Sidechain-Kompression, Teil 2: Von gängig bis ausgefallen
Nachdem wir in Teil 1 alles über Sidechain-Kompression und ihre Geschichte erfahren haben, ist es nun an der Zeit, die Ärmel hochzukrempeln. In diesem Artikel gibt David Abravanel einige Beispiele, wie Sidechains in Live 10 eingesetzt werden – vom klassischen Herstellen pumpender House-Harmonien bis zu schwindelerregenden experimentellen Verschaltungen.
Die allmächtige Bassdrum
Ohne Frage dient Sidechaining am häufigsten dazu, dass sich andere Instrumente hinter der immensen Kraft der Bassdrum einreihen. Bei House, Techno und auch Hiphop sorgt Sidechaining im Mix für den entscheidenden Unterschied zwischen einer Kick mit Atemnot und einem kräftigen, schweren Wumms.
Auf diesem Weg ins Sidechaining einzusteigen, ist ganz leicht. Ziehen Sie zunächst auf jede Spur, die von der Kick weggedrückt werden soll, einen Compressor. An welcher Stelle Sie den Compressor einsetzen, liegt ganz bei Ihnen – traditionell gehört er ans Ende der Effektkette. Aber vielleicht stellen Sie ja fest, dass Sie etwa den Reverbklang lieber nach dem Ducking hören.
Klicken Sie im Compressor zunächst auf „Sidechain ein-/ausblenden“, wählen Sie dann die Spur aus, die Ihnen als Quelle dienen soll. Beachten Sie die Auswahlbox darunter, wo Sie Pre- und Post-FX sowie Post-Mixer anklicken können. Das ist nützlich, z.B. wenn Sie die Kick stark verzerrt haben, aber das transientenreichere Original die Sidechain-Quelle sein soll. Wenn Ihre Sidechain-Quelle ein mehrteiliges Drum-Rack umfasst, können Sie in diesem Menü auch wählen, ob das gesamte Rack oder nur ein Teil davon als Quelle genutzt wird.
Stellen Sie die Ratio nach Belieben ein (im Beispiel oben handelt es sich um einen Limiter für den größtmöglichen Effekt) und spielen Sie mit Attack, Release und Knee bis es so richtig pumpt und zuschnappt. Sobald Sie die Sidechain auf der Spur haben, können Sie den Ausgangspegel erhöhen – für ein noch dramatischeres Anschwellen der anderen Instrumente.
Im Beispiel oben habe ich das legendäre Pumpen von French House nachgebaut, hier „Indo Silver Club“ von Daft Punk, das Hörbeispiel aus dem vorigen Artikel. Hören Sie, wie das Ducking den gesamten Track formt – und auch, wie die Kick im Verlauf deutlich voller klingt. In diesem Fall habe ich mit einem Highpass-Filter auf der Kick angefangen und ihn dann nach und nach weggenommen, um den Sound anzureichern – ein altbekannter Trick, der im Intro vieler House- und Technotracks zu hören ist.
Hau drauf
Im Hiphop dient Sidechaining dazu, das typische „Wumms“ einer schweren Kick zu akzentuieren. Was das angeht, haben wir uns bereits mit den Klangbeispielen in Tracks von J Dilla, Madlib und Flying Lotus beschäftigt. Hören Sie unten einen Ambient-Hiphopbeat im Stil von Boards of Canada, ohne Sidechaining.
Der Loop ist schon ganz hübsch, aber packen die Drums Sie so richtig? Aktivieren wir einmal Sidechaining für die Harmonien, das Leadinstrument und den Bass.
Das ist doch mal eine ernstzunehmende Kick. Nicht nur schafft das Sidechaining hier Platz für die Drums, gibt dem Track auch einen gewissen Zusammenhalt – sondern es fühlt sich nach mehr an, als nur nach der Summe der einzelnen Teile.
Im Abgang
Bei Techno, besonders bei den aktuellen düsteren Spielarten, hört man häufig überlebensgroße Noise-Sounds und Pads mit Nachhallfahnen, die sich weit über den Horizont erstrecken. Im folgenden Beispiel haben wir eine verzerrte 909 (die 909 aus den Drum-Machines mit Pedal, einem der neuen Effekte in Live 10), einen Acid-Loop und ein herunter gepitchtes Sprachsample mit enorm langem Nachhall. Wenn man sie ganz nackt lässt, enden diese Bestandteile in einem ganz chaotischen Klangbrei:
Zwischen der Reverbwolke und dem Acid-Loop wird es einfach trübe. Die Drums wirken wie verschluckt und man hat das Gefühl, die Teile kämpfen gegeneinander.
Im nächsten Fall habe ich das gesamte Drumset als Sidechaining-Quelle für die anderen Teile verwendet. Das Schmatzen der Kick und die Snare setzen sich durch, ohne dass ihnen das vereinnahmende, beklemmende Gefühl zum Opfer fällt, das ich von dem Synth und der Reverbwolke haben will. Arbeiten Sie aber mit umfangreicheren Tracks, möchten Sie die Sounds womöglich mit mehr als nur mit einer Kick anschieben.
Ellenbogen raus
Im vorigen Beispiel hörten wir Teile gegeneinander ankämpfen. Sowas lässt sich mit Softwareinstrumenten wirklich am einfachsten beheben. Aber schwieriger wird die Sache, wenn Sie externe Instrumente in den Mix einbauen. Im Beispiel unten habe ich eine Pop-Rock-Skizze – hören Sie zu, was bei etwa 0:20 geschieht und dann wieder bei 0:40.
Mir gefällt der Klang bei 0:20, wenn die Akkorde dazukommen (erneut dank Pedal), aber sie übertünchen komplett das restliche Stück. Die Melodiegitarre, die bei 0:40 einsetzt, ist kaum zu hören! In diesem Fall will ich keinen besonders dramatisch pumpenden Effekt, aber ich muss definitiv die Akkorde davon abhalten, alles in Beschlag zu nehmen.
Wieder habe ich das gesamte Kit verwendet (was hier vor allem Kick und Snare meint, die sich am meisten durchsetzen, weil der Compressor auf Peak-Modus steht). Hier geht es um Sidechaining als Hilfsmittel und nicht als Effekt – Die Ergebnisse sind hier subtiler, aber ganz genauso essentiell. Der Mix ist noch immer nicht perfekt, denn die Melodiegitarre geht noch immer unter, aber die Drums wirken so viel lebendiger und der Track ist besser ausbalanciert. Außerdem habe ich es geschafft, den Bass ein bisschen aufzupeppen, indem er von der Kick in der Sidechain weggeschoben wird. So verhindere ich, dass sich die beiden Low-end-Elemente gegenseitig den Platz streitig machen.
Jenseits der Kompression
Bis hierher haben wir uns nur mit Kompression beschäftigt, aber auch andere Effekte in Live verfügen über Sidechains: Gate, Multiband Dynamics und Auto Filter. Kurzer Einstieg: Ein Gate ist ein umgekehrter Limiter. Statt laute Sounds leiser zu machen, macht er leise Sounds noch leiser.
Der Gate-Effekt in Live 10 senkt jedes Signal unterhalb des Threshold ab – wie stark abgesenkt wird, steuert man mit Floor, wobei es sich bei -inf dB um ein echtes Gate handelt. (Ansonsten haben wir es im Prinzip mit einem Expander zu tun, aber das bleibt unter uns.) Der Grundgedanke beim Sidechaining mit Gate lautet: Der Sound im Gate erklingt nur, wenn er von einem anderen Sound getriggert wird.
Im Hörbeispiel oben haben wir einen einfachen Techno-Loop und ein dichtes Pad, das durch ein Delay durchgeht (Echo, das neue Delay in Live 10). Schon ganz nett, aber es könnte etwas lebendiger klingen. Hören Sie nun, was geschieht, wenn wir zwischen das Pad und den Echo-Effekt ein Gate mit Sidechain setzen:
Dub-Techno aus dem Nichts! Der Schlüssel ist hier die richtige Platzierung – den Sound zu gaten verleiht ihm eine schöne Lebendigkeit und weil das Echo intakt bleibt, fühlt sich der Track gut ausgefüllt an.
Es ist gar nicht so schwer, den Dingen mithilfe einer Sidechain im Gate eine Linie zu geben. Hören Sie mal:
Der Track oben begann mit zufällig getriggerten Stimmsamples einer Jungle-Nummer. Das klang cool, aber in Verbindung mit dem Housebeat und der Bassline war das alles ein riesengroßes Gewimmel. Als später die Kick das Gate steuert, erhalten wir auf die Schnelle ein Stück Microhouse.
Es wird schräger
Nun haben wir von mehreren Möglichkeiten gehört, Sidechaining für recht gängige Effekte und Mixing-Probleme einzusetzen. Aber wie bei allem, was mit Ton zu tun hat, gibt es dazu auch ein experimentelles Gegenstück, dem Sie ebenfalls Beachtung schenken sollten. Der bereits in die Jahre gekommene Omnipressor von Eventide (1972) schrieb Geschichte: Durch eine Verzögerung des komprimierten Sidechain-Signals wurde die Look-Ahead-Funktion (dt. Vorausschau) erfunden. Aber auch der unheimlich schräge Dynamic-Reverser-Modus war neu. Kehrte man die Dynamik eines komprimierten Sidechain-Signals um, entstand aus einem Schlagzeug so etwas wie Percussion, die nach Luft schnappt. Solch ein Effekt ist unten zu hören.
Na, was ist denn hier los? Eine ganze Menge, soviel ist sicher. Da gibt es Sidechains, die von Spuren mit jeweils einer eigenen Sidechain stammen, geloopte Sidechains, die verschiedene Elemente durchkreuzen, Sidechains auf Filtern, Kompressoren und Gates – und wer weiß, wie dieser Sog aus Noise entstand. Der Punkt ist: Dieser Track war dazu da, neue Sounds auszutesten. Kein Sound war geplant, es ging bloß darum, eine Art Ökosystem aus Sidechains zu erschaffen, die bestimmte Sounds zum Leben zu erwecken, indem sie sich gegenseitig anspielen.
Es gibt wirklich unendlich viele Möglichkeiten, Sidechains in Live 10 zu nutzen. In diesem Hörbeispiel analysieren zwei Envelope Followers von Max for Live das Signal einer Kickdrum und steuern damit die Tonhöhe im Grain Delay. Nichts hält Sie davon ab, ein beliebiges Signal einem beliebigen Parameter zuzuweisen.
Vom bescheidenen Anfang als Hilfsmittel für Tonaufnahmen in Hollywood hin zur Unumgänglichkeit für modernen Dance und Hiphop, ist Sidechaining ein enorm vielseitiges Mittel.