Shapednoise: Liebe fürs Extreme
Als Liebhaber des Industrial, der sich den dunklen Seiten von Metal, Techno und Drum and Bass zuwendet, zog der gebürtige Italiener Nino Pedone 2010 nach Mailand, um Tontechnik zu studieren, und gründete zusammen mit den Techno-Produzenten Ascion und D. Carbone Repitch Recordings. Von der Musikkultur der Stadt gelangweilt, zog Pedone 12 Monate später nach Berlin, um eine Karriere als Produzent zu starten. Er veröffentlichte eine Reihe von Minimal-Techno-EPs und war Teil des Industrial-Techno-Duos Violetshaped.
Kurz darauf veränderte sich Pedones Sound stärker in Richtung Noise und er veröffentlichte seine ersten, aggressiv rauhen und ohrenbetäubenden LPs wie The Day of Revenge (2013) und Different Selves (2015). Auf dem 2019 veröffentlichten Album Aesthesis, das als kontrollierte Kollision von Noise, Metal, Rave und Hardcore angepriesen wurde, kollaborierte er mit bekannten Größen des Industrial wie Godflesh-Gründer Justin Broadrick und Drew McDowall von Coil/Psychic TV.
Bestärkt von seiner erfolgreichen Verschmelzung der Genres, versucht sich Pedone auf seinem neuesten Album, Absurd Matter (2023), an weiteren Experimenten. In Zusammenarbeit mit Brodinski, dem David-Lynch-Kollaborateur Dean Hurley, Moor Mother und dem New Yorker Rap-Duo Armand Hammer verwischt Pedones brennendes Labyrinth aus Noise, Underground-Rap und radiotauglichen Hooks die Grenzen zwischen abstrakter und Pop-Musikkultur und fragt so nach dem Platz von Noise im Mainstream.
Gab es einen bestimmten Auslöser, der dein Interesse an dunkler, schwerer und abstrakter elektronischer Musik geweckt hat?
Ich mag die Energie von extremer oder kraftvoller Musik und die Körperlichkeit eines Sounds, der mit tiefen und schweren Bässen ein Gefühl von Bewegung erzeugt. Ich habe viel Industrial gehört, aber auch Metal und die britische Hardcore-Szene, die sich in Richtung Techno, Jungle und Drum and Bass bewegt. Aber auch Musik, die nicht unbedingt elektronisch ist, wie Avantgarde und Noise. Zunächst war ich von Schlagzeugrhythmen fasziniert und spielte vier oder fünf Jahre lang Schlagzeug. Dann begann ich, mich für das Auflegen zu interessieren und verkaufte mein Schlagzeug, um meinen ersten Plattenspieler und ein Mischpult zu kaufen. Das war noch vor Beatport und Downloads. Pioneer hatte gerade den ersten CDJ-100 auf den Markt gebracht und ich verbrachte Stunden damit, in Plattenläden zu gehen; ich erinnere mich sogar daran, dass sie mir neue Musik über das Telefon vorspielten [lacht].
Wann bist du dazu übergegangen, deine eigene Musik zu machen – und vor allem Noise?
Während meines Studiums in Mailand fingen Freunde von mir an, zu produzieren. Wir hörten dieselbe Musik, aber es fühlte sich für mich nicht ganz richtig an. Ich wollte noch mehr erforschen, und es dauerte ein paar Jahre, bis ich das Gefühl hatte, meine eigene Identität oder Klangsignatur entwickeln zu können. Wenn man nur Techno hört, wird die Musik, die man macht, mehr oder weniger nach Techno klingen, während man, wenn man Jazz, Rock und andere Genres hört, mehr Einflüsse hat, die man auf eine Techno-Platte bringen kann.
Deine erste LP, The Day of Revenge, ist voller rauer und unangenehmer Klänge, und für die meisten Leute wäre die unmittelbare Reaktion wohl, sich abzuwenden, anstatt sich darauf einzulassen. Inwieweit willst du diese Reaktionen herausfordern?
Ich stimme zu, dass diese Art von Musik uneinladend sein kann, wenn man sie zum ersten Mal hört. Bei bestimmten Arten von Musik braucht man Zeit, um den Kontext der kompositorischen Struktur und des Rhythmus zu verstehen und sich darin orientieren zu können. Aber je öfter man sie hört, desto mehr gewöhnt man sich an sie und kann die Feinheiten wahrnehmen. Mit dem Essen ist es dasselbe: Wenn man viele verschiedene und immer neue Dinge isst, wird der Geschmackssinn verfeinert. Ich möchte eine Reaktion hervorrufen, aber auch den Hörer überraschen, und ich habe versucht, The Day of Revenge so dynamisch wie möglich zu gestalten, indem ich in bestimmten Momenten mit Stille gespielt habe, um das Gefühl einer Reise zu erzeugen. John Cage hat in seiner Musik viel mit Stille und Geräuschen gearbeitet, und ich habe mich davon inspirieren lassen und versucht, Attribute davon in meine Musik zu integrieren.
Für dein drittes Album Aesthesis hast du begonnen, mit anderen Künstlern zusammenzuarbeiten, unter anderen Drew McDowall von Coil/Psychic TV. Hat er dem Sound das hinzugefügt, was du erwartet hast, oder warst du auf der Suche nach dem Unerwarteten?
Drews Veröffentlichungen mit Coil und Psychic TV waren eine große Inspiration für meine DJ-Sets. Ich habe ihn während des CTM-Festivals in Berlin kennengelernt, als er zusammen mit dem experimentellen Grime-Produzenten Rabit Musik gemacht hat, und ich dachte, es wäre schön, wenn wir alle drei zusammen an einem Track arbeiten würden. Ich wollte etwas Neues und Spontanes in meinen Prozess einbringen, und Drew hat meiner Vision definitiv etwas Persönliches hinzugefügt.
Die R&B-Sängerin MHYSA ist auf dem Eröffnungstrack Intriguing (In the End) zu hören. Ein ungewöhnliches Konglomerat von Stilen. Wolltest du die Polarität von harten metallischen Klängen und der weiblichen Stimme erkunden?
Das ist genau der Grund, warum ich mit MHYSA zusammenarbeiten wollte. Sie macht noisigen und experimentellen R&B, aber ich dachte, dass der Kontrast zwischen ihrer Stimme und meinem rauen Instrumentalsound gut funktionieren könnte. Es gab aber noch einen anderen Aspekt, der mich interessiert hat. Wenn man Popmusik macht, steht der Gesang normalerweise im Mittelpunkt, aber MHYSA und ich haben genau das Gegenteil gemacht, und ich fand diesen Prozess ziemlich faszinierend. Mir gefällt auch sehr, wie sie ihre Stimme auf eine sehr technische und doch anarchistische Weise bearbeitet – sie verwendet tonnenweise Hall und verrückte, super produzierte Effekte.
Du hast für eine gewisse Zeit dein Gehör verloren, und es wäre naheliegend zu vermuten, dass es damit zusammenhängt, dass du besonders laute Musik hörst und machst...
Es ärgert mich sehr, wenn Leute denken, ich hätte mein Gehör verloren, weil ich laute Musik höre. Der Grund, warum ich immer noch damit kämpfe, ist, dass ich an der Ménière-Krankheit leide, die in der Regel durch eine Infektion oder eine andere Systemerkrankung ausgelöst wird. Dabei sammelt sich übermäßig viel Flüssigkeit im Innenohr, was das Gehör und das Gleichgewicht beeinträchtigt. Bei mir führte das zu einem plötzlichen Hörverlust auf dem linken Ohr, was bedeutete, dass ich kaum Bassfrequenzen hören konnte. Die beste Behandlung sind Kortikosteroide oder, wie in meinem Fall, Injektionen in das Trommelfell, die zwar wirksamer, aber auch ziemlich gefährlich sind. Nach einer ersten erfolgreichen Therapie konnte ich aber im November letzten Jahres plötzlich wieder fast nichts auf meinem linken Ohr hören. Ich habe die gleiche Therapie gemacht, aber diesmal hat es nicht funktioniert. Trotzdem habe ich mich langsam erholt und mein Vertrauen in meine Fähigkeit, Musik zu machen, zurückgewonnen.
Wie bist du psychologisch mit dieser Situation umgegangen, und musstest du deinen Prozess des Musikmachens neu denken?
Hören ist etwas, das man für selbstverständlich hält, wenn man keine Probleme damit hat. Man denkt dann, dass man alle Zeit der Welt hat, um Musik zu machen, und man tut es nur dann, wenn man sich wohl fühlt. Die Erfahrung der Krankheit hat mich dazu gebracht, fokussierter zu arbeiten und nicht nur Musik zu machen, wann immer ich kann, sondern sie auch fertigzustellen. Was es bei der Art von Musik, die ich mache, noch etwas komplizierter macht, ist, dass ich mich sehr auf die Bassfrequenzen konzentrieren muss. Das führte letztlich dazu, dass ich den Frequenzbereich meiner Musik noch mehr als sonst in diese Richtung dränge.
Auf deiner letzten LP Absurd Matter experimentieren Tracks wie Family, Know Yourself und Poetry mit der Verschmelzung von Rap und Noise. Wie verbindest du diese unterschiedlichen Musikformen?
Rap hat mich immer beeinflusst und war etwas, das ich in den letzten Jahren vermehrt in meine Musik einbauen wollte. Vor Aesthesis konnte man den Einfluss in einigen der Beats hören, aber es klang chaotisch und laut. Jetzt sind die kompositorischen Arrangements viel direkter und strukturierter. Trotzdem kann man in all dem fortschrittlichen Sounddesign und den verrückten Klanglandschaften immer noch meinen typischen Sound hören und das mag ich. Dennoch, je älter ich werde, desto mehr verspüre ich den Drang, mich von der Idee, chaotischen Noise zu machen, zu verabschieden. Ich möchte keine Popmusik produzieren, aber einen strukturierteren Sound, und wenn man mit Sänger:innen und Rapper:innen arbeiten will, muss man wirklich wissen, was man tut, damit es funktioniert. Daher habe ich das Gefühl, dass sich Absurd Matter sehr von meinen früheren Platten unterscheidet.
Hast du den Sänger:innen, mit denen du zusammengearbeitet hast, Vorgaben gemacht, wie sie auf den Tracks auftreten sollen?
Nicht wirklich, denn ich wusste bereits, wie meine Musik mit den Künstler:innen, die ich ausgewählt hatte, funktionieren würde. Armand Hammer und Moor Mother kommen zum Beispiel von der experimentellen Seite des Rap und haben Einflüsse aus dem Noise und Industrial aufgenommen. Ich habe mir überlegt, welche Tracks am besten zu den beiden passen würden, aber es war auch wichtig, dass sie die Freiheit hatten, sich selbst auszudrücken. Die Zusammenarbeit mit Armand Hammer war großartig, weil sie viele Effekte und Verzerrungen in ihre Vocals einbauten und sich wirklich auf die Stimmung des Tracks einließen. Als ich ihren Beitrag erhielt, fand ich, dass er wahnsinnig klang. Bei Moor Mother musste ich etwas mehr bearbeiten, weil ich eine bestimmte Idee hatte, wie ich ihre Vocals in der Struktur des Tracks von der ersten Strophe bis zur Hook unterbringen wollte.
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Nur mit Ableton Live 11 Suite
Benutzt du hauptsächlich Hardware-Instrumente, um Sounds zu erzeugen?
Ich verwende alles, aber ich stelle alles in Ableton Live zusammen. Viele meiner Freunde gehen in analoge Studios, um mit ein oder zwei Takes zu jammen und einen Track zu kreieren, aber ich bin das Gegenteil – ich brauche viel Zeit, um darüber nachzudenken, wie ich einen Track kreiere, arrangiere und entwickle. Das wäre mit Live-Takes nicht möglich, weil ich für die Bearbeitung, das Resampling und die Nachbearbeitung viel Software einsetzen muss.
Kannst du uns diesen Prozess ein wenig näher bringen?
Ich habe viele verschiedene analoge Geräte in meinem Studio, darunter Eurorack-Module und oszillatorbasierte Synthesizer, und ich sammle Sounds aus all diesen unterschiedlichen Quellen und füge sie in ein System ein, das ich in Ableton für mich entwickelt habe. Dazu gehört, dass ich meine eigenen Instrumenten-Racks und Eingänge baue und Klangquellen durch sie hindurch verarbeite, um Texturen zu entwickeln, die als mein typischer Sound erkannt werden können. Ich verwende auch Software, um verschiedene Soundscapes zu erstellen, aber ich resample alles in Audio, weil ich die Sounds frei bearbeiten, schneiden und automatisieren will, egal woher sie kommen.
Nimmst du dir Zeit, um Soundbibliotheken für die zukünftige Verwendung zu erstellen?
Das mache ich oft, denn es kann sein, dass man einen Sound in einem bestimmten Moment mag, aber nicht weiß, was man damit machen soll. Wenn ich Ableton öffne, haben alle Bibliotheken ein riesiges Archiv an Sounddesign-Ressourcen, die ich für einen Track verwenden kann. Das bedeutet, dass ich selten etwas Neues aufnehmen oder ganz von vorne anfangen muss. Für den Track Savage Mindedness habe ich ein sehr einfaches Ableton-Sample-Pack verwendet, das ich geresamplet und bearbeitet habe. Ich verwende also gerne Quellen, die einfach und verfügbar sind, seien es kostenlose Sample-Bibliotheken, Field Recordings oder Synth-Sounds aus meinen Eurorack-Modulen und Drum-Machines.
Trotz des relativ einfachen Charakters von Absurd Matter ist dort viel intensives und chaotisches Sounddesign zu hören. Verwendest du bestimmte Plug-ins, um Sounds zu verändern?
Die Software gibt mir viel Freiheit, Musik so zu produzieren, wie ich es möchte. Wenn ich einen Sound transformieren und eine Kick-Drum daraus machen will, weiß ich, welche Frequenzen ich dafür brauche und wie ich einen Sound in die andere Richtung manipulieren kann. Ich habe einmal von einem Künstler gelesen, der behauptete, dass man nicht wirklich wissen muss, was passiert, wenn man einen Sound verzerrt, um Musik zu machen, aber ich vertrete die gegenteilige Philosophie – erst wenn man die Grundlagen versteht, wie man etwas aus einem Sound machen kann, kann man anfangen, zu navigieren und mit seinen Werkzeugen auf unkonventionelle Weise zu experimentieren. Ich denke, es ist wirklich wichtig, den Prozess zu verstehen, der hinter dem steht, was man tut, anstatt einfach nur orientierungslos drauflos zu machen.
Text und Interview: Danny Turner
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Leonardo Scotti
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