Sidechain-Kompression, Teil 1: Prinzip und Geschichte
Von Pop und Hiphop über Sounddesign bis hin zu wummerndem Techno – Sidechaining ist für zeitgemäße Musikproduktionen ein grundlegendes Werkzeug. Selbst wenn Sie glauben, es nicht zu kennen, gehört haben Sie es schon einmal: Es ist der pumpende Sound, wenn die Bassdrum angeschlagen wird und alles andere ihr Platz macht. In dieser Serie reist David Abravanel mit uns durch die Geschichte und Praxis des Sidechaining, inklusive Tipps zum Ausprobieren.
Kompression kompakt
Den Dynamikumfang zu komprimieren, ist inzwischen so selbstverständlich, dass es nahezu Neuigkeitswert hat, einen Schritt zurück zu treten und zu schauen, wie es dazu kam. In den Anfängen der Aufnahmetechnik, vor Mehrspurgeräten oder gar DAWs, wurde immer live aufgenommen. Die einzig mögliche Nachbearbeitung war, einen neuen Take aufzunehmen. Das anspruchsvollste aller Instrumente ist die menschliche Stimme, da sind konsistente Gesangsaufnahmen schwer herzustellen: Vokalisten müssen den richtigen Abstand zum aufgestellten Mikrophon einhalten und auf die Lautheit achten – beides Dinge, die einer lebendigen Performance entgegenstehen. Kombiniert man den großen Dynamikumfang (den Unterschied zwischen ganz lauten und ganz leisen Sounds) von brillanten Sängern mit einem stark rauschenden Trägermedium wie Vinyl oder Tonband, erhält man völlig unbrauchbare Takes.
Hinein damit in den Kompressor. Indem er laute Klänge leiser macht, erlaubt der Kompressor einem Produzenten, den Pegel einer Spur anzuheben und gleichzeitig den Dynamikumfang zu begrenzen.
Wenn Kompression neu für Sie ist oder Sie Ihr Wissen auffrischen wollen, gibt es hier die Schlüsselbegriffe.
•Threshold – der Schwellenwert. Alle Sounds oberhalb dieser Lautstärke werden abhängig von der sog. Ratio abgeschwächt, während die Sounds unterhalb unverändert bleiben.
•Ratio – wie stark Signale oberhalb des Threshold abgeschwächt werden. Beim Verhältnis 2:1 wird ein Signal mit 2 dB oberhalb des Threshold um 1 dB abgesenkt. bei einer Ratio von 10:1 verliert das gleiche Signal 1,8 dB an Pegel. Ein Kompressor mit einer Ratio von Unendlich:1 ist ein Limiter, d.h. das Signal steigt niemals über diesen Wert.
•Peak / RMS – auf welche Weise der Kompressor die Lautstärke des Eingangssignals misst. Während RMS (root mean square, dt. quadratisches Mittel) für die allgemeine Lautheit steht, reagiert Peak unmittelbar auf laute Spitzenwerte im Verlauf. Bei den Reglern in Live 10 erscheint Peak dunkelgrün und RMS hellgrün.
•Knee – in welcher Form die Kompression eingreift. Ein ganz „hartes Knee“ geht mit dem Threshold für die Kompression übergangslos wie ein Ein-Aus-Schalter um, während ein „weiches Knee“ in die Kompression überblendet. Somit werden Signale auch knapp unterhalb des Threshold sanft abgeschwächt, während die vollständige Ratio erst oberhalb des Threshold erreicht wird. Den Verlauf des Knee können Sie ablesen, wenn Sie im Live-10-Compressor die Kennlinienansicht wählen.
So wurde also die Kompression geboren und zum ersten Mal konnte man den Dynamikumfang zähmen. Bemerkenswert ist, dass die frühen Kompressoren ihre kleinen Makel aufwiesen – von denen heutzutage einige hoch gerühmt werden, die aber für passgenaue Anwendungen unbrauchbar sind. Der Teletronix LA-2A etwa verfügt über keine steuerbare Ratio und der Fairchild 670 erzeugt nichtlineare Verzerrungen. Wenn Sie beim Komprimieren auf diesen Hauch von Nostalgie aus sind, bietet Live 10 Ihnen den Glue Compressor, als komponentengerechten Nachbau des legendären analogen Bus-Kompressors von Solid State Logic.
Ssssssidechain
Vielleicht schockiert es Sie zu erfahren, dass die ursprüngliche Sidechain-Kompression in den 1930ern nicht gerade auf französischen Filter-House ausgelegt war. Vielmehr fing alles mit dem Tontechniker Douglas Shearer an, der einen Weg suchte, die Sibilanz (störende Zischlaute) bei Filmdialogen einzudämmen. So entstand Sidechaining. Shearer erfand einen Kompressor mit einem weiteren, vom Hauptsignal getrennten Steuerzweig, der vom bearbeiteten Signal gespeist wurde und versah ihn mit einem EQ – Statt das Eingangssignal gleichmäßig zu komprimieren, sprach dieser De-Esser nur an, wenn übermäßige Sibilanten auftraten.
Bei herkömmlicher Kompression spricht das Signal auf seinen eigenen Trigger an, d.h. je lauter es wird desto mehr wird komprimiert. Sidechaining dagegen nutzt zum Steuern ein fremdes Signal oder eine bearbeitete Version des Originals.
In den ersten Jahrzehnten nach der Erfindung des Sidechaining setzte man es vor allem als Voiceover-Effekt ein. Wenn z.B. ein Song an Pegel verliert, während der Radiomoderator spricht oder die Musik im Supermarkt bei einer Durchsage leiser wird – das ist Sidechaining in Aktion. Im Prinzip handelt es sich um einen speziellen Sidechaining-Effekt, nämlich Ducking: Das geschieht, wenn sich ein Signal abhängig vom Pegel eines anderen Signal reduziert.
Tsch-BUMM-sching
Die Musikgeschichte des Sidechaining bliebe ohne einen kurzen Abstecher zur Überkompression unvollständig. Sidechaining ist nämlich nicht der einzige Weg hin zu Ducking-Effekten – Komprimiert man ein Signal stark genug, hört man, wie bestimmte Elemente den geringen Dynamikumfang so stark dominieren, dass andere Instrumente wie stummgeschaltet wirken. Im Jahr 1966 ließ der psychedelische Song „Tomorrow Never Knows“ den Bekanntheitsgrad der Beatles förmlich explodieren. Aber während Johns spiritueller Text und Pauls wilde Tapeloops die meiste Anerkennung ernteten, war es Ringos Schlagzeugspiel, vom Toningenieur Geoff Emerick flach wie ein Pfannkuchen komprimiert, das zukunftsweisend für den Drumsound war. Lauschen Sie dem white-noiseartigen Zischen der Becken, wie es vom Schlag der Kick und Snare abgeschnitten wird.
Solch ein überkomprimierter Sound wurde zum Markenzeichen von Rock’n’Roll und Funk und brachte die Idee hervor, Kompression nicht nur als Hilfs-, sondern auch als Stilmittel zu verwenden.
Zu guter Letzt French Touch
Wenn Ihnen Sidechaining bereits ein Begriff ist, haben Sie wahrscheinlich geduldig gewartet, bis dieser Artikel auf den pumpenden Sound von French Touch zu sprechen kommt. Zusammengesetzt aus Samples von Vintage-Funk und Popsongs, die durch Filter und Phaser geschickt werden, verwandelt Sidechaining dort gesampelte Musik in etwas Neues. Wenn Sie ein Sample haben, das im Mix herausstechen soll, aber gleichzeitig möchten, dass die Bassdrum Ihrer Drummachine deutlich zu hören bleibt, ist Sidechaining das Mittel der Wahl – Und so wenden Daft Punk diesen Prozess auf ein Sample von „Hot Shot“ von Karen Young an:
Daft Punk und Kollegen, etwa Motorbass und Cassius, erschufen mit diesem Stil ein Gute-Laune-Monster, woraus pumpende Hits wie „Call On Me“ von Eric Prydz entstanden. Wenn es um French Touch geht, regiert die Kickdrum. Mit solchen extremen Parametereinstellungen (niedriger Threshold und große Ratio) können Sie Synths und Samples sorglos übereinander schichten, ohne dass die Kickdrum sich in einem Klangbrei verliert.
An dieser Stelle sollte erwähnt sein: Ungeachtet aller Legenden über teure Geräte verließen sich Daft Punk auf ihren ersten beiden Klassikeralben Homework und Discovery in Sachen Schubkraft auf den erschwinglichen Kompressor Alesis 3630. Es kommt eben wirklich darauf an, was man aus dem macht, was man hat!
Fette Beats
In den 90ern traten Samplingpioniere hervor, die für fettere Tracks ausgiebig neue Geräte nutzten. Während es sich bei frühem Hiphop um Livebands drehte, die auf ihren Instrumenten Funk spielten und Mitte der 80er Experten für angejazzte Loops wie Prince Paul von Stetsasonic oder konsequente Minimalisten wie Rick Rubin populär waren, entstand in den 90ern mehr Diversität, klaustrophobisch pochende Beats inbegriffen. Doch niemand hat auf pumpenden Hiphop soviel Enfluss genommen wie J Dilla.
Zeit seines tragisch kurzen Lebens meisterte J Dilla die Kunst souliger Beats, die aus den Lautsprechern zu platzen scheinen. Sidechaining war womöglich der Lieblingstrick aus seinem Technikfuhrpark, gepaart mit offensichtlicher Überkompression. Daraus entstanden Samples, so dermaßen butterweich von den Kicks weggedrückt, dass es kaum jemand nachmachen kann (obwohl J Dillas Freund und Kollege Madlib ziemlich nah ran kommt).
In den 00er Jahren war J Dillas Einfluss direkt spürbar, als eine neue Generation von Beatmakern aus dem Rahmen fiel.
In FlyLos Track oben drückt die Bassdrum alles weg – sogar den Gesang und schneidet ihm dadurch die Wörter ab. Sidechaining ist hier kein Effekt, sondern eine künstlerische Entscheidung, um Erwartungen zu unterhöhlen und das Stück atmen zu lassen. Sogar die Kick selbst scheint verschluckt worden zu sein, was suggeriert, dass FlyLo eine Sidechain auf den Masterkanal gelegt hat – ein unorthodoxer, aber hocheffizienter Schachzug.
Schräger, härter
Sobald sich ein Effekt etabliert hat, ist es bloß eine Frage der Zeit, bis ihn jemand zweckentfremdet und auf eine neue Ebene hebt (vgl. Auto-Tune und Cher). In Sachen Sidechaining dauerte das nicht lange – Und jetzt versuchen Sie einmal, bei diesen Orgeln in Autechres Track von 2001 nicht zu hyperventilieren.
Ebenso fanden Künstler wie Amon Tobin,Andy StottundEmptyset neue Möglichkeiten, ihre Tracks mittels Sidechain-Kompression atmen zu lassen. Noch weiter ging der britische Produzent Actress, als er sich fragte, was passiert, wenn man eine Spur kräftig mit einer Kickdrum in der Sidechain steuert und dann die Kick selber aus dem Endprodukt entfernt.
Nicht zu vergessen sind Musiker wie Surgeon, Audion und Paula Temple, die das fauchende „ch“ in Techno einbrachten, indem sie einen Sog aus Noise-Effekten erzeugten, angesteuert von wummernden Industrial-Kicks und Percussion in der Sidechain.
Pop in der Sidechain
Als die 10er Jahre die Kreuzbestäubung zwischen verschiedenen Popgenres in Gang setzten, war es unausweichlich, dass Sidechaining über EDM und Hiphop hinaus mit dem Mainstream verwuchs. Von Araabmuziks Anlehnung an Deadmau5 & Kaskade über Clams Casino & Soulja Boy bis hin zu Randbereichen des Lofi-Rap wie JPEGMAFIA gilt: Sidechaining ist in der Musiksprache 2018 genauso weit verbreitet wie die menschliche Stimme.
Warum ist Sidechaining so populär? Die einfach Antwort heißt „Lautheit und Rechenleistung“. Wenn Sie an den Beginn der digitalen Aufnahmetechnik zurückdenken, musste man Instrumente jeweils einzeln einspielen. Außerdem vertrugen die frühen Computer, die überhaupt Audio generieren konnten, nicht allzu viele Tracks oder Effekte – zehn üppige Synths übereinander zu schichten, war einfach keine Option. Heute kann man mit jedem beliebigen Laptop ein Maximum an Sound herausholen, der das THX-Soundlogo vor Neid erblassen ließe … das Ganze selbstverständlich angeschoben von einer fetten Kick.
Genau wie andere Bestandteile des musikalischen Vokabulars, drückt Sidechaining etwas Bestimmtes aus – ob das nun Druck, Beklemmung, der Vibe eines Soundsystems im Club oder das Spiel mit einer psychoakustischen Erwartungshaltung ist. In Teil 2 dieser Abhandlung werden wir uns einige Standardverfahren für Sidechains sowie echt experimentelle Ideen anschauen.
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