Sounds In Context: Meridian Brothers
Wir sind immer wieder fasziniert von der Vielfalt der Regionen, Situationen und Stilrichtungen, in denen Live, Push und ähnliche Musiktechnologien zum Einsatz kommen. Mit unserer neuen Artikelreihe „Sounds In Context“ möchten wir Ihnen interessante Musiker aus aller Welt vorstellen und die gesellschaftlichen und musikgeschichtlichen Zusammenhänge erforschen, in denen sie aktiv sind.
Meridian Brothers aus Bogotá / Kolumbien war zunächst das Soloprojekt des Komponisten Eblis Alvarez, entwickelte sich aber bald zu einer beeindruckenden Live-Band mit vielfältigen Einflüssen und Inspirationen. Auf der Bühne und beim Aufnehmen nutzt die Band Elemente von Cumbia, Surfmusik, lateinamerikanischem Folk, Sampling-Techniken, manipulierte Vocals sowie Max/-MSP-Zauberei und verbindet sie geschickt mit stringenten, ziemlich hypnotischen Rhythmen. Da Meridian Brothers mit jedem Release neue Themenbereiche abstecken, sprachen wir mit Alvarez über die spezifischen Einflüsse des neuen Albums „Los Suicidas“, die aktuelle experimentelle Musik in Kolumbien und die Rolle der Hammond-Orgel in Lateinamerika.
Wie bist du Musiker geworden? Und wie kam es zur Gründung von Meridian Brothers?
Ich habe klassische Gitarre gelernt und Komposition studiert. Später spezialisierte ich mich auf elektronische und elektroakustische Musik. Seit einigen Jahren bin ich als Produzent, Dozent und Musiker in die neue Welle der kolumbianischen Musik involviert. 1998 gründete ich Meridian Brothers als Soloprojekt. Ich nahm Kassetten auf – Overdubs von mir an verschiedenen Instrumenten, das ging in die Richtung experimenteller Pop.
Nach einer Weile begann ich mit traditioneller kolumbianischer Musik zu experimentieren. Ich modifizierte den Stil, indem ich ihn mit Latin-Einflüssen kombinierte – mit karibischer Musik und Stilistiken aus dem Landesinneren von Kolumbien.
Ich habe von Anfang an alleine im Studio gearbeitet und die Musik dann für Live-Konzerte mit der Band zusammengestellt. Die Band besteht aus María Valencia (Saxofon, Percussion, Klarinette), Alejandro Forero (Keyboards und Elektronik), César Quevedo (Bass), Damián Ponce de León (Drums) und Juan Camilo Montañez / Mauricio Baez (Tontechnik). Für mich sind Live-Set und Studio-Set zwei verschiedene Sprachen. Mit Meridian Brothers habe ich bislang 6 Studioalben, eine Compilation und drei Singles veröffentlicht und wir waren mehrmals auf Tour in Europa, den USA und Lateinamerika.
Das neue Album „Los Suicidas“ befasst sich mit einem bestimmten Aspekt der Musikgeschichte – mit welchem?
Das Projekt ist der Orgel gewidmet. Die Ambient-Hammond-Organisten Lateinamerikas haben mich dabei inspiriert – ein Genre, das parallel zu den Easy-Listening-Spielarten der 60er und 70er Jahre entstand. Organisten aus Kolumbien, Ecuador, Mexiko, Panamá und Brasilien entwickelten damals einen markanten Stil – sie traten mit Begleitbands und traditionellen Instrumenten auf, die Orgel war das zentrale Instrument. In manchen Fällen kamen sie zu wirklich schönen Ergebnissen. Damals entstand auch ein neues Sub-Genre: Orgel-Cumbia. Diese Musik wird auch heute noch bei manchen „Sonideros“-Parties in Mexiko gespielt und ist in Ecuador sehr beliebt.
Mit manchen dieser Platten als Ausgangspunkt entschloss ich mich dazu, dieses Genre zu erforschen. Ich nutzte die Orgel-Klangfarbe als Basis, um den Stil weiterzuentwickeln und in „unmögliche Orgelmusik“ zu verwandeln – eine Art Un-Easy Listening. Ich nutzte dieselbe Hintergrund-Instrumentierung wie in manchen der Songs, die mich inspirierten: Kontrabass-Pizzicato, jazzige Drums und die Orgel (mit Software- und Hardware-Synthesizern). Gelegentlich kamen auch Drum-Maschinen und andere elektronische Sounds zum Einsatz. Da sich der „unmögliche“ Sound, der mir vorschwebte, ausschließlich mit der Orgel kaum realisieren ließ, nutzte ich auch die Sequencing-Möglichkeiten von Ableton Live und Max for Live.
Auf dem Album sind einige komplexe Rhythmen zu hören – wie hast du sie programmiert?
Jede Orgel-Stimme hat eine eigene Spur. Dahinter steht die Idee, eine Orgel mit drei Manualen zu simulieren. Jedes Manual repräsentiert jedoch einen anderen Synthesizer / Sound – deswegen steuern die drei Spuren per MIDI unterschiedliche Software- oder Hardware-Synthesizer an. Ich nutze einen Dave Smith Mopho x4 Analog-Synth, einen Nord Lead-Synth, einen analog-monophonen Synth von MFB und weitere Synthesizer, die in Max/MSP programmiert sind. Alle Instrumente werden in Live sequenziert und gespielt.
Die verschiedenen Parts sind allesamt polyrhythmisch. Das interessiert mich schon seit Längerem – ich komponiere oft Melodien mit verschiedenen Geschwindigkeiten und Taktbezeichnungen, die aber auf ein Master-Tempo bezogen sind. Dadurch wird die musikalische Wahrnehmung aufgeteilt und es entsteht ein ungewöhnlicher Effekt – die Musik klingt zwar vertraut, bewegt sich aber schneller oder langsamer als erwartet. Manche Melodien sind live gespielt, andere programmiert (vor allem die sehr schwierigen!). Für die schwierigen Melodien skizzierte ich die Komposition in MIDI (mit Sibelius) und vollendete dann die Tracks, indem ich alles in Live gespielt und aufgenommen habe.
Warum hast du hauptsächlich akustische Percussion-Sounds verwendet?
Die Idee für dieses Album entstand, als ich ein altes Vinyl-Album von Jaime Llano González gekauft hatte – ein kolumbianischer Organist, der traditionelle Musik aus Kolumbien auf der Hammond-Orgel interpretiert. Nach einiger Recherche fand ich heraus, dass es eine Schule von Ambient-Organisten gibt, die über ganz Lateinamerika verteilt sind, etwa Juancho Vargas (Kolumbien), Tulio Enrique León (Venezuela), Francisco „Pacho“ Zapata (Kolumbien), Avelino Muñoz (Panamá) und Juan Torres Robles (Mexiko).
Ein reduziertes traditionelles Percussion- oder Drum-Set, Bass (meist akustisch) und die Hammond-Orgel ist die typische Instrumentierung dieser Organisten. Ich wollte ihrem Modell folgen – mit einem Jazz-artigen Schlagzeug, diverser Percussion (elektronisch und akustisch) und einem Cello, um Pizzicato-Bassläufe spielen zu können. Alles, um diesen Sound zu imitieren, weil ich ihn sehr besonders und spannend finde.
Wofür steht „Los Suicidas“, der Titel des Albums?
Los Suicidas ist eine Tequila-Marke, die (soweit ich weiß) von dem Schriftsteller Roberto Bolaño eingeführt wurde. Der Tequila ist ziemlich stark und taucht in einem Kapitel seines Romans „Los detectives salvajes“ [“Die wilden Detektive”] auf. Die Passage beschreibt das Wiedersehen von drei Typen, sie unterhalten sich über die Poesie und das Trinken. Daher stammt der Name des Albums.
Wie sieht die Musikszene aus, der Meridian Brothers in Bogotá, Kolumbien angehören?
Die Musikszene von Bogotá ist sehr lebendig – viele Parties, Künstler und kooperative Projekte. Es gibt hier eine stetig wachsende Crowd, hauptsächlich junge Leute zwischen 20 und 30, die den Underground-Aktivitäten folgen. Das ist viel spannender als der kulturelle Mainstream, dem in einigen Bereichen – Presse, Produktion, Medien – die Tiefe fehlt. Die Underground-Szene ist zwar klein, hat aber ein sehr aktives Netzwerk von Journalisten, Trendsettern, DJs und Musikern.
Die Kombination aus modernen Instrumenten und Formaten mit allen möglichen traditionellen Sprachen ist das Markenzeichen der Musikszene von Bogotá. Es gibt dort auch einige Klangforscher, die traditionelle Sounds aufnehmen, die noch nie zu hören waren oder als verschollen galten – wer den vielen Releases folgt, kann eine Menge neue Musik entdecken. Die experimentelle Musik wird allmählich zu einer festen Größe und findet Anklang beim Publikum. Was nicht heißt, dass sie sofort zugänglich ist – wer sich dieser Bewegung anschließen will, sollte sein Gehör darauf einstimmen.
Bleiben Sie bei Meridian Brothers über ihre Website und Soundcloud auf dem Laufenden.