Shima: Komplett autonom
Die umfassende kreative Verantwortung für die eigene Musik zu haben: Wie wichtig ist das? Die japanisch-amerikanische Sängerin, Produzentin und Tontechnikerin Tina Johnson alias Shima hatte ihre Antwort darauf irgendwann gefunden – und gab eine vielversprechende Popmusik-Karriere auf, um noch einmal ganz von vorne anzufangen. Heute hat Shima die volle Kontrolle über alle Entstehungsphasen ihrer schillernden und modernen Synth-Pop-Tracks: vom Komponieren und Aufnehmen bis zum Produzieren, Mixen und Mastern.
Doch das war nicht immer so. Shima wurde als 14-Jährige von dem japanischen Unterhaltungskonzern Avex entdeckt, der einen Talentscout an ihre internationale Schule in Tokio geschickt hatte, um zweisprachige Sängerinnen für eine neue Girlgroup ausfindig zu machen. Für einen Teenager mit Popstar-Ambitionen mag diese Chance wie ein goldenes Ticket erscheinen. Für Shima war es allerdings nur ein erster Schritt auf dem Weg zu völliger kreativer Autonomie.
„Ich habe nicht danach gesucht“, sagt Johnson in ihrem Homestudio in Los Angeles. „In den ersten Jahren war ich in einem Ausbildungsprogramm und hatte jedes Wochenende Gesangs- und Tanzunterricht. Damals wusste ich noch gar nicht, dass geplant war, mich in eine Girlgroup zu stecken.“
Mit 16 kam sie zu FAKY, einer fünfköpfigen Gruppe, die zu ihrem Vollzeitjob wurde – mit 30 Arbeitsstunden pro Woche, zusätzlich zum regulären Unterricht und dem Hausaufgabenpensum einer Gymnasiastin. Die Arbeitsbelastung war hoch und Johnson musste schnell lernen, mit ihrem Stresslevel umzugehen. Abgesehen von den gesangstechnischen und tänzerischen Fähigkeiten nahm sie aus ihrer Zeit in der Girlgroup zwei weitere wichtige Skills mit: Disziplin und Arbeitsmoral. „Ganz einfache Dinge – zum Beispiel, immer zehn Minuten zu früh zu erscheinen. Mich bei Geschäftstreffen angemessen zu kleiden, immer vorzeigbar, professionell und pünktlich zu sein.“
Diese Lektionen möchte die Künstlerin heute nicht missen. Die Welt der konfektionierten Popmusik kann jedoch für eine junge Musikerin, die sich zunehmend für das Komponieren eigener Musik interessiert, ein schwieriges Umfeld sein. Damals produzierte Shima bereits Beats auf dem Laptop, inspiriert von Künstler:innen wie Flying Lotus und Crystal Castles. „Natürlich hatte ich keinen Einfluss auf die Beats, die Produktion oder andere Aspekte der Musik von FAKY."
„Normalerweise sind die meisten dieser J-Pop- oder K-Pop-Gruppen – von Größen wie BTS mal abgesehen – nicht an der kreativen Arbeit beteiligt“, sagt Johnson. Mit der Zeit wuchs ihre Frustration über den mangelnden Einfluss auf die Musikproduktion, und irgendwann war die Kluft zwischen ihrer Arbeit mit FAKY und dem eigenen musikalischen Projekt nicht mehr zu überbrücken. „Ich konnte mich selbst nicht mehr ernst nehmen und habe das damals verheimlicht – aus Angst, ausgelacht zu werden.“
Spurwechsel
Als der Termin für die College-Bewerbung näher rückte, beschloss Johnson: Wenn sie in der Musikbranche bleiben wollte, dann nur zu ihren eigenen Bedingungen. Sie entschied sich dazu, Avex und FAKY hinter sich zu lassen und für ein Tontechnik-Studium nach Miami zu ziehen. Der Studiengang, bestehend aus Kursen zu Coding, Physik, Elektronik und Schaltkreistheorie, tauchte in einigen Bereichen tiefer in die Materie ein, als sie erwartet hatte. Anstatt zu lernen, wie man Musik macht, musste sich Johnson plötzlich mit der Entwicklung musikalischer Tools auseinandersetzen. „Zuerst dachte ich: Warum muss ich das lernen? Ich will nur Produzentin sein, keine Software-Entwicklerin – oder Mechanikerin.“
Je mehr sie jedoch lernte, desto mehr Spaß machte ihr die Arbeit hinter den Kulissen von Musiksoftware. „Ich bin ein Mensch, der die Herausforderung sucht und meistern will“, sagt sie. Verlockend waren auch die Stabilität und Einstiegsgehälter einer Programmiererinnen-Karriere. Nach ihrem Abschluss nahm sie schließlich einen Vollzeitjob als Entwicklerin bei „Output” an, einem Unternehmen, das auf Software-Instrumente spezialisiert ist.
Während Johnson ihre neue Karriere vorantrieb, ging ihr musikalisches Schaffen im Hintergrund weiter. Schließlich wurde sie – zum zweiten Mal in weniger als einem Jahrzehnt – unverhofft von jemandem entdeckt, der sie als Künstlerin managen wollte. Der Kontakt kam über Tracks zustande, die sie eigenhändig auf Spotify veröffentlicht hatte – eine erfreuliche Überraschung, angesichts der eher überschaubaren Klickzahlen, die sie mit ihrer Musik bis dahin gesammelt hatte.
„Er war der Meinung, dass ich ausschließlich als Künstlerin arbeiten sollte – und genau das wollte ich über die Musik hören, die ich gemacht und veröffentlicht hatte. Grund genug für mich, meinen Software-Job an den Nagel zu hängen und mich ganz der Musik zu widmen.“
Ab jetzt DIY.
Mit einem DIY-Ansatz zu starten, brachte viele neue Herausforderungen mit sich. Ihr neues Management war deutlich unkomplizierter als das, das sie bei Avex kennengelernt hatte. „Anstatt dieser 30-köpfigen Firmenmaschine – mit PR- und Marketing-Team, dazu noch fünf Manager – waren da nur noch ich und mein Laptop. Ich machte alles selbst.“ Bald konnte Johnson nicht nur ihre eigene Musik komponieren, aufnehmen, produzieren, mixen und mastern, sondern auch mit Photoshop, Illustrator und Premiere Pro umgehen. Sie entwarf ihr eigenes Logo, beauftragte jemanden mit der Gestaltung des Covers und legte die Veröffentlichungstermine selbst fest: „Ich hatte die volle Kontrolle über alles.“
Diese Phase der kreativen Freiheit trug auch zu einer Schärfung von Johnsons musikalischer Ästhetik bei, es gelang ihr, aus einer Vielzahl von Einflüssen einen eigenen Sound herauszuarbeiten. „In welcher Stilrichtung ich am Ende landen würde, wusste ich am Anfang noch nicht. Also habe ich alles ausprobiert. Jedes Mal, wenn ich ein neues Projekt startete, war es komplett leer. Aber jetzt, wo ich mit allen möglichen Genres experimentiert habe – von Pop über Hip-Hop und House bis hin zu Bass Music – habe ich ein besseres Gespür dafür entwickelt.“
This is not a love song
Die Musik von Shima ist kurzweilig, optimistisch und farbenfroh, und ihre Veröffentlichungen strahlen das Selbstvertrauen der Künstlerin aus, die von einer rücksichtslosen Geschäftswelt verschluckt wurde und es irgendwie lebend heraus geschafft hat. Thematisch komponiert sie nach nur einer Regel: keine Songs über Liebe, Romantik oder Trennung.
„Ich habe einfach das Gefühl, dass 99,9 % der Songs um diese Themen kreisen“, sagt Johnson. „Für mich hat die Welt genug Songs über Liebe und Trennung hervorgebracht. Deswegen habe ich mir da eine Grenze gesetzt. Es ist ziemlich schwierig, Songs zu komponieren, die nichts mit Liebe oder Trennung zu tun haben. Denn was bleibt übrig? Viele Hip-Hop- und Rap-Songs, die sehr politisch sind und sozialen Wandel oder soziale Gerechtigkeit thematisieren. Und dann sind da noch die Songs, die von Freundschaft oder Motivation handeln. Das hört sich jetzt vielleicht kitschig an, aber meine Musik soll für andere Menschen auf irgendeine Art und Weise bedeutungsvoll oder nützlich sein.“
Damit das gelingt, muss Johnson dafür sorgen, dass ihre Songs verstanden werden. In ihren Songtexten wechselt sie mühelos zwischen Englisch und Japanisch – mit einer Leichtigkeit, die auf ihre zweisprachige Erziehung verweist. „Mein einer Elternteil spricht eigentlich nur Japanisch, und mein anderer fast nur Englisch. Ein großer Teil meiner Identität dreht sich darum, halb Japanerin und halb Amerikanerin zu sein. Wenn ich möchte, dass meine Freund:innen und meine Familie meine Musik verstehen, muss sie einfach zweisprachig sein.“
Inhalte produzieren
Ein weiterer Bereich ihrer Arbeit, den Johnson sowohl für ein japanisches als auch für ein englischsprachiges Publikum zugänglich macht, sind ihre Social-Media-Inhalte. Sie gesteht, anfangs über die Bedeutung überrascht gewesen zu sein, die derartige Plattformen für ihre Arbeit einnehmen. „Ich denke, viele Künstler:innen leugnen immer noch, dass man heutzutage, wenn man in der Musik erfolgreich sein will, auch Social-Media-Kenntnisse haben muss.“
Shimas Online-Präsenz wendet sich entschieden gegen Gatekeeping. Sie nutzt soziale Plattformen, um Veröffentlichungen anzukündigen und Push-Videos zu teilen - Wissen in leicht verdaulicher und ansprechender Form. Sie legt großen Wert darauf, die Dinge so leicht verständlich wie möglich zu halten. „Ich möchte junge Frauen erreichen, die ins Produzieren einsteigen wollen, sich aber vielleicht nicht trauen. Denn so ging es mir am Anfang auch. Ich war so unsicher, dass ich niemandem meine Musik vorspielen wollte. Und wenn ich diese kleinen Videos mache und es nicht zu kompliziert aussehen lasse, kann ich mehr junge Leute dazu ermutigen, sich damit zu beschäftigen.“
Um die Illusion von Einfachheit zu erzeugen, bedarf es natürlich großer Raffinesse. „Im Video lasse ich alles ganz einfach aussehen. Was man aber zum Beispiel nicht sieht, sind die zwei Stunden, in denen ich auf ein leeres Projekt starre und denke: Keine Ahnung, wie ich anfangen soll. Das stupide Scrollen durch Samples, um die richtige Snare zu finden. Oder das akribische Cueing, das stundenlange Mixen und die vielen A/B-Vergleiche.“
Mit der Videobearbeitung kann die Produktion eines einminütigen Clips dann schon mal einen ganzen Tag dauern. Doch Shima ist überzeugt, dass sich die Arbeit am Ende lohnt. Natürlich hat sie davon neben der reinen Freude am Teilen von Wissen noch weitere Vorteile, etwa kostenlose Plug-ins und Equipment zum Ausprobieren. Sie sieht darin jedoch auch eine Möglichkeit, sich als ernstzunehmende Akteurin in der Branche zu beweisen.
„Viele Leute glauben, dass man einen Freund braucht – jemanden, der das alles für einen erledigt“, sagt Shima. „Mir ist klar, dass man Produzenten und vor allem Produzentinnen oft nicht zutraut, dass sie das alles alleine machen, wenn man sie nicht dabei beobachten kann. Aber wenn mich die Leute auf ihren Handy- und Computer-Displays bei der Arbeit sehen, dann haben sie dieses Bild von mir als Produzentin.“
Shimas Videos haben noch einen weiteren Vorteil: Sie motivieren dazu, bei der Arbeit am Projekt Ordnung zu halten. „Das hat mich dazu gebracht, alles mit Farben zu markieren, die Spuren zu benennen und alles sinnvoll anzuordnen“, sagt sie. Diese Vorgehensweise ist mittlerweile zur Routine geworden und macht es Shima viel leichter, mit etwas Neuem zu beginnen, das zu ihrem Sound passt. „Ich habe viele eigene Racks und Presets für meine Synth-Plug-ins, das beschleunigt meine Arbeit enorm.“
Tipps und Tricks für die Produktion
Shima ermutigt alle, die ihren individuellen Stil verfolgen wollen, es ihr gleichzutun. „Drum-Racks, Effekt-Racks und Presets: immer sichern! Auch wenn du ein vorgefertigtes Preset verwendest, das du modifiziert hast. So entwickelst du einen eigenen Sound mit Wiedererkennungswert.“
Ein weiterer Tipp, insbesondere für alle, die zu Hause oder unter ungünstigen akustischen Bedingungen an ihrer Musik arbeiten, ist SoundID von Sonarworks – eine Software, mit der man eigene Musik mit einem Referenztrack vergleichen kann. „Ich habe keine spezielle Hardware und auch keine besonderen raumakustischen Maßnahmen in meinem Studio. Aber mit SoundID lässt sich der Frequenzgang überprüfen – nicht nur mit den Ohren, sondern auch visuell.”
Um Inspiration zu finden oder kreative Blockaden zu überwinden, sollte man nicht vergessen, die Musik von Anderen zu hören. „Lege eine zufällige Playlist an, oder finde heraus, was deine Freund:innen gerade so hören. Es wird nicht länger als fünf Minuten dauern, bis die Inspiration wieder da ist. Tauch ein und lass dich inspirieren!“