Mit elektronischer Musik bedeutsame Botschaften zu sozialen oder politischen Themen zu vermitteln, ist mit einigen Herausforderungen verbunden. Bei all den Ausdrucksmöglichkeiten, die Sequencing, Synthese und Bearbeitung bieten, kann die BeschĂ€ftigung mit den feineren Details unseres komplexen Menschseins durchaus zu kurz kommen. NatĂŒrlich gibt es KĂŒnstler, die sich dieser Herausforderung gestellt haben und einige, denen es gelungen ist.
Auf Sam Kidels neuester Veröffentlichung, Silicon Ear, stellt er unangenehme Fragen zu dem Wesen unserer hyper-vernetzten, hoch ĂŒberwachten Welt, und das mit zwei unterschiedlichen AnsĂ€tzen. Mit einer Kombination aus Konzept und Produktionspraxis positioniert er sich spielerisch gegen Big Data und entwickelt eine Anwendung, die das allgegenwĂ€rtige, staatlich genehmigte Abhören, das durch Smart Media in unseren Alltag implementiert ist, untergrĂ€bt. Silicon Ear ist eine experimentelle Besinnung auf die anarchischen Wurzeln des Rave, doch seine beiden Teile argumentieren fĂŒr die Notwendigkeit, schwierige Themen zur Sprache zu bringen, die die Gesellschaft weltweit betreffen.
âIch finde es spannend, Musik zu machen, die eine Art Funktion hat,â sagt Kidel. âEs ist ein unromantischer Zugang zur Kunst, der den Gedanken ablehnt, dass Kunst jemals unabhĂ€ngig von ihren sozialen und politischen UmstĂ€nden sein könnte.â
Disruption und Generation
Kidels Musik erblickte das Licht der Welt zunĂ€chst unter dem Namen El Kid, als Teil des Bristoler Kollektivs Young Echo sowie in Kollaborationen mit Vessel und Jabu. WĂ€hrend er in diesen AnfĂ€ngen schon meist sehr kunstvoll und originell an Dance Music heranging, kristallisierte sich erst unter seinem eigenen Namen eine stĂ€rkere Gewichtung des Konzeptionellen heraus. Besonders auf seinem Track Disruptive Muzak von 2016 untergrĂ€bt er auf subtile Weise die Tradition von Easy-Listening-Warteschleifenmusik. Auf der einen Seite ist auf dem 20minĂŒtigen Ambient-StĂŒck zu hören, was passierte, als Kidel seine eigene Muzak-Abstraktion ahnungslosen Call-Center-Mitarbeitern am Telefon vorspielte, wĂ€hrend die zweite Seite eine instrumentale âDo it Yourselfâ-Version enthĂ€lt, mit der seine Hörer die Technik selbst ausprobieren können. Bei aller Schadenfreude stellt Disruptive Muzak auch dringliche Fragen in den Raum, nach der Rolle von Ambient Music als Werkzeug des repressiven Arbeitsumfelds von Call-Centern und der Situation derer, die dort arbeiten.
"Die abstrakte Idee war, dass ich eine Fake-Performance geben wollte in einem Raum, den ich nicht betreten kann, nur so als Spielerei."
In Folge der positiven Aufnahme von Disruptive Muzak erweiterte Kidel seine Fragestellung bei einer Konferenz an der Oxford Brookes UniversitĂ€t mit dem Titel The Politics of Ambiance, zu der eine Vielzahl von Referenten Reden beitrugen, darunter  David Toop und Janna Graham sowie Chris Jones vom Ultra-Red Art Activist Collective. AuĂerdem zeigte er Disruptive Muzak live mit seiner Kundenberater-Installation, in London mit Dr. Jamie Woodcock und solo andernorts.
Auch wenn seine kĂŒnstlerischen Ideen und Absichten im Vordergrund jeder Diskussion ĂŒber seine Arbeit stehen, rĂ€umt Kidel ein, dass sein kreativer Prozess vor allem darin besteht, sich mit Sounds zu beschĂ€ftigen, die ihn ansprechen.   Â
âIch schĂ€tze, ich verbringe 70 Prozent der Zeit beim Produzieren damit, ohne Konzept mit Sounds zu experimentieren,â verrĂ€t er. âIch habe einen Ordner, in dem ich hunderte von Experimenten mit Ableton gespeichert habe, und die meisten werde ich wohl nie verwenden. Doch dann habe ich vielleicht irgendwann eine Idee, und sei sie noch so abstrakt, und vielleicht denke ich, âoh, dieses eine Experiment, das ich mal gemacht habe, passt genau dazu.ââ
Bei seinen Experimenten mit den verschiedensten Aspekten der Musikproduktion hat sich Kidel auch mit der Komposition durch algorithmische Muster beschĂ€ftigt, teils um abends nach der Arbeit den Synthesis-Teil seines Kreativprozesses zu vereinfachen (er unterrichtet derzeit Musikproduktion am BIMM). Die Algorithmus-Patches, fĂŒr die er eine Mischung aus Native Live und Max for Live benutzt hat, dienten als Ausgangspunkt fĂŒr die beiden StĂŒcke auf Silicon Ear.
Tanzen bis die Cyberpolizei kommt
Die A-Seite auf Silicon Ear, âLive @ Google Data Centerâ hat fĂŒr Kidel verschiedene Ausgangspunkte, unter anderem eine Einladung, etwas zu EBM(T) beizutragen, einer Art virtueller Galerie, die von Nile Koetting und Nozomu Matsumoto betrieben wird. Fasziniert von der Vorstellung eines âkĂŒnstlichen Raums im Netzâ beschĂ€ftigte sich Kidel auch mit der Idee, reale RĂ€ume mit Reverb zu simulieren.
âIch benutze hĂ€ufig Reverb, so wie jeder Elektronik-Produzent,â sagt er, âund das Reverb verleiht meist nur eine gewisse Patina, doch ursprĂŒnglich diente Reverb dazu, RĂ€ume zu simulieren. Ich fragte mich also, ob es nicht interessant wĂ€re, etwas von Bedeutung aus dieser Raumsimulation zu machen. Die abstrakte Idee war, dass ich eine Fake-Performance geben wollte in einem Raum, den ich nicht betreten kann, nur so als Spielerei.â
Zusammengesetztes Bild von Googles Datenzentrum mit Visualisierungen von im modellierten Raum widerhallendem Sound in RaySpace
WĂ€hrend die Idee Gestalt annahm, veröffentlichte Google Bilder von seinem Datenzentrum in Iowa und lieferte Kidel damit das Zielobjekt seines simulierten Hausfriedensbruchs. âEs ist schon merkwĂŒrdig: da befinden sich wahrscheinlich Unmengen wirklich privater Geheimnisse ĂŒber dich in diesen Datenzentren, aber die meisten von uns werden niemals einen FuĂ hinein setzen können,â stellt er fest. Â
Um sein Ziel zu erreichen und ein riesiges Serverlager mit Kabeltrassen und Rohrleitungen akustisch zu simulieren, benutzte Kidel einen akustischen Raumsimulator von QuikQuak mit dem Namen RaySpace. Diese vornehmlich beim Soundtrack-Design fĂŒr Video-Games und Kinofilme eingesetzte Software ermöglicht es dem User, in dem zu modellierenden Raum zu zeichnen und erzeugt ein entsprechendes Reverb.
Was den musikalischen Inhalt von  âLive @ Google Data Centerâ betrifft, wendet sich Kidel wieder seinen frĂŒheren Versuchen mit generativem MIDI zu, um den erwĂŒnschten Effekt zu erreichen, mit zu 90% ĂŒber Algorithmen erzeugten Sounds auf dem Track. âEine Inspiration fĂŒr meine Prozesse war eine Nachkonstruktion von Keith Fullerton Whitmans Generator-Platten, die groĂenEinfluss auf mich hatten,â erklĂ€rt Kidel. âAls ich mir die Alben anhörte und Live-Performances ansah, konnte ich herausfinden, dass eine Art Uhr die Töne generierte und dass ein LFO die Höhe dieser Töne bestimmte. Man hört die Töne entweder in einer Dreiecksstruktur, einer Sinuswelle oder einem rechteckigen Muster rauf- oder runtergehen.â Â
Keith Fullerton Whitmans Generator-StĂŒcke â Inspiration fĂŒr Sam Kidel
Kidel hat einige Funktionen von Fullerton Whitmans spezialangefertigten modularen Synthesizern in Live nachgebaut, mit einem Tonmodulator, einem LFO-gesteuerten Pitch-Effekt, um den Pitch und eine Reihe der zufallsgenerierten Velocity-Effekte zu steuern; letztere hat er auch beim Stimmerkennungs-DoS-Patch genutzt. AbhĂ€ngig von der Instrument-Spur und dem erwĂŒnschten Effekt können die Töne von einem Arpeggiator auf Hold erzeugt werden, durch einen sehr kurzen Loop-Clip mit vielen sehr kurzen C3-Noten darin oder von einem einfachen von ihm selbst erstellten Max-for-Live-Effekt, der C3-Noten im Takt ausgibt. Diese Reihe von Effekten steuert dann die unterschiedlichen Instrumente und Sounds, die Kidel fĂŒr das StĂŒck benutzen wollte.
âWie bei dem Keith-Fullerton-Whitman-Instrument ist das, was passiert, verhĂ€ltnismĂ€Ăig simpel, aber es ermöglicht einem, etwas zu schaffen, das sich bei jedem Mal, wenn man es spielt, weiterentwickelt,â sagt er. Â
Das Silikonohr abschalten
2018 wurde Kidel vor allem dank Disruptive Muzak zu Eavesdropping eingeladen, einem Projekt mit Events zum Thema Ăberwachung, kuratiert vom Liquid Architecture Festival in Melbourne, Australien. Â
âAuf Disruptive Muzak kommen verschiedene Arten des Lauschens vor,â erklĂ€rt Kidel. âWenn man sich das StĂŒck anhört, hört man diese Telefonate, doch andererseits werden die Telefonate ohnehin von den Call Centern aufgezeichnet⊠Vielleicht wurden sie in Meetings abgespielt, um zu besprechen, was da passiert ist und mit Sicherheit wurden sie in den Archiven gespeichert, wo alle Anrufe abgelegt werden, die in dem Call Center je gefĂŒhrt wurden.â Â
âDie Menschen haben das GefĂŒhl, dass sie stĂ€ndig belauscht werden,â beobachtet Kidel, âund ich denke, das ist neu. Ich glaube, das trĂ€gt zu diesem Bewusstsein fĂŒr Umgebung bei. Ich glaube, es gibt einen Zusammenhang zwischen Umgebung und Ăberwachung, der Liquid Architecture interessiert hat, weswegen sie mich eingeladen haben, um darĂŒber zu sprechen.â
Neben einer PrĂ€sentation von Disruptive Muzak wurde Kidel auch gebeten, ein neues Projekt fĂŒr das Eavesdropping Programm zu kreieren. Bevor er nach Australien reiste, fand er Inspiration in einer Szene aus dem deutschen Spionage-Thriller Das Leben der Anderen. Eine Figur, die vermutet, seine Wohnung sei verwanzt worden, legt eine Schallplatte auf und dreht die LautstĂ€rke hoch, um unbemerkt ein GesprĂ€ch fĂŒhren zu können. Ohne auf eine konkrete Idee hinauszulaufen, brachte die Szene etwas ins Rollen. Kidel besuchte GesprĂ€chsrunden und fĂŒhrte weitere GesprĂ€che mit Sean Dockray, der Experimente und Forschungen zum Thema Sprachsynthese und Spracherkennung durchfĂŒhrte, besonders bei âSmart-Boxenâ wie der Alexa von Amazon. Wie er herausgefunden hat, fuĂen sowohl Sprachsynthese als auch Spracherkennung auf Ă€hnlichen âDeep-Learningâ-Technologien, und seine Forschungen brachten ihn zum sogenannten âCocktailparty-Problemâ: WĂ€hrend das menschliche Ohr so ausgereift ist, dass wir in vielen Situationen eine Stimme aus einem Stimmengewirr heraushören können, selbst wenn diese Stimme leiser ist als die ĂŒbrigen, tut sich Spracherkennung schwer damit. Forscher setzen deep-learning-fĂ€hige KI ein, um diese Defizite auszugleichen, mit mĂ€Ăigem Erfolg.Â
âDas ist eine interessante Situation, in der die Stimmerkennung nur funktioniert, wenn sie eine Stimme deutlich hören kann,â erklĂ€rt Kidel, âund so begann ich mit der Idee von Stimm-Maskierung zu spielen, das sind Aufnahmen, die man benutzen kann, um das GesprĂ€ch zu verhĂŒllen, ein wenig wie das MusikstĂŒck in Das Leben der Anderen.â
Die NSA-Leaks waren eine reiche Informationsquelle zum Thema Stimmerkennung, aber genauso viel Inspiration fĂŒr Kidels Entwicklung einer âStimm-Maskierungâ lieferte ein Hacker-Tool, bekannt als Low Orbit Ion Cannon, eine Open-Source-Anwendung, die Webseiten zusammenbrechen lassen oder verlangsamen kann, indem sie sie mit Fake-Anfragen bombardiert (auch bekannt als âDenial-of-Serviceâ- oder DoS-Angriff). Â
âIch arbeitete mit Fragmenten von Stimmen,â sagt er, âund dachte, okay, effektiver als einfach natĂŒrliche Sprachsequenzen ĂŒbereinander zu legen, wĂ€re es, Unmengen von Sprachfragmenten zur Verwirrung einzusetzen, denn das fĂŒhrt dazu, dass die Spracherkennungssoftware jedes Fragment einzeln analysieren mĂŒsste und schwer damit zu kĂ€mpfen hĂ€tte, ĂŒberhaupt irgendeine Sprache zu identifizieren.â
Anwendungen fĂŒr Spracherkennungssoftware sind online verfĂŒgbar, einschlieĂlich der Funktion fĂŒr Sprache-zu-Text in Google Docs und dem ausgefeilteren IBM Watson. Diese zielen darauf, einzelne Stimmen basierend auf der Tonhöhe zu herauszufiltern, doch diese der Allgemeinheit zugĂ€nglichen Services haben ihre Grenzen, besonders wenn sie mit einer ganzen Flut von Stimmen gleichzeitig konfrontiert werden. Aufbauend auf diesen Gedanken fĂŒhrten Kidels Forschungen ihn dazu, mit Phonemen, den kleinsten sprachlichen Einheiten, zu arbeiten und diese schnell in unterschiedlichen Tonhöhen abzuspielen, um die Software beim Versuch, alle Sprecher zu identifizieren, zum Absturz zu bringen. Dahinter steht die Idee, dass ein solches Aufgebot von Sounds abgespielt wĂŒrde, wĂ€hrend man sprĂ€che, dass es der Software unmöglich wĂ€re, den Inhalt des GesprĂ€chs zu identifizieren. Â
Die einfache Wiederholung seines Stimmerkennungs-DoS-Patches besteht aus Vocalese, einem Plug-In fĂŒr Max for Live aus der Cycling â74 Pluggo Collection, das als Synthesizer fĂŒr Phonem-Playbacks dient. Um Vocalese zu steuern, stĂŒtzte sich Kidel auf auf seine zuvor beschriebenen Versuche mit algorithmischer MIDI-Generierung, um die Art energetisches Soundgestöber zu erzeugen, das er sich vorstellte. Die Effektkette beginnt mit einem randomisierten Arpeggiator, gefolgt von einem Trio von Velocity-Effekten, das per Zufallsprinzip einige Töne aus dem Arpeggiator herausfiltert, um den Grad an Unvorhersehbarkeit noch zu steigern. Das Vocalese spielt unterschiedliche Phoneme auf unterschiedlichen Tonhöhen, abgefeuert von dieser Reihe von MIDI-Tools, mit einem Max-for-Live-LFO, um die Geschwindigkeit, Tonhöhe der Phoneme zufĂ€llig zu gestalten.     Â
In dieser Phase wird noch immer nur ein Phonem zugleich abgespielt; um also mehr KomplexitĂ€t zu erreichen, fĂŒgte Kidel seinem Patch noch den IM-Freezer [vom IRCAMAX 2 Pack] hinzu. Der Sample-Ă€hnliche, von Ircam designte Effekt verfĂŒgt ĂŒber einen Buffer, der das Signal des Vocalese aufzeichnet und es dann wieder in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ĂŒber das Original abspielt. Â
Live 10 und Max for Live sind erforderlich
âDer IM-Freezer benutzt Granularsynthese und FFT-Resynthese,â erklĂ€rt Kidel, âund das bedeutet, man kann das Audio extrem schnell oder extrem langsam abspielen, ohne die Verzerrungen, die man bei einem konventionellen Sampler hĂ€tte. Es gibt verschiedene Arten von Verzerrung, die sehr metallisch und merkwĂŒrdig klingen. Dieses AudiostĂŒck beschĂ€ftigt sich so sehr mit den Dingen, die gerade jetzt passieren, dass ich es angebracht fand, Bearbeitungstechniken anzuwenden, die es so zeitgemÀà klingen lieĂen, dass es sich ein schon bisschen fremdartig anfĂŒhlt. Da es keine Gratis-Version des IRCAMAX Effekts gibt, habe ich es mit ein paar Plug-ins ersetzt, die das Signal auf Ă€hnlicher Art bearbeiten.â Â
Kidel testete jede Version seines Patches mit IBM Watson und fand heraus, dass die LautstĂ€rke des Patches an die LautstĂ€rke seiner Stimme angepasst werden musste, und am besten funktionierte es, wenn die Phoneme der Tonhöhe seiner eigenen Stimme Ă€hnelten. Als es daran ging, das Ganze als MusikstĂŒck auf Silicon Ear zu prĂ€sentieren, spielte er die MIDI-Noten auf dem Patch zu Beginn ein wenig langsamer ab und brachte einige Töne und Percussion ein, um das Ergebnis musikalischer klingen zu lassen. Â
âIch schĂ€tze, dies hier ist ein Balanceakt zwischen einem MusikstĂŒck und einer Aufzeichnung der AktivitĂ€t einer Software,â ĂŒberlegt Kidel. âEs ist ein MusikstĂŒck â man soll es sich anhören, und seine Funktion ist vor allen Dingen, eine Reihe von Fragen ĂŒber moderne Ăberwachung zu stellen, mehr noch als etwas zu liefern, was die Leute benutzen können. Also, sie könnten es schon benutzen, aber das ist nicht meine PrioritĂ€t.â
Die groĂen Themen hinter der Musik
Kidel beschreibt seine simulierte Live-Performance von âLive @ Google Data Centerâ als âKammermusik trifft auf Freie-Party-Szene-stĂŒrmt-Lagerhalleâ, bei dem der Neuigkeitswert nicht nur darin besteht, einen heftig-harten Techno-Track zu produzieren, um diesen so klingen zu lassen, als hĂ€tte ein tatsĂ€chlicher Rave stattgefunden. Stattdessen findet man sich in einer wohlklingenden Dichotomie zwischen filigranen KlĂ€ngen, melodischen Pads und harten metallischen Hits, die unsere komplizierte Beziehung mit persönlichen Daten und unseren digitalen Gatekeepern widerspiegeln sollen.
âIn der Musik entsteht eine gewisse Spannung, die ein gewissermaĂen die Spannung reflektiert, die ich bei der Betrachtung dieses Fotos des Datenzentrums empfand,â sagt Kidel. In der Tat hatte das Bild etwas sehr Anziehendes an sich. Es sah aus wie eine coolere Version des Inneren des Todessterns. Ich denke, viele Menschen stehen den neuen Technologien mit einer solchen Ambivalenz gegenĂŒber. Sie haben etwas wirklich Faszinierendes und Verlockendes an sich und zugleich etwas wirklich BeĂ€ngstigendes, und diese beiden GefĂŒhle sind recht schwer zu fassen. In dem Sound habe ich versucht, das abzubilden.â
âIch denke, viele Menschen haben ein GefĂŒhl von Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit angesichts der ansteigenden Ăberwachung und Datenspeicherung,â fĂŒgt er hinzu. âDieses GefĂŒhl der Ausweglosigkeit ist schwer abzuschĂŒtteln, und es ist geradezu lĂ€hmend. Ein Grund fĂŒr mein Interesse an den beiden Seiten der Platte, âLive @ Google Data Centerâ und dem Stimmerkennungs-Hack ist, dass sie beginnt, damit zu spielen und nahelegt, dass es Möglichkeiten gibt, unseren Umgang mit diesen Entwicklungen zu verĂ€ndern. Selbst wenn es sich wie im Fall von âLive @ Google Data Centerâ um einen Fake-Gig handelt, fĂŒhlt es sich ein wenig so an, als verĂ€ndere sich mein VerhĂ€ltnis zur Existenz dieser Einrichtungen.â
Die Wirkung einer imaginĂ€ren SicherheitslĂŒcke bei Google mag eher auf der intellektuellen oder emotionalen Ebene Wirkung zeigen, doch das Stimmerkennungs-DOS-Patch ist ein handfestes praktisches Werkzeug. Seine Anwendung mag ihre Grenzen haben â es wĂŒrde lediglich zur Tarnung eines GesprĂ€chs dienen, wenn es manuell und in der korrekten LautstĂ€rke parallel zu einem GesprĂ€ch abgespielt wĂŒrde â aber es thematisiert eines der zentralen Probleme der Stimmerkennung. Aus Informationen aus den NSA-Leaks weiĂ Kidel, dass das Bild vom FBI-Agenten, der sich durch tonnenweise belangloser Konversationen wĂŒhlt, zwar nicht zutreffend ist; was die Spracherkennung allerdings tut, ist, Audioquellen nach bestimmten SchlĂŒsselworten zu scannen, und wenn genĂŒgend dieser SchlĂŒsselworte erkannt werden, kann das Audio an eine tatsĂ€chliche Person zur Untersuchung weitergegeben werden. Bei richtiger Anwendung kann der Stimmerkennungs-Hack dafĂŒr sorgen, dass diese SchlĂŒsselworte nicht aufspĂŒrbar sind.
Eines der meistverbreiteten Argumente fĂŒr flĂ€chendeckende Ăberwachung ist das abgedroschene Diktum: âwenn du nichts zu verbergen hast, hast du nichts zu befĂŒrchtenâ. Kidel betont, dass Mittel wie Stimmerkennung bereits eingesetzt werden, um bestehende MachtgefĂ€lle innerhalb der Gesellschaft zu verfestigen, mit Besorgnis erregenden Konsequenzen.
âFĂŒr mich als weiĂen Mann ist es vermutlich kein Problem, dabei aufgenommen zu werden, wie ich etwas sage wie, âdie MilitĂ€raktionen von GroĂbritannien und den USA im Mittleren Osten sind eine Form von Imperialismus,â sagt Kidel. âAber fĂŒr jemanden, der muslimisch und schwarz ist, wĂ€re eine solche Aussage durchaus riskant. Wir wissen, dass [die britische Anti-Terror-Strategie] Prevent unverhĂ€ltnismĂ€Ăig viele Muslime abhört, und kĂŒrzlich erschien ein Bericht, aus dem hervorgeht, dass diese sich in verschiedensten Situationen online und offline viel eher selbst zensieren, infolge dieser Ăberwachung.â   Â
Ăber das unmittelbare Szenario von Massendatenspeicherung durch soziale Medien und Spracherkennung (um nur wenige offensichtliche Beispiele zu nennen) hinaus kĂŒndigen sich noch unheilvollere technologische Entwicklungen an. Private Krankenversicherer in den den USA bieten bereits Bonuszahlungen fĂŒr Personen an, die ihre Gesundheit mit Fitbit-GerĂ€ten nachverfolgen lassen â die mögliche Folge, nĂ€mlich dass sich die Ungleichheit in der Gesellschaft in Bezug auf Zugang zu medizinischer Versorgung noch verschĂ€rft, ist offensichtlich.
Unter den PrĂ€sentationen, an denen Kidel bei der Eavesdropping-Konferenz teilnahm, war eine von Glenn Dickins, Konvergenz-Architekt bei den Dolby Laboratories in Sydney, dessen Job die Entwicklung von Innovationen erfordert, die den Marktwert der Firma fĂŒr Soundtechnologie steigern. Er hatte die Idee, dass Dolby mit der Verbreitung von Smarttechnologie in Telefonen, Fernsehern, Toastern uvm. danach strebt, in alle Smart-GerĂ€te Mikrofone einzubauen, doch noch radikaler: dass diese Mikrofone immer eingeschaltet und immer zugĂ€nglich sein sollten, und zwar fĂŒr jeden, ĂŒberall auf der Welt.
âEr pries seine Idee als eine Art Utopie an, dass jeder Zugang zu allen Mikrofonen auf der Welt haben wĂŒrde, aber es fĂŒhlte sich eher an wie eine Schreckensvision,â sagt Kidel. âIch nehme an, er dachte, das wĂŒrde auf diese Weise eher egalitĂ€r und harmlos klingen. Was wir nun zu verstehen beginnen, ist, dass Datenverarbeitung sich so sehr im Alltag ausbreiten wird, dass einfach alles gemessen und beziffert wird, und das ist wirklich erschreckend.â
Bei dem Tempo, mit dem diese unheimlichen technologischen Entwicklungen RealitĂ€t werden, wird Kidel so schnell nicht das Material fĂŒr seine sozialkritischen Kreativprojekte ausgehen. WĂ€hrend er sich der begrenzten Reichweite seiner elektronischen Musik im Leftfield bewusst ist, so hat er auch augenscheinlich eine Gabe dafĂŒr, komplexe oder beunruhigende Gedanken auf fesselnde Weise zu vermitteln. Derzeit macht er eine Weiterbildung zum Researcher, um seine Arbeit auf Gebiete ĂŒber die Musik hinaus zu erweitern, und er ist optimistisch, dass beide Disziplinen einander in der Zukunft ergĂ€nzen werden. Einstweilen kommt seiner Musik die bedeutende Rolle zu, einige der eher dĂŒsteren Aspekte des modernen Lebens anzugehen, indem sie Konzept und Anwendung einfallsreich und ĂŒberzeugend miteinander kombiniert.
âEs geht nur darum, Fragen zu stellen,â erklĂ€rt er, âund das BedĂŒrfnis zu verbreiten, diesen technischen Systemen zuzusetzen, sie zu zerstören.â
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