Übung macht die Meister:in. Aber was ist gutes Üben – und wie führt es zu überzeugenden Ergebnissen?
Im musikalischen Kontext können wir uns die Übung als ständigen Spagat zwischen künstlerischem Ausdruck und wissenschaftlicher Strenge vorstellen. Zum besseren Verständnis gibt es zwei nützliche Konzepte – eines aus der Neurowissenschaft (Myelin) und eines aus der Psychologie (Flow). Beide Konzepte bilden zusammen einen umsetzbaren Prozess, der als zielgerichtetes Training bekannt ist.
Myelin
Wenn Ihnen ein Ball zugeworfen wird, werden Sie wahrscheinlich instinktiv versuchen, ihn zu fangen. Wenn Sie das schon oft gemacht haben, wird dafür kein Nachdenken notwendig sein: Sie fangen den Ball einfach, weil dies eine gelernte Reaktion ist. Denn Ihr Gehirn hat eine bekannte Situation (ein auf Sie zufliegender Ball) bereits mit einer entsprechenden Reaktion (Auffangen) verknüpft.
In diesem Zusammenhang ist die Vorstellung hilfreich, dass unser Gehirn aus verhaltensbezogenen und wahrnehmenden Neuronen besteht. Wenn bekannte Situationen und Reaktionen miteinander verknüpft sind, entstehen in jeder Gruppe dieser Neuronen neue Muster. Wird Ihr Gehirn mit neuen Situationen konfrontiert, dann muss es neue Verhaltensmuster entwickeln: Wie wird auf die Wahrnehmungen reagiert? Je häufiger wir diesen neuen neuronalen Mustern begegnen und sie verwenden, desto stärker werden sie. Dieser Prozess wird Myelinisierung genannt: Die Nervenzellen isolieren sich, indem sie ein Fettprotein namens Myelin bilden, das für eine schnellere und effizientere Übertragung der elektrischen Impulse (oder: der Gedanken) in den Nervenzellen sorgt.
Das Myelin ist allerdings ein zweischneidiges Schwert: Der Vorgang wird für jede Art von Input angewendet – ganz gleich ob gut oder schlecht. Selbst wenn wir etwas falsch machen, kann die Myelinisierung Nervenbahnen stärken, die zu schlechten Gewohnheiten führen. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, die Dinge langsamer anzugehen, um Fehler zu überwinden. Beim musikalischen Üben kann das sehr frustrierend sein: Wir wollen unbedingt schneller spielen, um das, was uns vorschwebt, genau so umzusetzen. Wie jede Art von Wachstum, geht es auch hier um einen allmählichen Prozess: Das Üben mit höherer Präzision stellt sicher, dass das Myelin an den richtigen Stellen gebildet wird.
Flow
Was hat die Forschung über das Glück mit dem Üben von Musik zu tun? In seinem Buch Flow: The Psychology of Optimal Experience (1990) formuliert der ungarische Psychologe Mihaly Csíkszentmihályi eine Theorie: Wir sind dann am glücklichsten, wenn wir uns im Flow befinden – einem Zustand der Konzentration oder kompletten Verschmelzung mit der aktuellen Tätigkeit.
Diesen Zustand haben Sie bestimmt schon mal erlebt – beim Joggen, Schreiben, Lesen oder sogar beim Musikmachen. Möglicherweise war Ihnen das gar nicht bewusst: Sie waren im Flow und konnten Ihre Fähigkeiten optimal auf die jeweilige Aktivität abstimmen.
Das folgende Diagramm veranschaulicht dieses Konzept. Wenn eine Aufgabe zu schwierig ist, führt das zu Frustration – und wenn die Herausforderung zu klein ist, stellt sich Langeweile ein. Der mittlere Bereich stellt den Punkt dar, an dem sich die Herausforderung und Ihre Fähigkeiten treffen.
Sobald wir im Flow arbeiten, gibt es aufgrund unserer hohen Konzentration überraschenderweise weniger Gehirnaktivität. Die Aufgabe durchfließt mühelos Körper und Geist – daher die treffende Bezeichnung „Flow“.
Das Interessante an diesem Modell: Der Flow-Bereich ist bei allen Menschen unterschiedlich. Wir alle haben unser individuelles Gleichgewicht, das sich je nach Tätigkeit und auch mit der Zeit verändert: Wir verbessern uns allmählich und brauchen weitere Herausforderungen, um wieder im Flow zu sein.
Zielgerichtetes Training
Was wäre, wenn wir unser Verständnis von neurologischen und psychologischen Prozessen wie Myelinisierung und Flow zur Entwicklung neuer Tools nutzen könnten, die unser Üben optimieren?
Die Technologie spielt eine zunehmend wichtige Rolle beim Erlernen und Entwickeln neuer Fähigkeiten. Melodics ist eine Anwendung, die Musiker:innen dabei helfen soll, das Spielen von MIDI-Instrumenten mit Vergnügen zu erlernen – auf Basis des zuvor beschriebenen ‘zielgerichteten Trainings’. Diese Methode baut auf den Erkenntnissen des Leistungspsychologen Anders Ericsson auf und hat zum Ziel, die Dinge zu verlangsamen, damit wir gewissermaßen reinzoomen und das gewünschte Ergebnis Schritt für Schritt erreichen können. Interessanterweise funktioniert diese Herangehensweise nicht nur beim sportlichen Training, sondern auch beim Aufbau des Muskelgedächtnisses und bei der Entwicklung musikalischer Fähigkeiten.
In Melodics-Lektionen ist das zielgerichtete Training meist in mehrere Schritte unterteilt:
1: Orientierung
Bevor Sie ein Musikstück üben und spielen, sollten Sie damit vertraut werden. Deswegen hören Sie es sich zuerst komplett an und tasten sich über die Fingerpositionen an den Aufbau heran.
2: Aufteilung
Die meisten Menschen orientieren sich bei der Zielsetzung am großen Ganzen. Dies mag zwar wichtig sein, um inspiriert zu bleiben, doch sind mehrere sehr kurzfristige Ziele vorteilhafter und auch motivierender. Deswegen wird bei Melodics ein Song zuerst in kleine Schritte oder Komponenten unterteilt, die einzeln geübt und gedanklich abgespeichert werden. Anschließend werden die einzelnen Schritte zu immer größeren Gruppen zusammengefasst.
3: Fokus
Melodics' Übungsmodus lädt Sie dazu ein, gezielt zu fokussieren und mit der Zeit zu spielen. Zu diesem Zweck wird die Aktion zuerst verlangsamt und dann beschleunigt. Wenn Sie langsamer spielen, können Sie sich mehr auf Fehler konzentrieren und so ein höheres Maß an Präzision erreichen. So verringern Sie das Risiko, dass bei der Myelinisierung wenig hilfreiche Nervenbahnen entstehen und stärken gleichzeitig die nützlichen Verbindungen, die für den Aufbau des langfristigen Muskelgedächtnisses erforderlich sind.
4: Einschätzung
In diesem Schritt wählen Sie einen Songteil aus, den Sie beherrschen möchten. Nach einem ersten Versuch schätzen sie den Abstand zwischen Ihrem Ziel und Ihrem Können ein, bevor Sie den Songteil erneut in Angriff nehmen. Um Fortschritte zu erzielen, müssen die Fehler erkannt werden. Die Orientierung an Fehlern macht das Üben zum „Gehirnstretching“, das wahrscheinlich etwas frustrierend ist, aber schließlich zur Weiterentwicklung führt.
5: Wiederholung
Obwohl die Wiederholung der entscheidende Teil der Übung ist, wird sie oft vernachlässigt oder vergessen. Dabei ist es wichtig, täglich zu üben. Kurze Übungseinheiten, die zielgerichtet und konzentriert sind, führen zu besseren Ergebnissen als unstrukturiertes Training, das zwar länger dauert, aber seltener stattfindet.
Beim Erlernen neuer Skills ist es eine wirklich große Herausforderung, die Motivation zum regelmäßigen Üben aufrechtzuerhalten. Ganz gleich ob Sie eine Anwendung wie Melodics nutzen oder selbständig vorgehen: Das zielgerichtete Training wird den Lernprozess angenehmer, bedeutungsvoller und effektiver machen. Wenn Sie dran bleiben, wird das, was beim ersten Versuch unerreichbar schien, mit der Zeit zur Gewohnheit.
Originaltext: Rodi Kirk | Director of Product & Education bei Melodics
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Anmerkung: Um dieses Angebot nutzen zu können, müssen Sie sich bei Melodics registrieren und die kostenlose Melodics-App herunterladen.
Eine Version dieses Artikels ist bereits auf melodics.com erschienen.