der Zensur betroffen. Wenn es darum ging, Werke zu erschaffen, die als dekadent, antisowjetisch, bürgerlich oder einfach nicht mit der staatlich sanktionierten Ästhetik des „sozialistischen Realismus“ vereinbar galten, konnten die Konsequenzen hart sein.
Trotzdem wurde eine der ersten europäischen Institutionen für experimentelle und elektronische Musik in Polen gegründet: das Polish Radio Experimental Studio (PRES). Es wurde 1957 ins Leben gerufen, um musikalische „Illustrationen“ für Filme, Radio und TV zu schaffen – eine Insel der künstlerischen Freiheit in den 1960er, 70er und 80er Jahren. Als eines der wenigen Studios in Osteuropa mit elektronischem Musikequipment (samt Technikern, die es warten konnten), war das PRES ein Forschungszentrum für die Möglichkeiten der Tonbandmusik. Viele erstaunliche und einzigartige elektroakustische Werke sind hier entstanden.
Während einige der westlichen Pendants (zum Beispiel das Columbia-Princeton Electronic Music Center, das San Francisco Tape Music Center, das GRM in Paris oder das Studio für elektronische Musik des WDR in Köln) damals angesehene kulturelle Institutionen waren (und inzwischen einen fast schon mythischen Status besitzen), sind die Produktionen des PRES in der Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts nach wie vor unterrepräsentiert. Um dies zu ändern, hat das polnische Kulturinstitut – Instytut Adama Mickiewicza (IAM) – nun eine Sample-Library in Auftrag gegeben. Sie basiert auf ausgewählten Werken der Komponisten Krzysztof Knittel, Elżbieta Sikora und Ryszard Szeremeta, die in den 1970er und 80er Jahren im PRES entstanden sind.
Wir freuen uns sehr, dieses besondere Sound-Library mit Ihnen teilen zu können. Die Sammlung enthält an die 300 Sounds, Loops und Effekte – in Drum-Racks zusammengefasst und mit eigens angefertigten Effekt-Racks und passenden Makro-Reglern erweitert. Über den unten angegebenen Link können Sie das Pack kostenlos downloaden. Lesen Sie auch unsere Interviews mit dem Projektkoordinator Michal Mendyk und dem Ableton-zertifizierten Experten Marcin Staniszewski, die das Pack zusammengestellt haben.
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Interview mit Projektkoordinator Michal Mendyk
Kannst du kurz die Ursprünge des Polish Radio Experimental Studio skizzieren?
Das Polish Radio Experimental Studio war eines der ersten elektronischen Musikzentren in Europa. Es wurde 1957 in Warschau als Abteilung des staatlichen polnischen Rundfunks gegründet. Der Gründer des Studios war Józef Patkowski, ein Musikwissenschaftler und Experte für frühe elektronische Musik. Interessanterweise wurde Patkowski von Włodzimierz Sokorski, dem radikalen Marxisten, Chef des polnischen Radios und ehemaligen Kulturminister der Volksrepublik Polen unterstützt. Dabei war es ein paar Jahre zuvor Sokorski, der den Sozialrealismus und die radikale politische und ästhetische Zensur in der polnischen Kunst und Kultur einführte. Über Witold Lutosławski, einen der Führer der polnischen Musikavantgarde, hat er mal gesagt: „Er sollte unter die Straßenbahn geworfen werden“. Und derselbe Mann war 1957 für den Aufbau des experimentellsten Musikzentrums in ganz Osteuropa verantwortlich! Später sagte er, dass das Polish Radio Experimental Studio seine Art sei, für seine früheren Sünden Buße zu tun. Dies ist eines von vielen Beispielen dafür, wie paradox das kulturelle und intellektuelle Leben in einem autoritären System sein kann.
Neben dem Experimental Studio of Slovak Radio in Bratislava, war das PRES eine der wenigen offiziellen Institutionen, in denen elektronische Musik im sowjetisch dominierten Osteuropa produziert wurde. Wurden die Aktivitäten der PRES jemals offen politisiert – entweder positiv als Beweis für den „fortschrittlichen“ Charakter des Sozialismus oder negativ als Beispiel für zu unterdrückende kulturelle Aktivitäten der Bourgeoisie?
Die Situation der polnischen Kultur war im Ostblock sehr speziell. Nach dem Tod Stalins 1953 und dem Regierungswechsel in Polen 1956 gab es eine starke Tendenz zur Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens - damals „Tauwetter“ genannt. Obwohl sich diese Tendenz später in vielen Bereichen wieder umkehrte, änderte sie sich nicht in der Kunst und Kultur. Natürlich gab es eine rein politische Zensur, aber fast keine ästhetische. Progressive, sogar avantgardistische Künstler wurden tatsächlich von der Regierung unterstützt, als Teil der offiziellen Propaganda, die sagen wollte: „Wir sind sozialistisch und gleichzeitig progressiv und liberal“.
Dieser Widerspruchs machte die internationale Karriere von Persönlichkeiten wie dem Filmregisseur Andrzej Wajda, dem Komponisten Krzysztof Penderecki oder dem Theaterregisseur Jerzy Grotowski möglich. Dies war in keinem anderen Land des Ostblocks der Fall – künstlerische Experimente wurden eingeschränkt, wenn nicht sogar streng verboten. So hatte beispielsweise das 1965 gegründete Experimental Studio des Slowakischen Rundfunks regelmäßig Probleme mit der Zensur und produzierte aus diesem Grund nur ein paar Dutzend Werke.
Zur selben Zeit produzierte das Polish Radio Experimental Studio über 300 hundert autonome Werke und noch mehr Soundtracks für Radio, Film und Fernsehen. Außerdem waren regelmäßig junge und renommierte Komponisten aus dem Westen zu Gast, darunter Arne Nordheim aus Norwegen, Lejaren Hiller aus den USA, François-Bernard Mâche aus Frankreich oder Franco Evangelisti aus Italien. Andererseits war das Studio ein Teil des sozialistischen Systems. Obwohl es sich in der Praxis auf autonome experimentelle Arbeiten konzentrierte, bestand seine offizielle Hauptaufgabe darin, Begleitmusik für Radio, Fernsehen und Film zu realisieren. So entstanden wieder interessante Widersprüche: Ein Komponist konnte beispielsweise an einem Tag experimentelle Arbeiten mit versteckter regierungskritischer Botschaft produzieren, und wurde am nächsten Tag mit dem Soundtrack für einen reinen Propagandafilm beauftragt.
Im Gegensatz zu Persönlichkeiten wie Iannis Xenakis, Pierre Henry oder Luc Ferrari vom GRM in Paris oder Karlheinz Stockhausen vom Studio für Elektronische Musik in Köln sind die Komponisten, die im Bereich der elektroakustischen Musik im PRES arbeiteten, weitgehend unbekannt. Wie kannst du dir das erklären? Liegt es daran, dass Polen keine Verbindung zur europäischen/amerikanischen Musikindustrie hatte? Oder wurde die Musik oder die Arbeit der Komponisten in irgendeiner Weise unterdrückt?
Ein wesentlicher Grund ist natürlich, dass das Polnische Radio-Experimentalstudio weder so fortschrittlich noch so produktiv war wie das Pariser GRM oder das WDR-Studio in Köln. Das ist eine Tatsache. Andererseits gibt es in der zeitgenössischen E-Musik nach wie vor sehr einflussreiche „nationale Zentren“ in Deutschland, Frankreich und den USA, die sich weitgehend auf das Geschehen im eigenen Milieu konzentrieren und kaum Interesse an den Randgebieten haben.
Zudem erreichte das PRES keine bedeutenden Errungenschaften im digitalen Bereich. In gewisser Weise ist es ein komplett analoges Phänomen geblieben. Die „goldene Ära“ begann in den 1970er Jahren, also vor mehr als 40 Jahren. Viele der besten Werke sind inzwischen vergessen, zumal die polnische und osteuropäische E-Musik im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts von konservativen, neoklassischen und neoromantischen Tendenzen dominiert wurde. Unter diesem Gesichtspunkt wurden experimentelle Arbeiten als Unsinn betrachtet.
Hinzu kam, dass Künstlerkreise in vielen osteuropäischen Ländern nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sehr interessiert am Austausch mit westlichen Kulturkreisen waren und gleichzeitig ihre eigene Tradition unterschätzten. Erst jetzt, nach fast 30 Jahren, hat sich das geändert. Ich denke, die experimentelle Musik ist in diesem Zusammenhang ein Sonderfall. In der Post-Techno-Ära scheint man weltweit nach den analogen Wurzeln unseres heutigen digitalen Sounds zu suchen.
Wie bist du auf die Idee gekommen, aus den Aufnahmen des PRES-Archivs ein Sample-Librbary zu machen?
Ich könnte einfach sagen, dass die Kreation von Samples heutzutage der einfachste Weg ist, um Archivaufnahmen einen zweiten Frühling erleben zu lassen. Aber ich bin auch fest davon überzeugt, dass die Archive des Polish Radio Experimental Studio zu den Methoden der modernen Musikproduktion passen. Tatsächlich arbeiteten die meisten PRES-Komponisten in einer Weise, die modernen Musikproduzenten viel ähnlicher ist als den experimentellen E-Musik-Komponisten aus Deutschland oder Frankreich. Letztere waren intensiv mit anspruchsvollen künstlerischen Theorien oder fortschrittlichen technologischen Experimenten beschäftigt. Die meisten PRES-Komponisten hingegen waren gleichermaßen mit experimenteller Musik und Begleitmusik beschäftigt. Oft vermischten sich die beiden Bereiche auf spannende Weise, was die Filmmusik „experimenteller“ und die experimentelle Musik wiederum emotionaler, sinnlicher und zugänglicher machte. Auf technischer Ebene bedeutete dies, sowohl eigene Werke als auch Werke von anderen Komponisten oder Popsongs zu sampeln, das gleiche Material in verschiedenen Kompositionen „remixartig“wiederzuverwenden, experimentelle Klänge und Texturen mit regelmäßigen rhythmischen Impulsen zu versehen, und so weiter.
Interview mit Sound Designer Marcin Staniszewski
Du bist ein Ableton-zertifizierter Experte, Musiker, Produzent und Sound Designer für Apps, Film und TV. Wie war es für dich, die Archive der elektronischen Musik deines Heimatlands zu durchstöbern?
Es war ein ohrenöffnendes Erlebnis. Ich kannte das PRES und die meisten namhaften Komponisten, die dort tätig waren, war aber erstaunt über die Qualität der Klänge und die einzigartigen Klangfarben und Texturen, die mit so beschränkten Werkzeugen erreicht wurden. Die Musik ist einfach abgefahren. Am coolsten fand ich, dass die meisten Stücke in Bezug auf BPM-Zahlen und Raster nicht sehr tight sind. Die Musik ist improvisiert, sehr lebendig und entwickelt sich ständig weiter.
In welchem Zustand war das Klangmaterial, zu dem du Zugang hattest, und wie hast du es organisiert?
Ich habe Material erhalten, das bereits digitalisiert war. Der größte Teil wurde von professionellen Tontechniker auf Band aufgenommen, und das kann man definitiv hören. Ich hatte Zugriff auf Stereo-Mixe und musste deswegen kreativ sein – oft war es eine Herausforderung, beim Schneiden der Samples die passenden Momente zu finden. Beim Durchforsten des Materials ließen sich die meisten Samples in drei Kategorien einordnen: perkussive Sounds, Klangeffekte und rhythmische Loops. Ich musste mir darüber also keine großen Gedanken machen.
Wie / warum hast du entschieden, das Material in Live-Racks und Audio-Loops zu packen?
Ich entschied mich für Drum-Racks, weil sie für mich die Essenz von Ableton Live sind – das kreativste und gleichzeitig einfachste Tool. Es gibt schier endlose Möglichkeiten mit den Effektketten, Gruppen und Makro-Reglern. Drum-Racks besitzen auch eine sehr klare Struktur. Was Loops betrifft, war es mir egal, ob sie auf konventionelle Weise gleichmäßig loopen. Ich suchte vor allem nach Grooves – je schräger, desto besser. Ich hatte Zugang zu wirklich exzentrischem, verrücktem Zeug, also musste ich diese Seite erkunden. Am wichtigsten war für mich, dass die Sounds nahtlos loopen. Frag mich aber bitte nicht nach dem Tempo oder den Taktarten!
Was hat dich bei deiner Arbeit am meisten überrascht?
Ich fand heraus, dass Kompressoren heutzutage eines der am meisten überschätzten Tools sind. All diese Kompositionen sind sehr dynamisch – sogar einfaches weißes Rauschen verursachte bei mir Gänsehaut. Sanfte Passagen und Lärmexplosionen wechseln sich ab, und alleine dadurch entsteht beim Hören eine weitere Spannungsebene. Diese dynamische Dimension ist heutzutage verloren gegangen und das ist sehr schade, weil sie so kraftvoll sein kann. Kein Wunder, dass manche Tontechniker der alten Schule kaum Kompressoren verwenden.
Als ich an dem Stück arbeitete, das die Library präsentiert (die Idee gefiel mir so gut, dass ich ein neues Soloprojekt namens SICHER startete – die erste EP erscheint in Kürze), war ich erstaunt, wie sehr man aus einem Loop oder einem Sample herausholen kann. Es macht so viel Spaß und so viel mehr Sinn, wenn man nur drei oder vier Samples verwendet und dann zerlegt, anstatt 100 verschiedene Samples aus aller Welt zu nehmen. Man kann sich sicher sein, dass sie eine gemeinsame Klangfarbe haben und dass das überhaupt keine Einschränkung ist. Ich habe festgestellt, dass ich aus einem einfachen Sound ein ganzes Schlagzeug machen kann! Es geht nur um ganz einfache Maßnahmen: Start-/Endpunkte anpassen oder Sounds transponieren. Du willst eine knallende Kick-Drum? Verschiebe einfach den Startpunkt, damit der Sound nicht genau am Nulldurchgang abgefeuert wird – und schon hast du eine Kick-Drum, die sich im Mix durchsetzt.
Die Komponisten:
Krzysztof Knittel ist ein Toningenieur, Komponist, Performer, Musikjournalist, Hochschullehrer, Dozent und Gesellschaftsaktivist, der in den Jahren des Kriegsrechts mit der unabhängigen Kulturgemeinschaft verbunden war. Knittel hat mit einer Vielzahl von Stilen, Genres und Techniken gearbeitet, doch die Konstante ist sein Interesse an der elektronischen Musik, das ihn 1973 zum PRES brachte.
Elżbieta Sikora begann ihre Karriere bei Pierre Schaeffer und François Bayle, zwei wichtigen Mitgliedern der Groupe de Recherches Musicales. Seit den 1970er Jahren ist sie mit dem PRES verbunden. Nach ihrem Umzug nach Paris im Jahr 1981 arbeitete sie in einer Reihe renommierter Studios für elektronische Musik und komponierte Orchesterwerke und Opern, die von der elektronischen Narration geprägt sind.
Ryszard Szeremeta ist Komponist, Dirigent und langjähriger Leiter des Polish Radio Experimental Studio. Er produziert auch Platten, gibt Konzerte und elektroakustische Performances und war Mitglied des legendären polnischen Jazzquartetts Novi Singers.
Erfahren Sie mehr über das Polish Radio Experimental Studio
Folgen Sie Marcin Staniszewski auf seiner Website und holen Sie sich das komplette Live-Set seines Tracks „This Is P R E S“ , das größtenteils Sounds des P R E S-Pack verwendet.
Fotos von Andrzej Zborski, 1962–1972, mit freundlicher Genehmigung des Museums für Moderne Kunst in Warschau.
Das Projekt wird vom Adam-Mickiewicz-Institut im Rahmen von POLSKA 100, dem internationalen Kulturprogramm zum hundertjährigen Bestehen Polens, mitorganisiert.
Finanziert vom Ministerium für Kultur und nationales Erbe der Republik Polen im Rahmen des mehrjährigen Programms NIEPODLEGŁA 2017-202.