Shida Shahabi: Viele Wege führen zum Film
Musiker:innen ziehen häufig Inspiration aus anderen Medien; kreative Abwege, so ziellos sie auch scheinen mögen, offenbaren ihren Sinn oft erst im Rückblick. Dies trifft auch auf Shida Shahabi zu: Die Karriere der Musikerin und Filmkomponistin gewann durch zahlreiche andere Disziplinen an Form, wie die bildende Kunst, die Bildhauerei und das Kino.
„Ich hatte verschiedene Phasen”, erzählt die Künstlerin. „Als Kind habe ich Klavier gelernt. Irgendwann habe ich dann die Motivation für die Musik verloren und bildende Kunst studiert. Das war für mich ein guter Ort für Experimente mit unterschiedlichen Methoden und Materialien. Meine Professorin meinte aber irgendwann: Ich glaube, dass du immer noch an der Musik hängst, und deine eigene Beziehung dazu findest. Ich glaube, sie hatte Recht.”
Während ihres Studiums am Swedish Royal Institute of Art arbeitete Shahabi als Verlags-Assistentin. Hier gewann sie die Erfahrung und das Selbstvertrauen, um eigene Kunstfilme zu produzieren. Sie realisierte schrittweise, dass Sound sie noch immer anzog, und wandte sich skulpturalen Arbeiten und Soundinstallations-Projekten zu. Letztlich zur Musik zurückgekehrt, beschloss Shahabi, ihre Praxis zu entschlacken und auf ihre Wurzeln zurückzuführen. Das Resultat war ihr 2018 erschienenes Debütalbum Homes – eine weithin positiv rezipierte Sammlung an intim aufgenommenen Piano-Solos.
„Für Homes wollte ich etwas für Klavierwerke untypisches machen. Ich habe mein 100 Jahre altes Klavier gespielt, das vom schwedischen Klavierbauer J.G. Malmsjö gebaut wurde. Meines Erachtens trugen das Alter und der suboptimale Zustand des Klaviers wesentlich dazu bei, dass das Album so klingt, wie es klingt. Ich mag die detaillierten und nahen mechanischen Sounds. Die wurden zum Kern des ganzen Albums. Meine Methode ähnelte dem Prozess von Field-Recordings: Wir haben ein paar Mikrofone sehr nah an die Hämmer gestellt, ein paar unter die Klaviatur und ein paar an die Rückseite des Klaviers. Beim Bearbeiten und Produzieren der Tracks sind wir alle Aufnahmen durchgegangen. Am Ende haben wir nicht alle davon genutzt, sondern nur die, die spannend klangen und beim Hören unsere Neugier geweckt haben.”
“Ich habe Beethoven langsamer, düsterer und meditativer gemacht.”
Shahabis 2021 erschienenes Rework von Beethovens Klavier-Sonate No. 26 zeichnet sich durch eine ähnliche Gründlichkeit und Detailverliebtheit aus. Die Rekomposition mit dem Namen „Cloud No. 26” basiert auf Auszügen des originalen Stücks, mit geloopten Phrasen und erweiterten Akkorden. „Als ich gefragt wurde, ob ich das machen will, hat mir das erstmal ein bisschen Angst eingeflößt; schließlich ist es eine sensible Angelegenheit, einen der größten Komponisten aller Zeiten zu re-komponieren. Ich wollte in das Stück reinzoomen, weil es relativ lang ist, und wollte die Melodien variieren. Wie eine Audio-Datei, die in der Zeit gedehnt ist. Interessante Teile habe ich rausgenommen und zu Ambiences oder Drones auseinandergezogen. Das habe ich dann mit anderen Phrasen kombiniert, die mich beim Hören des Originals irgendwie berührt haben. Ich habe Beethoven langsamer, düsterer und meditativer gemacht.”
Shahabi beschreibt ihre bisherigen Releases als in großen Teilen „relativ akustisch”; durch Projekte als Filmmusik-Komponistin entdeckte sie schließlich eher am Sounddesign orientierte Arbeitsweisen. Für Maria Eriksson-Hechts Kurzfilm „Alvaret” entfernte sie sich vom Klavier und entschied sich für eine Performance mit Synths, einer Bariton-Gitarre und Linnea Olsson am Cello.
Im Mittelpunkt von „Alvaret” steht ein junges Mädchen und dessen Versuch, ihrem Vater nach dem Unfalltod ihrer Mutter wieder auf die Beine zu helfen. Shahabis melancholische und eindringliche Musik spiegelt die Erfahrung der Figuren, an Orten des Schmerzes erneut mit ihren Traumata konfrontiert zu werden.
„Was mir sofort auffiel, war die co-abhängige Beziehung zwischen dem Vater und seiner Tochter Alice. Nach dem Unfall erleidet der Vater eine tiefe Depression, und Alice beginnt, sich um ihn zu kümmern. Sie wollen dem Amt beweisen, dass er nicht dysfunktional ist, weil sie zusammenbleiben wollen. Alice ist ein sehr starker Charakter, manchmal kriegt man aber auch ein bisschen Angst vor ihr. Das wollte ich in der Musik einfangen. Außerdem spielt der Film in Ödland, wo die Landschaft ziemlich trocken und flach ist, visuell sehr ansprechend und charakteristisch. Das hat mein Schreiben unbewusst ebenfalls beeinflusst. Der kurze Film ist so verdichtet und so düster; man zieht viel aus den paar Minuten.”
Shahabis Musik für Lake on Fire von Jennifer Rainsford spiegelt die außergewöhnliche Welt eines Waldes, der von einer künstlichen Intelligenz entwickelt wurde. Der Wald macht Geräusche, er spricht und ändert die Farbe, Menschen suchen bei ihm Antworten auf persönliche Fragen. „Jennifer und ich unterhielten uns viel darüber, wie die AI klingen sollte”, erzählt Shahabi. „Wir waren sehr auf diesen einen Baum fixiert, das Zentrum der AI. Jennifer hörte sowas wie eine Orgel und ich dachte dann über Fugen in der klassischen Musik nach. Fugen sind eine kompositorische Methode, in der Regel für Orgeln oder Klavier. Der Meister der Fuge war Johann Sebastian Bach. Ich fand es spannend, mich darin zu versuchen, gleichzeitig war das aber auch das Gegenteil davon, wie ich sonst arbeite. Fugen haben ein sehr logisches Muster, sind sehr repetitiv und mathematisch – und ich bin richtig schlecht in Mathe.”
Die kollaborativen Dynamiken der Filmmusik-Komposition stellte Shahabi vor andere Herausforderungen als ihre vergleichsweise einsamen Arbeiten für andere Releases. An Filmmusik zu arbeiten bedeutet immer, dass mindestens eine weitere Person am Ende zufrieden sein muss – gar nicht so einfach für Solo-Künstler:innen, die normalerweise ganz für sich arbeiten. „Ich hatte wohl das Glück, dass die Regisseur:innen, mit denen ich bisher gearbeitet habe, Interesse an meiner Musik hatten”, sagt Shahabi. „Ich wurde nie dazu gezwungen, irgendetwas zu tun, was sich für mich nicht natürlich angefühlt hätte. Regisseur:innen äußern sich in der Regel eher zu technischen Sachen, wie zu einem bestimmten Cue in einer Szene. Aber manchmal muss man auch richtig viele eigene Favoriten abschießen – das kann schwierig sein. Trotzdem, das ist eben das Ding an kollaborativen Prozessen und Teamarbeit: Es gibt viel mehr Parameter und Medien, denen man Raum geben muss.”
Film-Komponist:innen müssen ein Drehbuch oder ein Exposé von verschiedenen Momenten des Produktionszyklus ausgehend interpretieren. Die kreative Strategie Shahabis besteht meist in einem nichtlinearen Prozess, der während der Phase des Drehbuch-Schreibens beginnt. „Normalerweise gibt es irgendeinen Part im Drehbuch, der mich neugierig macht. Der ist nie am Anfang oder am Ende, sondern irgendwo in der Mitte. Vielleicht eine Figur oder eine Beziehung. Es kann irgendwas generelles sein, das sich durch die ganze Geschichte zieht. Oder etwas ganz spezielles, das in mir auslöst, dass ich darüber schreiben will. Und normalerweise wird das dann zum Grundstein der kompletten Musik. Wenn dann einmal alles gedreht ist, wird die Musik ein bisschen weiter arrangiert. Denn natürlich werde ich vom Ton der Bilder beeinflusst, und vom Ausdruck der Figuren.”
“Oliveros Ideen, das Zuhören zur kompositorischen Methode zu machen, werden mich für den Rest meines kreativen Lebens begleiten.”
Die Technologie hat in Shahabis Arbeiten eine sehr subtile Präsenz, ist jedoch erstaunlich prägend für ihre kompositorischen Methoden. Während ihrer frühesten Vorstöße in die Welt der Musikproduktion lud sie zufällige Field-Recordings in Sampler und hörte sich jeden Frequenzbereich an, um nach spannenden Texturen zu suchen. „Ich arbeite viel mit EQs, um bestimmte Frequenzen zu isolieren, und nutze dann granulare Modulationen. Ich packe auch gern Feedback auf Delays, um mit Reverb Drones zu erzeugen. Manchmal spiele ich nur wenige Noten. Wenn ich dann ein paar Effekte und Plug-ins hinzugefügt habe, wird daraus etwas, was ich selbst nicht so kreiert hätte. Man braucht solche Überraschungen, wenn man Musik macht. Das formt das Gehirn und das Zuhören, und das kann wichtig sein. Denn man kann seiner eigenen Sprache müde werden, und auch der Sachen, die man standardmäßig sonst machen würde.”
Shahabi erzählt, dass sie Klavierstücke als Kind am liebsten nach Gehör aussuchte, und dass das Zuhören im Laufe der Jahre zu einem wichtigen kreativen Tool wurde. Ein Name, der in diesem Kontext häufig auftaucht, ist Pauline Oliveros mit ihrer Philosophie des tiefen Zuhörens. „Ich erinnere mich noch, wie ich ihre klanglichen Meditation und ihre Deep-Listening-Methoden kennengelernt habe. Die hatten wirklich Einfluss auf mich, und sind in verschiedenen Phasen meiner eigenen Projekte aufgetaucht. Oliveros Ideen, das Zuhören zur kompositorischen Methode zu machen, werden mich für den Rest meines kreativen Lebens begleiten.”
Ihr Werdensprozess als aktive Musikerin ging für Shahabi weit über technische und handwerkliche Aspekte hinaus. Der Prozess erfordert ein ganzheitliches Mindset und eine gesunde Beziehung mit allen Seiten des Lebens. Sie zitiert den besten bisher erhaltenen Ratschlag: einen einfachen Reminder, gesund zu bleiben.
„Man muss in einem bestimmten körperlichen Zustand sein, um Musik irgendwie bedeutsam aufnehmen und produzieren zu können. Es ist wichtig, ab und an einen langsamen Tag einzulegen. Zu versuchen, gegenwärtig zu bleiben, weil alles untereinander verbunden ist. Wenn es einem nicht gut geht, oder man überall Kompromisse eingeht, nur damit das Leben als Künstler:in läuft, dann ist das kein besonders gutes Rezept.”
Gegenwärtig arbeitet Shahabi an einem Stück für die schwedische Tanzgruppe Cullberg Ballet. Außerdem bereitet sie sich auf einige Live-Performances for und konzentriert sich auf die Produktion ihres zweiten Albums. „Es läuft alles ein bisschen orchestrierter und arrangierter als beim ersten Album. Mir macht das richtig Spaß, aber es nimmt auch ziemlich Form an, jetzt, wo ich mich der Mixing-Phase nähere. An dem Punkt werde ich oft ein bisschen nervös, weil man von da an nicht mehr so viel ändern kann – man fängt an, sich festzulegen. Das ist aber auch ein besonderes Gefühl.”
Mehr zu Shida Shahabi gibt es auf Facebook, Instagram und Bandcamp
Text und Interview von Joseph Joyce
Fotos von Märta Thisner
Dieser Artikel entstand in Kooperation mit dem Composer Magazine. Zu deren Version geht es hier.