Santuri Safari: Ostafrika erwacht
Nahezu jeder Musiker strebt im Laufe seiner Entwicklung als Künstler nach einer unverkennbaren musikalischen Identität. Für gewöhnlich ist das eine ganz individuelle Angelegenheit. Es gibt aber auch Szenarien, in denen musikalische Identität aus dem Kollektiv heraus erwächst und eine Bewegung ins Rollen bringt, die auf gleichsamen Empfindungen basiert. Und doch es kommt selten vor, dass Leute ein Gespür für die tatsächlichen Ursprünge der musikalischen Kultur einer Region entwickeln. Und noch seltener passiert es, dass die richtigen Rückschlüsse gezogen werden, um diese Manko zu korrigieren. Aus diesem Grund gründete sich im letzten Jahr ein ostafrikanisches Projekt namens Santuri Safari. Als Reaktion auf einen spürbaren Mangel an Innovation und den drohenden Verlust regionaler musikalischer Identität möchte es das Bewusstsein in den Köpfen ändern. Als loses Netzwerk aus Musikern, DJs, Produzenten und Kultur-Aktivisten sendet es mit seinen Events Signale nach ganz Afrika und darüber hinaus – mit der Absicht, Uganda, Kenia und Tansania wieder auf die internationale Landkarte der Musik zu setzen.
Vorab etwas zum Kontext: Die meisten Musikliebhaber weltweit hätten sicherlich enorme Schwierigkeiten, aus dem Stehgreif herausragende Künstler Ostafrikas aufzuzählen oder ein spezifisches Genre dieser Region zu benennen. Beim jüngst auf dem gesamten Globus explodierten Interesse an afrikanischer Musik blieb der Osten des Kontinents im langen Schatten des Westens weitestgehend verborgen. Während Neu- und Archivaufnahmen aus Ghana, Nigeria, Mali und dem Senegal mittlerweile die verdiente Aufmerksamkeit erlangen, ist die weltweite Resonanz auf Äthiopiens Jazz-Vermächtnis, Angolas elektrifizierenden Kuduro und Südafrikas hoch gehypte House- und Kwaito-Produktionen immer noch eher verhalten.
Was jedoch nicht heißt, dass Ostafrika auch nur ansatzweise weniger zu bieten hätte. Die Region gilt musikalisch als die vielseitigste und lebendigste des ganzen Kontinents. Es muss ihr lediglich noch gelingen, ihren Einfluss weltweit geltend zu machen. Mit der voranschreitenden Globalisierung und einer prowestlichen Ausrichtung des Lebensstils orientieren sich erfolgreiche Künstler in Ostafrika allerdings auch zunehmend an den global federführenden Genres. Eine Mixtur aus RnB, Hip-Hop, Pop und Dancehall bestimmt die Szenerie.
In diesem Umfeld hat sich eine Mainstream-DJ-Kultur etabliert, die vor allem in Hip-Hop-Kreisen Fuß gefasst hat. Typisch für die Club-DJs in Dar es Salaam, Nairobi oder Kampala ist das Verschmelzen von lokalen Pop-Hits mit den globalen RnB-Schwergewichten. Und auch das Radio wird von Stationen beherrscht, die nur ihre eigenen derivativen Acts promoten.
Aber es gibt Bereiche, in denen sich Widerstand formt. Santuri Safari hat es sich zur Aufgabe gemacht, ähnlich gelagerte Künstler und Organisationen zusammen zu bringen und so eine vibrierende Undergroundszene zu etablieren. Hier geht es in erster Linie um Experimentierfreude, Kollaboration und Kreativität, weniger um Kommerz.
Santuri (in der Swahili-Sprache das Wort für Vinyl) wurde mit der Absicht gegründet, Künstler zu unterstützen und zu betreuen, die sich zwischen verschiedenen Genres bewegen und die Verknüpfung von einheimischer Kultur mit dem globalen Zeitgeist suchen. Das vom kenianischen Kultur-Aktivisten Gregg Tendwa und dem in Tansania lebenden britischen DJ David Tinning entwickelte Konzept nutzt die regionalen Musikfestivals, um eher ungewöhnliche Kollaborationen initiieren zu können. Gemeinsam mit den Festivalbetreibern richtet das Santuri-Safari-Team provisorische Studios ein und bittet lokale Künstler zur Zusammenarbeit mit Gastproduzenten aus Kenia, Uganda, Tansania und interkontinentalen Ländern. Dabei entstehen in Echtzeit Tracks, die später auf den festivalbegleitenden Partys ihre Premiere feiern.
Im Mai diesen Jahres reiste Santuri Safaris Sound-Designer und Gründer der SoundThread (www.soundthread.org) Non-Profit-Organisation, Sam Jones, nach Uganda, um den DoaDoa East African Performing Arts Market zu besuchen. Auf seiner Reise machte er etliche Field Recordings, die später als Basis für neu entstehende Tracks im Santuri Safari Studio dienen sollten. Auf Einladung der Bayimba Cultural Foundation gelangte Sam in ein Dorf in der Nähe Igangas außerhalb Kampalas und erblickte dort erstmals das wundersame Embaire Xylofon. Das aus Busoga im östlich zentralen Teil Ugandas stammende Xylofon ist so groß, dass es sieben Musiker braucht, um richtig gespielt werden zu können. Hauptsächlich bei spirituellen Zeremonien und Feiern eingesetzt, muss das Instrument in eine ungefähr halben Meter tiefe Grube gestellt werden, damit es überhaupt die nötigen Resonanzen erzeugt. Sam Jones erzählt, „dass die tiefen Noten mit Palmwedeln gespielt, einen eher weichen runden Ton produzieren, wohingegen das Anschlagen mit Flip-Flops für einen deutlich zackigeren Sound sorgt. Werden beide Schlagwerkzeuge gleichzeitig benutzt, sorgt das für beeindruckende Variationen innerhalb der Rhythmen. Die hohen Noten wiederum werden mit Stöcken in kreisenden Bewegungen angeschlagen. Dieses Spiel erzeugt fließende, ineinander greifende rhythmische Figuren. Wir baten die Jungs an den Bassnoten einfach frei drauf los zu spielen. Den Einstieg der anderen Parts dirigierte ich je nach Bedarf. Dadurch bekamen wir alle Soundvariationen, die wir wollten.“
Nachdem die Verbindung zur Santori Crew auf dem DoaDoa Festival in Jinja erst einmal stand, fanden die ugandischen, multi-talentierten Musiker Joel Sebunjo, Giovanni Kramer Kiyingi und Okello Lawrence recht schnell zur Zusammenarbeit mit Produzenten und DJs aus Nairobi, Dar und Kampala. Dank eines glücklichen Umstands nahm auch der in London beheimatete DJ und Produzent Esa Williams am Festival teil – er veröffentlicht vornehmlich afro-gefärbten House auf Labels wie Huntley und Palmers. Als Williams vom Vorhaben erfuhr, wollte er unbedingt dabei sein.
Esa, ein Ableton-'Verrückter', der ursprüglich aus Südafrika stammt, dann nach Glasgow ging und nun seit 10 Jahren in London lebt, brachte eine weitere Komponente in die Sessions ein:
„Die meisten Instrumente, die Sam aufnahm, manipulierte ich mit Simpler. Ich lud die Samples und spielte sie mit einem MIDI-Keyboard. Einige der Samples hatten quasi Tracklänge. Dadurch konnte ich noch kreativer mit ihnen arbeiten. Die Aufnahmequalität der Samples war hervorragend und so hatten wir die größtmögliche Freiheit zum Experimentieren. Jeder im Studio hat die Samples auf seine ganz eigene Weise benutzt. Ich brachte meinen elektronischen Background in die traditionellen Instrumente ein. Die Ergebnisse waren wirklich sehr interessant.“
Viele derjenigen, die an diesen Sessions teilgenommen haben, insbesondere aber der kenianische House-Künstler Saint Evo The Myth und Ambrose Akula, einer der wichtigsten Hip-Hop-Produzenten Tansanias, waren von dem, was Esa demonstrierte, schlichtweg begeistert. Esa fährt fort: „Ich nutzte Live als Ausgangspunkt für die Workshops, um den Teilnehmern zu zeigen, auf wie viele unterschiedliche Weisen man eine Session starten kann. Außerdem erläuterte ich verschiedene Aufnahmetechniken... Die Leute waren vom Potenzial regelrecht geplättet. Auch die Tatsache, wie schnell man zu Ideen gelangt und einen Track fertig stellen kann, sorgte für anhaltende Verblüffung.“
Esa ist schon seit einigen Jahren ein glühender Verfechter des Einflusses der afrikanischen Kultur auf die elektronische Musik. Und Santuri Safari wirkt diesbezüglich wie eine Frischzellenkur. Insbesondere, weil das Projekt aus Afrika selbst erwachsen ist. Er sagt: „Als Südafrikaner, der jetzt in England lebt, ist es großartig zu sehen, wie das Interesse an afrikanischer Musik im Allgemeinen wächst. Aber auch das an neuer und experimentellerer afrikanischer Musik. Darin sehe ich das Hauptverdienst von Santuri Safari – die Essenz der traditionellen afrikanischen Musik zu bewahren und sie für westliche Einflüsse zu öffnen, so dass am Ende eine Fusion entsteht, die nicht ihrer Herkunft beraubt ist.“
Die Sessions in Uganda wurden auch zur Plattform für einige der talentiertesten Rapper der Region. Mit dem selben Ausgangsmaterial als Grundlage für fulminante Rhythmus-Pattern entstand eine organische Hip-Hop-Jam, die einer Huldigung auf die Santuri-Bewegung gleich kommt.
Tusimame- (Stand up!) enthält Verse in Kiswahili, Luga- und Lusa-Dialekt von Leuten wie DJ Rachael, Jungle, Uglee MC und anderen. Das Material wurde erstmals auf einer Party-Reihe am Festival-Wochenende vorgestellt und dabei enthusiastisch von der Menge vor Ort aufgenommen. Es beinhaltet alles, um die Quintessenz einer hochmodernen ostafrikanischen Produktion zu sein, die gleichzeitig zum Zündstoff für komplette Events in der Region und darüber hinaus werden kann.
Das Kollektiv ist gleichzeitig das Bindeglied zwischen den verschiedenen Underground-Partys in Ostafrika – vom monatlichen Ableger der Santuri Society in Dar hin zu Kampalas explosiven Hatari Voltage Events. Auch Nairobis Szene wächst, was sich erst kürzlich wieder von der vertretenen Vielfalt auf dem Rift Valley Festival am Ufer des Naivasha-Sees ableiten ließ. Im Verbund mit Santuri war unter anderem der renommierte kenianische Folk-Künstler Makadem vor Ort, gerade erst zurück gekehrt vom Smithsonian Folk Festival in Washington DC. Während der Aufnahmen mit Esa Williams und Ambrose in einem eigens errichteten Zeltstudio mit Blick über den See, entwickelte das Team seine Ideen in Live und schichtete Layer um Layer einen atmosphärischen House-Cut auf, der auf Loops einer Nyatiti – dem traditionellen kenianischen Saiteninstrument; quasi ein Vorläufer der Gitarre – und auf live gespielten Perkussions basiert. Der Track wurde später auf der Fambula-Bühne des Rift Valley Festivals einem aus vierhundert Leuten bestehenden, verzückten Publikum präsentiert. Eine zwanzig Minuten lang ausschweifende hypnotische Jam mit Esa, der die Loops triggerte und zusätzliche Effekte mit Push abfeuerte, und dem Gesang von Makadem, der zudem die Nyatiti spielte.
Der zweite im Rift Valley aufgenommene Track ist eine rein akustische Nummer, die mit der jungen und ekstatischen Sarabi Band entstand. Die Performance allerdings lief ähnlich ab – eine Verschmelzung von Loops mit Rhythmen live gespielter Instrumente. So etwas bekam ein Publikum in Ostafrika bis dato nicht zu sehen.
Dieser Wille, mit Tradition und Technologie zu experimentieren, sorgt für eine neue, eine offenere Haltung gegenüber Musik und Clubbing – eine Haltung, mit der sich traditionelle Künstler ein neues Publikum erschließen können und die das Potenzial für viele neue Kollaborationen in sich trägt. Mit der Weiterentwicklung seines Netzwerkes hofft Santuri Safari, so vielen jungen Künstlern und Produzenten wie nur möglich eine Plattform zu bieten, mit Hilfe derer sie ihren eigenen Sound entwickeln und ihre Kultur innerhalb einer sich gegenseitig unterstützenden Szene repräsentieren können. Letztlich besteht die Hoffnung darin, dass die Vision des Santuri-Mitbegründers Gregg Tendwa eines Tages von der Wirklichkeit eingeholt wird; „dass es möglich ist, zehn Stunden lang zu Afro-Futurism aus Ostafrika zu tanzen.“
Der nächste Schritt auf dem Weg dorthin ist eine Partnerschaft mit Creatives Garage für die zweite Kenia-Edition von Santuri Safari. Und auch auf dem Sondeka Festival in Nairobi gibt es Unterstützung. Während des Events gibt es Gastunterricht mit Tony Nwachukwa von CDR London.