Sounds In Context: Mikael Seifu
Wir sind immer wieder fasziniert von der Vielfalt der Regionen, Situationen und Stilrichtungen, in denen Live, Push und ähnliche Musiktechnologien zum Einsatz kommen. Mit unserer neuen Artikelreihe „Sounds In Context“ möchten wir Ihnen interessante Musiker aus aller Welt vorstellen und die gesellschaftlichen und musikgeschichtlichen Zusammenhänge erforschen, in denen sie aktiv sind.
Mikael Seifu ist ein einzigartiger Protagonist der elektronischen Musik. Geboren und aufgewachsen in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba begann Seifu schon als Teenager mit der Beat-Produktion. Dabei ließ er sich vor allem von kommerziellem US-HipHop inspirieren. Nach dem High-School-Abschluss siedelte er in die USA über, um Musik und Produktion an einem College in New Jersey zu studieren. Sein Ziel: Eine Karriere in der amerikanischen Musikindustrie. Zunehmend desillusioniert durch die „Grimmigkeit der amerikanischen Maschine“ entschloss sich Seifu nach drei Jahren jedoch zur Rückkehr in seine Heimatstadt, um seine Musik dort neu zu kalibrieren.
Seit seiner Rückkehr nach Addis Abeba setzt sich Mikael Seifu intensiv mit seinen musikalischen Wurzeln auseinander und entwickelt einen komplett eigenen Sound. Seine eindrucksvollen, hypnotischen Produktionen erscheinen größtenteils auf dem Washingtoner Label 1432 R. Seifus Tracks sind reich an Texturen und werden oft von mehreren Schichten pluckernder, komplexer Percussion vorangetrieben – eine Klangästhetik, mit der Seifu UK-Beatmakern (namentlich Burial und Four Tet) viel näher steht als den kommerziellen HipHop-Sounds seiner Jugend. Das herausragende Merkmal seiner aktuellen Produktionen ist jedoch die unüberhörbare Präsenz der Skalen, Rhythmen und Instrumente seines Heimatlands Äthiopien.
Das ostafrikanische Land ist ein Vielvölkerstaat, in dem über 80 Sprachen gesprochen werden. Neben der ausführlich dokumentierten Ethio-Jazz-Bewegung der 60er und 70er Jahre umfasst die musikalische Tradition Äthiopiens unzählige Formen von Volks- und Stammesmusik. Aus dieser Quelle schöpft Mikael Seifu viel Inspiration – er sampelt traditionelle Elemente und nutzt die ungewöhnlichen Skalen und Metren als Wegweiser in musikalisches Neuland. Seine Musik versteht er als Fortsetzung der äthiopischen Musiktradition mit den Mitteln moderner Technologie und elektronischer Musik.
In Kürze wird Mikael Seifus neues Album auf RVNG Intl. erscheinen. Wir machten den aufstrebenden Produzenten in Addis Abeba ausfindig, um Einblick in seine kreativen Methoden zu erhalten und zu erfahren, wie Seifu seine elektronischen Produktionen in den Kontext der vielfältigen Musikgeschichte seines Landes stellt.
Wie ist dein musikalischer Werdegang? Hast du in deiner Jugend ein Instrument gelernt?
Als ich ein Kind war, schickte meine Mutter uns in den Klavierunterricht und dergleichen. Das war schrecklich. Es war zu viel des Guten [lacht]. Doch so ging es für mich mit der Musik los, und es brachte mich dazu, Musik am Computer zu machen.
Wann bist du in die elektronische Musikproduktion eingestiegen?
Das war ungefähr im zweiten Schuljahr an der High School. Eigentlich begann es mit HipHop – ich hörte viel HipHop, machte dann eigene Tracks und begann damit, äthiopische Elemente in die Musik einzubauen. Von da an ging es weiter. Das alles ist mehr als zehn Jahre her – ich nutzte damals lediglich einen Computer und FL Studio.
Wann wurde es ernst mit der Musikproduktion? Bist du hauptsächlich in die USA gezogen, um Aufnahme- und Produktionstechnik zu studieren?
Ich zog in die USA, um ans College zu gehen. Anfangs habe ich querbeet studiert, im zweiten Jahr wurde Musik dann mein Hauptfach. Ich habe zwar keinen College-Abschluss gemacht, doch diverse Kurse besucht – Recording, Music Business, Music Management und dergleichen. Damals nutzte ich Logic, doch nach meinem Umzug nach Addis Abeba vor vier oder fünf Jahren begann ich mit Ableton zu arbeiten.
Seit deiner Rückkehr nach Addis Abeba liegt dein Fokus als Künstler auf der elektronischen Musik – als Werkzeug zur Erforschung der äthiopischen Musiktradition. Wie baust du äthiopische Skalen und Elemente in deine Produktionen ein – nimmt du dich oder andere Musiker auf? Nutzt du Samples?
Ich gehe von Projekt zu Projekt unterschiedlich vor. Meist versuche ich, Ideen in einer spezifisch äthiopischen Skala zu entwickeln und eine Melodie herauszuarbeiten, auf der dann die übrigen Track-Elemente basieren. Oder ich beginne mit einem Sample als Basis. Manchmal jamme ich einfach, nehme es auf und entwickle es weiter. Oder ich lasse andere Musiker spielen. Es gibt keinen festgelegten Weg.
Welche Instrumente spielst du, wenn du dich selbst aufnimmst? Akustische Instrumente und Synthesizer?
Genau – Gitarre, Synthesizer, eigene Vocals, solche Dinge.
Beginnst du mit einem akustischen Instrument, wenn du mit äthiopischen Skalen arbeitest? Oder kannst du gleich in der DAW starten?
Eigentlich bin ich eher in der DAW zuhause. Meist spiele ich dort zuerst die Musik und versuche dann, die Wärme von anderen Instrumenten und Samples reinzuholen. Es gibt einen konstanten Austausch zwischen dem, was im Computer passiert, und den Klängen der externen Instrumente.
Ein markanter Aspekt deiner Produktionen sind die Rhythmen. Wie gehst du bei ihrer Entwicklung vor?
Für die Entwicklung der Drums habe ich eine ziemlich konstante Methode. In den meisten Fällen baue ich einfach ein Kit mit Drum Racks, programmiere die Patterns und schaue, wie das zusammengeht. Sobald das Drum-Fundament steht, baue ich Samples äthiopischer Musik ein, oder bearbeite die Beat-Programmierung [um Bewegung zu erzeugen]. Manche Teile der Patterns spiele ich auch live ein, um sie groovy zu machen.
Es gibt also Elemente, die vom Raster abschweifen?
Klar – manchmal ist das Raster ein wenig zu starr.
„Bis zu einem gewissen Grad könnte man meine derzeitige Musik als „experimentell“ betrachten. Doch im Kontext der lokalen Situation ist meine Entwicklung sehr natürlich, wie ich finde.“
Wie erreichst du die Patterns, die du am Ende verwendest? Verfolgst du dabei eine bestimmte Idee – aus der elektronischen oder äthiopischen Sphäre? Geht es dir darum, die beiden Welten in gewisser Weise zu fusionieren?
Das trifft es genau. Größtenteils geht es dabei um die Taktart – in Clips experimentiere ich gerne damit. Beispielsweise habe ich einen Clip im 3/4-Takt und weitere Clips im normalen 4/4-Takt. Wenn ich sie übereinanderlege, entstehen Polyrhythmen, und das ist der Punkt, an dem es spannend wird.
Willst du beim Kombinieren von Patterns mit verschiedenen Taktarten ein bestimmtes Ziel erreichen? Oder experimentierst du eher solange, bis die Elemente zusammenpassen?
Bei Taktarten, die vom 4/4-Schema abweichen, passiert etwas Merkwürdiges – es entsteht eine Art automatischer Groove, selbst wenn ich einfach ein Sample oben drauflege. Weil es eine eigene, andere Taktart hat, passiert sofort etwas. Dann kann ich das Sample herausnehmen und resampeln, um eine andere Art von Groove zu erhalten, ohne das ursprüngliche Feeling zu verlieren. Ich probiere definitiv einiges aus, habe dabei aber auch das eine oder andere äthiopische Groove-Muster im Kopf.
Welche Rolle spielt Push in deinen Produktionen?
In der Anfangsphase des kreativen Prozesses mache ich sehr viel auf Push. Meist lasse ich verschiedene Clips laufen, um mit ihnen zu experimentieren. Manchmal schalte ich die globale Quantisierung aus, um mit den Clips herumzuspielen – im Grunde ist Push dann ein Jamming-Tool. Gleichzeitig nutze ich Push zum Aufnehmen aller möglichen Arten von Automation, er spielt also auch eine wichtige Rolle beim Mixing.
Welche Mixing-Methoden hast du über die Jahre entwickelt?
Für mich ist das Mixing in jeder Phase des Produzierens wichtig – damit ich beim Komponieren vorankomme, muss das Feeling stimmen. Wenn das Arrangement und die musikalischen Aspekte des Tracks fertig sind, kümmere ich mich um die technischen Aspekte und kleinen Details. Wenn beim Komponieren „Fehler“ entstanden sind, befasse ich mich damit und stelle in der finalen Mixing-Phase sicher, dass das Klangspektrum ausgewogen ist.
Wie gehst du beim Arrangieren vor? Deine Tracks haben oft keine traditionelle Struktur, sie scheinen eher eine eigene Dynamik zu besitzen. Hast du ein Konzept beim Arrangieren deiner Songs?
Diese Frage beschäftigt mich seit ein paar Monaten: Was ist heutzutage ein Arrangement? Für elektronische Tracks aus der westlichen Welt gibt es definitiv einen Kontext beim Arrangieren, der direkt mit der Clubkultur verbunden ist – egal ob bei Mainstream- oder Underground-Produktionen. In diesem Club-Kontext kann man den Ablauf eines Tracks nachvollziehen und erkennen, in welche Richtung die Reise gehen soll. Von diesem Konzept des Arrangierens habe ich mich nach einer gewissen Zeit verabschiedet – weil es keinen Club-Kontext für mich gibt. Die hiesige Clubkultur ist seltsam und es gibt hier eigentlich keine erwähnenswerte Elektronik-Szene, für meine Art von Musik sowieso nicht. Zur Zeit setze ich mich buchstäblich hin und studiere die lokalen musikalischen Arrangements – in Äthiopien sind Arrangements von einer bestimmten Art von Minimalismus geprägt.
Ich finde, dass man das hören kann, besonders in Tracks wie „Tuff Ruff“ – dieser Track besitzt kein wirklich erkennbares Arrangement, sondern scheint sich eher in einer Trance-induzierten Zone zu bewegen.
Das Arrangement von „Tuff Ruff“ wurde komplett von den Vocals bestimmt.
Sind die Vocals ein Sample?
Ja, das ist ein Sample. Äthiopien ist reich an solchen Sängern.
Würdest du deine Musik als eine Evolution der äthiopischen Musiktradition bezeichnen – als eine Fusion weltweiter Einflüsse?
Man könnte meine derzeitige Musik als „experimentell“ betrachten, doch ich denke, dass meine Entwicklung im Kontext der lokalen Situation sehr natürlich ist. Man kann weltweit beobachten, dass die musikalischen Spielregeln ein wenig demokratischer werden – Genres verlieren an Bedeutung. Für mich scheint es so, als ob die Künstler selbst die Genres wären – und sich deshalb aus ihrem lokalen Kontext lösen können.
Elektronische Musik ist von Natur aus experimentell. Das war ihre Basis und ist immer noch ihr Fundament. Vielleicht betrachte ich die elektronische Musik auf diese Weise: Wenn ich die Musik von anderen Künstlern höre, will ich nicht nur im Kontext ihrer Herkunft über sie nachdenken. Das ist irgendwie langweilig – wenn du immer versuchst, die Elemente einer bestimmten Szene zu identifizieren, kann das dem einfachen Hören auch im Weg stehen. Ich lasse die Künstler ihren eigenen Weg bahnen und blende die ganzen Schubladen und Kategorien aus.
Ein guter Punkt – doch wenn jemand mehr über die Musik Äthiopiens erfahren wollte, welche Künstler würdest du empfehlen?
Die verschiedenen äthiopischen Musikrichtungen wurden größtenteils nicht korrekt dokumentiert, ihre Darstellung ist nicht ausgewogen. Ich bin mir sicher, dass ich nicht mal 30 % der Musik des Lands kennengelernt habe – das ist mein Disclaimer. Wenn die Hörer die Roots der Künstler, die ich ihnen vorstellen werde, zurückverfolgen wollen, werden sie mit Sicherheit früher oder später an einen Punkt kommen, ab dem sie nicht mehr weiterkommen.
„Die Tradition an sich kann eigene innovative Qualitäten haben, wenn es um das Erforschen von Neuland oder das Wiederbeleben vergessener Traditionen geht.“
Die meisten Künstler sind zeitgenössisch, gehören aber verschiedenen Schulen der äthiopischen Musik an. Sie einem westlichen Publikum zu beschreiben ist schwierig, besonders seit dem Aufkommen der Aufnahmeindustrie, der digitalen Keyboards und der Workstations. Alle diese Werkzeuge basieren auf westlicher Musiktheorie und westlichen Skalen, deshalb wird immer ein Verlust an Information entstehen.
Das Überraschende ist, dass sich Jazz in Äthiopien auf eine eigene Weise entwickelt hat, und dass die Vermischung äthiopischer Skalen und Klänge im Rahmen des Jazz passierte. Doch die traditionellen äthiopischen Musikrichtungen haben ihre eigene Vision davon, was im traditionellen Kontext Neuland darstellt. Das ist es, was ich interessant finde – es geht nicht um den Versuch, eine fremde Idee zu übernehmen und mit lokalem Flair zu füllen, um innovativ zu sein. Die Tradition an sich kann eigene innovative Qualitäten haben, wenn es um das Erforschen von Neuland oder das Wiederbeleben vergessener Traditionen geht.
Ethiocolor
Eine zeitgenössische traditionelle Band. Einer ihrer Gründer hat einen kleinen Club in Addis Abeba, und wenn die Band in der Stadt und nicht auf Tour ist, spielen sie dort eine Show, die das gesamte Spektrum der äthiopischen Volksmusik abzudecken versucht. Ethiocolor sind ein guter Einstieg in die Musik Äthiopiens – die Instrumentierung ist komplett traditionell und die Vocals sind in verschiedenen Sprachen. In Äthiopien werden über 70 Sprachen gesprochen.
Dub Colossus
Dub Colossus ist keine komplett lokale Band. Sie haben produktionstechnisch Grenzen verschoben und basierend auf äthiopischem Jazz andere moderne Genres aus aller Welt erforscht. In manchen Momenten sind die Grenzen komplett verwischt, das macht ihre Musik sehr interessant.
Mulatu Astatke
Ethiojazz ist eine der populärsten Musikrichtungen, die in Äthiopien entstanden sind – Mulatu Astatke ist der Ethiojazz-Godfather.
Addis Acoustic Project
Dies ist eine Ethiojazz-Band, die sehr interessante Versionen äthiopischer Standards spielt. Beim Interpretieren führen sie die Stücke an völlig neue Orte. Vor drei Jahren habe ich im Sommer in ihrem Club als Tontechniker gearbeitet. Sie sind einfach brillante Musiker, eine Klasse für sich.
Gash Abera Molla (Sileshi Demessie)
Gash Abera Molla hat äthiopische Volksmusik auf seine Weise neu definiert. Er hat die Stilrichtungen in sein eigenes Territorium übertragen, seine Musik hebt sich deutlich von den traditionellen Musikern aus Addis Abeba und Äthiopien ab. Er macht auch viele spannende Sachen mit Vocals.
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