Sélébéyone: Mit Jazz von New York nach Dakar
Im Jahr 2016 entstand Sélébéyone, ein Projekt, wie es vor seiner Geburtsstunde eigentlich undenkbar war, weil es derartig viele konträre Sounds, musikalische Disziplinen, Orte und auch Sprachen miteinander verknüpft. Es ergab sich aus einer Kollaboration zwischen dem vielbeachteten US-amerikanischen Saxofonisten und Komponisten Steve Lehman, dem französischen Saxofonisten und Komponisten Maciek Lasserre, dem senegalesischen Rapper Gaston Bandimic und HPrizm (aka High Priest, ein Fixstern im richtungsweisenden New Yorker Underground-Hip-Hop und Gründungsmitglied der Formation Anti-Pop Consortium). Im Wesentlichen bohrt sich Sélébéyone dort hinein, wo Lehmans und Lasserres Sicht auf zeitgenössischen Jazz mit der Wortakrobatik von Bandimic und HPrizm zusammentreffen. Ihr nach sich selbst benanntes Debütalbum wurde letzten August veröffentlicht und berstet vor ungeraden Rhythmen fernab gewöhnlicher 4/4-Strukturen, fieberhaften Saxofonläufen, vielschichtigen Sound-Texturen und dem unkonventionellen Umgang mit Lyrics, sowohl auf Englisch als auch – wie im Fall von Bandimic – auf Wolof, der Umgangssprache im Senegal. Passenderweise ist Sélébéyone ein Wort aus dem Wolof und bedeutet soviel wie „Knotenpunkt“.
Der begnadete Saxofonist und Komponist Steve Lehman hat eine umfangreiche und breit gefächerte Diskographie vorzuweisen, die seine Vorliebe für unkonventionelle Rezepte offenlegt. Steve Lehman war bei der Hälfte der Stücke von Sélébéyone fürs Komponieren, das Sequencing und das Produzieren zuständig (wobei sein Kollege Maciek Lasserre die andere Hälfte übernahm). Beeindruckt von den kompositorischen und technischen Leistungen machten wir Steve Lehman ausfindig, der zur Zeit an der CalArts Komposition, Jazz und Musiktechnologie unterrichtet. Wir wollten einen Eindruck gewinnen, wie die Gruppe an die Produktion des Sélébéyone-Albums heranging, wie sie die Stücke live umsetzen und warum Lehman bei seinen umtriebigen musikalischen Unternehmungen häufig mit Live-Elektronik und digitalen Mitteln arbeitet.
Du hast lange Saxofon und Komposition studiert, wie kamst du dann zum Producing?
Ich habe nie einen Turntable oder eine MPC besessen. Ich fing mit Reason an und holte mir etwa 2004 Ableton Live. Ab da begann ich dann wirklich zu experimentieren und zu schauen, wohin mich dieser Ansatz führt. Ungefähr zu der Zeit hatte ich Tragic Epilogue von Anti-Pop Consortium gehört und war total beeindruckt davon, wie dieses Album produziert war. Ich glaube, dort wurde kaum gesamplet – außer vielleicht, wenn die Gruppe sich selbst samplete. Das Ganze besteht eigentlich aus Synths und Sound-Design. Die musikalischen Eigenarten hatten es mir angetan: Was für Harmonien verwenden sie bei den Stücken, was für Rhythmen und was für Sound-Design? Durch dieses explizite Experimentieren mit Sounds und Klangtexturen gab es viele Überschneidungen mit der Musik, in die ich mich damals vertieft hatte: zeitgenössischen Jazz, Neue Musik und Computermusik. Auf ästhetischer Ebene schien es viele Parallelen zu geben.
Tatsächlich lernte ich Priest von Anti-Pop ungefähr zu der Zeit kennen. Die Begegnung kam zustande, weil ich ihren Titel „What Am I?“ als A-capella-Version in die Finger bekommen hatte und daraus selbst ein Stück produzierte. Wir hatten einen gemeinsamen Freund, also meldete ich mich bei Priest und schickte ihm diesen Track. So kamen wir in Kontakt. Als es mit dem Sélébéyone-Projekt losging, hatten wir also schon 10 Jahre der Zusammenarbeit auf dem Buckel.
Du hast von deiner frühen Experimentierphase mit DAWs erzählt, was für Musik hast du damals gemacht? Lehnte sich deine Arbeit an zeitgenössischen Jazz, experimentelle Komposition oder etwas in diese Richtung an?
Es war von allem ein bisschen was. In der ersten Phase machte ich mich mit dem Material vertraut und was ich damit anstellen konnte, ich fand heraus, welche Sounds es gab und wie ich das Ganze zurechtfeilen konnte. Als Komponist (und teilweise auch als Saxofonist) betrachte ich die verfügbaren Ressourcen gern als Tools, um nicht so eine Trennung zwischen Mensch und Maschine zu haben.
Ich überlege z. B.: Was kann ich mit Live machen, was mit akustischen Instrumenten nicht ginge oder zumindest nicht ganz so leicht wäre? Das könnte heißen, dass ich einen ganz vertrackten Rhythmus schreibe und weiß, dass er im Computer perfekt wird oder es könnte sein, dass eine Komposition ein paar Sound-Design-Elemente braucht. Ich habe z.B. auch das Album Demian as Posthuman gemacht, worauf das sechs Minuten lange Stück „Demian“ zu hören ist. Die Melodie wiederholt sich nie und kompositorisch ist es für den E-Bass und das Harmonieinstrument ziemlich komplex. Hätte ich es anderen Mitmusikern gegeben, hätte es Monate gedauert, es zum Laufen zu kriegen. Letztlich war es effektiver, das in Live zu sequenzieren.
Du arbeitest häufig außerhalb der konventionellen 4/4- und 3/4-Taktarten. Wie gehst du bei deinen Stücken an diese ungewöhnlichen Zeitraster heran? Gibt es bestimmte Herausforderungen oder Tricks, die du durch die Arbeit in DAWs gelernt hast?
Sicher führt es zum Ziel, die Taktart in Live zu ändern, aber wenn du irgendeinen ungewöhnlichen Rhythmus hast, bei dem du nicht einfach den Beat durch zwei oder drei teilen willst, dann kann es etwas komplizierter sein. Wenn ich z.B. möchte, dass der Beat in sieben Teile aufgebrochen wird, kann es anstrengend werden, weil ich das MIDI-Raster verlasse und ständig ein Auge drauf haben muss – oder herausfinden muss, wie ich es händisch machen kann. Aber wenn etwas richtig präzise sein muss, schreibe ich es gleich in der Notationssoftware Finale, weil es dort quasi keine Beschränkungen für das Komponieren in rhythmischen Verhältnissen gibt. Das speichere ich dann als MIDI-Datei und importiere es in Live. Diese Technik nutze ich schon lange.
Aufwändiger ist es, wenn ich Musik schreibe, bei der sich die Länge der Takte ständig ändert, was beim Großteil meiner Stücke der Fall ist [lacht]. Ich bin also nicht bloß in 5/4 statt in 4/4, sondern der erste Takt dauert vielleicht mal sechs Zählzeiten, der nächste vier und der übernächste sieben oder acht Schläge. Das kann man hinbekommen, aber es ist ziemlich zäh, da muss ich normalerweise hinterher sein und es letztlich selbst ausrechnen. Aber sogar dann, wenn ich mit Copy-and-paste arbeiten will, frage ich mich oft „Verdammt, wo ist hier bloß der Anfang?“, weil ich nur Balken sehe. [lacht] Aber es kann dann richtig flexibel werden, wenn man z.B. Max for Live (ich bin ein großer Max/MSP-Fan) und Finale benutzt. Mit dieser Kombination kann ich die meisten Sachen erledigen, die für mich wichtig sind, wie ungewöhnliche Rhythmen kreieren, die Tonhöhe von Sounds ändern usw.
Was habt ihr bei der Produktion und Komposition des Sélébéyone-Albums zuerst gemacht?
Als das Projekt beschlossene Sache war und alle an Bord waren, war wohl der erste Schritt, dass Maciek [Lasserre] und ich ein paar Skizzen anlegten (er ist auch Ableton-User). Wir schickten sie an alle in der Gruppe, um zu schauen, ob ihnen unsere Richtung gefällt. Im Mai 2015 trafen wir uns alle für eine Woche in der Nähe von Paris und hatten eine sehr intensive Arbeitsphase mit Workshops, Proben und Schreiben. Wir setzten uns dort schließlich alle an einen Tisch und präsentierten den beiden Rappern Gaston [Bandimic] und High Priest die musikalischen Ideen. Wir fragten: „Können wir etwas machen, bei dem das Zeitmaß nicht 4/4 ist?“ Oder: „Können wir etwas machen, bei dem der Takt so und so oft abgeschnitten wird?“ Das alles war auch ein Versuch, ein Gespür dafür zu entwickeln, auf welche musikalischen und rhythmischen Einfälle sich Gaston und High Priest als Texter einlassen konnten. In den meisten Fällen war zuerst die Musik da und die Texte kamen später dazu, aber ich weiß noch, in der ersten Woche in Paris haben wir alle wirklich rund um die Uhr gearbeitet. Nach dieser intensiven Session hatte jeder von uns etwa sechs Monate Zeit, um die Skizzen für sich zu editieren oder zu überarbeiten. Die Songs mailten wir einander zu, um uns auf dem Laufenden zu halten.
Sélébéyone ist in vielerlei Hinsicht ein Hybrid, ihr vermischt Genres, ihr vermischt Elektronik mit live gespielten Instrumenten, ihr vermischt sogar Nationalitäten und Sprachen. Was war das Besondere an der Gruppe, dass du all die verschiedenen Einflüsse und Interessen in ein zusammenhängendes Projekt einpassen konntest?
Der Auslöser war vor allem, dass Priest und ich schon seit Jahren zusammenarbeiten, aber durch Maciek hörten wir etwas von der angesagten Hip-Hop-Community im Senegal, die ganz bewusst auf Wolof rappt. Ich hatte zwar schon vorher Rapper aus dem Senegal gehört, aber nur auf Französisch und die Wolof-Rapper haben einfach einen echt frischen Sound und es war sehr spannend sich damit auseinanderzusetzen, wie man dazu eine Verbindung herstellen kann.
Darauf aufbauend versuchten wir, uns vom Denken in musikalischen Genres oder musikalischen Milieus zu lösen und nicht zu sagen „das wird cool, weil…“. Wir wollten uns eher auf das Wesentliche der verschiedenen musikalischen Bestandteile konzentrieren, die wir heranzogen. In etwa: „Okay, du magst Hip-Hop, aber was passiert dort rhythmisch, dass du dich darauf einlässt? Was ist dort das Besondere an dem Umgang mit Harmonien oder wie funktioniert die kompositorische Form in der Musik?“ Wir wollten den kulturellen Subtext ausklammern und diesen praktischen Gehalt ganz tief durchdringen und ich finde, das hat uns sehr geholfen. Eine Sache, die das Projekt von anderen unterscheidet, ist die Art, wie Maciek die Songs komponiert hat. Er hat sowohl die ganzen Instrumente arrangiert als auch das ganze Sequencing gemacht, alle Drums programmiert und die Stücke editiert. Dasselbe gilt für die Stücke, die ich geschrieben habe. Das versetzte uns in die Lage, dass über einen Instrumental-Part nicht einfach ein beliebiges Sample gelegt wurde bzw. andersherum, sondern es war alles aus einem Guss. Dadurch konnten wir alles gründlicher und umfassender integrieren.
Ich spreche hier vor allem von mir selbst, aber ich glaube, es trifft auf die meisten in der Gruppe zu. Einerseits sehe ich mich selbst als jemanden, der an das Ideal der Moderne glaubt, dass es noch Raum für Innovation gibt und Raum, dass wir neue Sounds und Herangehensweisen an die Musik entdecken, von denen wir noch nie etwas gehört haben (auch wenn das schwer zu glauben sein mag). Ich denke, dass man dieser Idee folgen sollte. Gleichzeitig scheue ich ein bisschen vor der postmodernen Zitiertechnik zurück, die Rap, einen Jongleur, Polka und Jazz zusammensteckt, obwohl ich zugeben muss, dass Sélébéyone auf den ersten Blick wohl in diese Schablone passen könnte.
Noch einmal, ich glaube, der Fokus auf die musikalische Essenz bewahrte uns davor, aus dem Projekt bloß so einen Multikulti-Rap-Jazz-Hybrid zu machen. Stattdessen ist bei jedem Track die praktische Basis vorhanden, zu der wir erläutern können, was wir beispielsweise rhythmisch und harmonisch erreichen wollten und inwiefern die Form das Diskutieren über Musikgenres ausschließt. Das ganze Projekt lässt sich nicht auf eine Grundformel herunterkochen.
Bleiben Sie mithilfe Steve Lehmans Website über Sélébéyone auf dem Laufenden.