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Seile, Felder, Wellen: Wie Celia Hollander die Zeit durch Klang formt
Eine schmale Treppe führt in Celia Hollanders Wohnung in Highland Park, Los Angeles. Das kompakte, modulare Studio zeugt von einem Bedürfnis nach funktionaler Flexibilität, die Umgebung scheint sich ganz den Regeln des Sounds zu beugen. Illustrationen, alle von derselben Hand gezeichnet, überziehen die lichtgesprenkelten Wände. Als Celia sie zum ersten Mal zu Gesicht bekam, erkannte sie verwundert ihre eigene zeichnerische Handschrift. Bald fand sie heraus, dass die Illustrationen von ihrem Großvater stammen – einem Mann, den sie nie kennengelernt hatte, dessen Hand sich jedoch über die Generationen hinweg auf die ihre legte. Es war, als hätte sich die Textur der Zeit verzerrt und Celia durch ihre Erinnerungen und Träume hindurch in ein größeres Kontinuum eingebunden.
“6:33 AM” - der Lead-Track von Timekeeper von Celia Hollander
Celia war immer schon vom Gefühl fasziniert, das die Zeichen der Zeit in uns auslösen, und filtert jenes Gefühl in ihrer Musik. Einstein fand heraus, dass die Zeit relativ ist und ihr Fluss von der Geschwindigkeit unserer eigenen Bewegungen abhängt. 2020, als die ganze Welt ins Stottern geriet, verwischte sich die Wahrnehmung von Zeit in besonderem Maße. Für die Komponistin, die einen Hintergrund in der Architektur hat, hatten Zeit und Raum auch zuvor eine wichtige Rolle gespielt. Doch erst im Schwebezustand der COVID-19-Pandemie begann sie, sich in ihrer kompositorischen Praxis intentional mit Kategorien der Zeit auseinanderzusetzen, um ihren Erfahrungen Sinn zu geben – sie entwickelte auditive Werkzeuge, um die Zeit zu verbiegen.
Ein Ergebnis dieser Näherungen war Timekeeper, ein Album mit 12 Tracks, das 2021 auf Leaving Records veröffentlicht wurde. Celia beschwört darauf eine Art liquider Ambient-Umgebung herauf, in der üppige, polyrhythmische Ströme einschießen und wieder verschwinden, sich dabei aber immer anfühlen, als hätten sie die schon von Beginn an durch den Raum bewegt.
Celia und ich trafen uns in ihrem Studio zu einem Gespräch. Wir sprachen über ihre Beziehung zur Zeit und darüber, wie sie sich ihr in ihren musikalischen Praxen nähert.
Gibt es irgendeinen frühen Schlüsselmoment mit der Zeit, der dich fasziniert hat?
Ich habe Architektur studiert und war immer vom Faktor der Zeit in der Architektur fasziniert. Ich fand es super spannend, sich ein Gebäude als etwas Lebendiges vorzustellen – es wird konzipiert, dann gebaut, dann benutzt. Es verändert sich mit der Zeit, vor allem abhängig von der Art seiner Benutzung. Und darauf haben dann alle meine Forschungs- und Kreativprojekte aufgebaut: Wie eine physische Struktur mit der Zeit geformt werden kann, durch physische Kräfte, natürliche Kräfte, Naturkatastrophen, aber auch einfach abhängig davon, wie ein Mensch damit umgeht. Und irgendwann dachte ich mir, ich interessiere mich mehr für Zeit als für Architektur. Architektur ist ein Gefäß für die Zeit. Und ich habe mich schon immer für Musik interessiert, und Musik ist ein ultimativ zeitliches Medium. Alle Musiker:innen, Komponist:innen, Performer:innen und Produzent:innen setzen sich damit auseinander.
Wenn du in deiner freien Zeit Musik machst, gibt es dann ein Gefühl der Ruhe, das dich anzieht – so wie ein Metronom, das du langsamer machst, um dich selbst zur Ruhe zu bringen?
Definitiv. Einer der tollsten Aspekte des Daseins als Computer-Musikerin ist, dass man sich wirklich in seine eigene Musik legen kann. Wenn ich am Rechner arbeite, gestalte ich manchmal eine Palette von Klangfarben und mache ein paar Loops und lasse die dann für Stunden an, gehe ins Nebenzimmer und lese und höre die durch die Wand und lasse sie einfach laufen, um sie kennenzulernen und tief mit ihnen vertraut zu werden. Und dann, vielleicht am nächsten Morgen, kommt der nächste Part dazu.
Wenn ich ganz ruhig und geerdet bin, mache ich eher texturale, polyrhythmische, stimulierende Musik in einem höheren BPM-Bereich. Und in anderen Momenten, zum Beispiel, wenn ich unruhig bin, ist die Musik, die rauskommt, das genaue Gegenteil davon – extrem geerdet und langgezogen. In meiner Jugend in L.A. habe ich immer extrem düstere und aggressive Sachen gehört. Dann ging ich an die Ostküste aufs College, was ein krasser Kulturschock war. Alles war so kalt und roh, und ich konnte nur noch Synthpop und warme, fröhliche Musik hören. Die Musik, die ich in der Sonne in Los Angeles so leidenschaftlich gehört hatte, ertrug ich einfach nicht mehr. Und ich bin sicher, dass das kein Zufall ist.
Einer der tollsten Aspekte des Daseins als Computer-Musikerin ist, dass man sich wirklich in seine eigene Musik legen kann
Es ist spannend, das Tempo der Musik, die man macht, als eine Umdrehung des eigenen inneren Zustands zu begreifen. Wenn du angespannt oder gestresst bist und runterfahren willst: gibt es Methoden, wie du als Musikerin bewusst die Zeit verlangsamen oder beschleunigen kannst? Steht das immer im Zusammenhang mit dem Tempo, oder kannst du sowas auch auf anderem Wege erreichen?
Da gibt es so viele verschiedene Möglichkeiten. Und es ist so komplex, weil natürlich wirkt die BPM-Zahl erstmal wie die naheliegendste Option, aber es gibt Genres, die nach der BPM-Zahl total schnell sind, sich aber trotzdem sehr langsam anfühlen. Manchmal fühlt sich Footwork so an, weil die diese Triolen einstreuen, und dann gibt’s da diesen rückwärtsgewandten Strobo-Effekt, mit dem es sich anfühlt, als würde man nach hinten stolpern.
Wie eine auditive Illusion.
Genau. Die Geschwindigkeit ist rasant, aber eben nicht Four-to-the-floor. [Die Musik] ist super komplex, und Dinge interagieren miteinander. Und manchmal fühlt sie sich auf eine komische Art fast langsam an. Also muss man sagen, dass die Wahrnehmung dessen, was sich schnell, langsam, vorwärts- oder rückwärtsgewandt, nach oben, nach unten, beschleunigend oder verlangsamend anfühlt, auf einer komplexen Kombination der Dinge beruht, die Musik ausmachen: BPM, Frequenz, Harmonie, Melodie, Textur, Dissonanz, Konsonanz. Ich habe da keine Formel gefunden – habe mich aber auf die hehre Aufgabe eingelassen, daran zu basteln.
Orientierst du dich dabei vor allem an deiner eigenen inneren Uhr oder machst du dir Gedanken darüber, wie andere dazu stehen könnten?
Ja, das ist 100 % subjektiv. Ich glaube, das ist auch ein spannender Faktor für den Mix; die Art, wie man Musik wahrnimmt, ist bei jedem Menschen so subjektiv und so unterschiedlich. Und auch für mich kann sich im Laufe eines Tages die Art ändern, auf die ich Musik wahrnehme. Ich habe zum Beispiel mal einen Song gemacht und abends daran gearbeitet, und ich dachte mir so, der ist perfekt, alles passt genau. Und als ich den dann am nächsten Morgen beim Autofahren angehört habe, ausgeschlafen und koffeiniert, dachte ich mir: der ist viel zu schnell, außer Kontrolle. Ich muss sowas also in Bezug auf mich selbst rausfinden, weil meine Wahrnehmung so stark variiert, und am Ende geht es hier um Kunst, nicht um Wissenschaft.
Erzähl uns doch ein bisschen was über dein Album Timekeeper und die Auseinandersetzung mit Zeit und Raum darin.
Timekeeper war das Ergebnis des ersten Pandemiejahres, als meine physischen Orientierungspunkte brüchig wurden, weil ich das Haus nicht verlassen habe und einfach mit der Zeit alleingelassen war, also in Bezug darauf, wie sich Sachen im Laufe eines Tages veränderten. Ich habe an einem Cluster von melodiebasierten Songs gearbeitet, dann an einem anderen, auf Harmonien oder Akkordwellen basierendem Cluster, und an anderen, in denen es nur um ASMR-Texturen ging, um Zufälligkeiten. Und dann habe ich angefangen, die zu unterteilen in erste, zweite und dritte Perspektiven der Zeitwahrnehmung. Und dann habe ich auf Basis dieser Definition versucht, die drei Zeitwahrnehmungen weiter in der Musik zu definieren. So gut ich konnte.
Du hast eine Übersicht über diese drei Kategorien erstellt. Hast du das skizziert, um das Konzept deinem Publikum näherzubringen oder sollte dir das eher dabei helfen, deine Komposition zu kodieren und zu steuern?
Das war auf jeden Fall ein persönliches Ding, und dann habe ich beschlossen, das auf Instagram zu posten. Die erste Kategorie nannte ich „Seile”, eine Zeitwahrnehmung in der ersten Person, lineare Zeit mit einem Anfang und einem Ende. Das ist, wie wenn man einen Radweg fährt: Man weiß, wenn man weiterfährt, ist man irgendwann an Punkt B. Das hat einen Tunnelblick-Effekt. Musikalisch gesehen basiert diese Art der Kompositionsstrategie auf Melodien. Ich sage „Seile” dazu, weil ich mir das als eine Linie vom Anfang bis zum Ende vorstelle.
„1:17 PM” – Ein Beispiel für das, was Ceila Hollander einen Seil-Track nennt
Die zweite Kategorie, Wellen, beschreibt eine Zeitwahrnehmung in der zweiten Person, Zeit, die dir passiert. Damit sind die größeren Faktoren gemeint, die unseren Sinn von Zeit beeinflussen. Das kann eine Pandemie sein, auf einer Party zu sein oder all die Dinge, die unsere Zeitwahrnehmung irgendwie beeinflussen. Ich habe das Wellen genannt, weil eine Welle nur ein Energietransfer ist, und man kann darauf surfen, sie bekämpfen oder darunter durchtauchen. Und deshalb haben diese Wellen musikalisch gesehen dichte harmonische Cluster. „5:59 PM” ist ein Wellen-Song, der nur aus tiefen Swells besteht. Es gibt einen melodischen Part, der über allem tanzt, und für mich ist das so, als würde er diese Wellen reiten.
Die letzte Kategorie schließlich ist „Felder”, die Perspektive aus der dritten Person, wie eine 360-Grad-Ansicht auf die Zeit. Räumlich gesehen bedeutet das, dass man um sich herum in alle Richtungen schauen kann. Und zeitlich gesehen stelle ich mir das vor, als könne man die Vergangenheit und die Zukunft als eins betrachten. Dieser Standpunkt ist sehr kosmisch. Das ist man als Baby und dann als älterer Mensch, als dieselbe Entität, die auf diese Weise mit sich verbunden ist. Wenn Seile die lineare Zeit repräsentieren, sind Felder zyklisch. Und wenn Seile auf dem Bewusstsein basieren, sind Felder unbewusst. Ich habe die Felder so genannt, weil ich mir vorstelle, klanglich in einem Feld zu stehen und alles um mich herum zu hören, vor allem aber, in der Lage zu sein, Dinge zu hören, die sehr nah und gleichzeitig sehr weit weg sind. Es kann also sein, dass man ein vorüberfliegendes Flugzeug hört, super weit weg und außerhalb der eigenen Reichweite, während man gleichzeitig Grillen genau neben einem hört, und das Rascheln eines Baumes, der ganz weit weg ist. Es geht also darum, in Dimension und Ausmaß die 360 Grad zu erreichen, und auf Timekeeper sind die dazugehörigen Songs eher textural, zufällig und ASMR-mäßig.
“11:01 PM” – a Fields composition
Gibt es Tools und Techniken, die sich zum Formen jeweils einer dieser spezifischen Kategorien eignen?
Die Seile entstanden im Wesentlichen durch Improvisationen auf einem MIDI-Keyboard, wo ich eine Melodie isoliert habe, ein lineares, fortlaufendes Klavier in Bewegung. Die Wellen sind in einem richtig stupiden Computerprozess entstanden, den ich erklären kann, wenn du willst… ich habe ein bisschen Angst davor, das zu erklären.
Denk dir das vom Standpunkt des Feldes aus und geh einen Schritt zurück… Das Album ist ja schon fertig.
Naja, ich wollte unbedingt Akkordfolgen entwickeln, die sich anfühlen, als würden sie aufgelöst, aber weder nach Dur oder nach Moll klingen, und sich auch nicht einfach bestimmen lassen. Ich wollte sie auf eine vage, verschwommene Weise platzieren, ohne dass sie einander verdecken. Also ohne ein Verdunkeln oder irgendwelche Effekte. Allein durch Tonhöhe, Klang und Timbre entstanden diese dichten harmonischen Cluster, die eher suggestiv als verworren sind, die Akkorde wirken eher wie eine Frage als eine Aussage. Und ich konnte die nicht mit meinen eigenen Händen spielen, wegen meines Muskelgedächtnisses und den damit verbundenen Vorstellungen, wo meine Hände sich für Jazz-Akkorde hinbewegen sollen, und wie das klingen soll.
Wenn ich programmieren könnte, gäbe es wahrscheinlich eine ziemlich elegante Lösung für sowas. Kann ich aber nicht. Was ich also mache: Sagen wir mal, ich arbeite mit einem Flöten-Sample. Aus dem Sample habe ich ungefähr acht Spuren gemacht. Jedes davon habe ich nach dem Zufallsprinzip zwischen minus und plus 14 Cent verstimmt. Dann habe ich auf jeder Spur zwei Noten gleichzeitig auf dem Keyboard gespielt, fünf Minuten lang. Und dann bin ich zur nächsten Spur gegangen, ohne mir die zuvor anzuhören, habe die aber über die MIDI-Blocks visuell schon wahrgenommen. Und das habe ich etwa acht mal gemacht, und dabei kamen zufällig generierte Akkorde raus.
Ich habe mir das dann angehört, und einige davon klangen total normal, andere total dissonant und manche fand ich einfach wahnsinnig schön, die hätte ich mit meinen eigenen Händen nie hinbekommen. Also habe ich die alle isoliert und neu arrangiert und versucht, sie für genau den Song zu dritt anzuordnen. Ich denke mir: wenn es in dem Song ausschließlich um Akkorde und harmonische Cluster geht, dann will ich auch wirklich rausfinden, was ich daraus alles machen kann. Also ja, es geht hier definitiv eher um eine Kollaboration zwischen Mensch und Computer.
Und zu den Feldern: die sind alle aus ein paar verschieden langen Loops entstanden, die ich kreisen ließ. Das ist eine Brian-Eno-Strategie.
Weniger arbeitsintensiv, aber genauso erfüllend?
Naja, das kann auch mehr Arbeit sein. Für mich ist das manchmal mehr ein Prozess, in dem ich so viel mache, wie ich kann, und Dinge dann wieder abtrage. Ich habe nicht versucht, dichte Wälder zu erschaffen, sondern hatte eher ein „Feld bei Dämmerung” im Sinn. Das war eine recht subtraktive Praxis. Es ist nämlich relativ einfach, eine Menge Sounds zu erzeugen und sie in zufälligen Loops zu schichten, kann dann aber ziemlich viel Zeit kosten, herauszufinden, wann sich das Ikebana einer Frequenz oder eines Timings richtig anfühlt – oder was ich mir sonst so an manischen Aufgaben auferlegt habe.
Fühlst du dich wohl mit der Zeit, und mit dem Verhältnis, das du als Musikerin dazu hast?
Zeit ist bei mir mit vielen Ängsten verbunden, und ich neige dazu, Dinge verstehen zu wollen, wenn sie in mir Angst oder Unwohlsein auslösen. Daraus ist eine wirklich faszinierende Praxis entstanden, ein paar praktische Übungen und eine eigene Art der Schönheit. Ich würde aber lügen, wenn ich sagen würde, dass es da nicht auch Untertöne purer Verwirrung gegeben hätte. Sich der Zeit zu stellen bedeutet, sich der Sterblichkeit zu stellen. Sie ist eine Ressource, die sich nicht wiederherstellt. Mein Ziel ist, glaube ich, ein entspanntes Verhältnis dazu zu entwickeln.
Text und Interview: Mark McNeill
Fotos: Alex Tyson
Dies ist die gekürzte Version eines Textes, der ursprünglich auf Englisch erschienen ist.
Mehr zu Celia Hollander gibt es auf ihrer Webseite, Instagram und Bandcamp