Roar: Das neue Sound-Kraftwerk in Live 12
Wer einem Sound zu mehr Charakter verhelfen will, hat mit Sättigung und Verzerrung zwei kraftvolle Tools an der Hand. Sie können einer akustischen Gitarre subtile Wärme verleihen, dazu beitragen, dass Vocals sich in einem bewegten Mix durchsetzen oder eine Synthesizer-Line in eine chaotische Sound-Mauer verzerren. Roar ist ein Tool in Live 12, das mit dem Anspruch entwickelt wurde, diese sonst eher statischen Effekte mit einem experimentellen Ansatz zu denken.
Wenn ein Signal in Roar geschickt wird, kann es drei verschiedene Stadien der Verarbeitung durchlaufen: Nach verschiedenen, addierbaren Sättigungskurven und Filtern stößt der Sound auf Feedback und Kompression. Die Architektur der Anwendung ist dabei auf flexibles Routing und Modulation angelegt und bringt neue Dimensionen der Bewegung und des Ausdrucks in Sounds – für musikalisch und technisch anspruchsvolle Ergebnisse.
Sounds bewegen
„Ich habe viel Trance-Musik wie Infected Mushroom gehört,” sagt Marco Fink, der Hauptentwickler von Roar, „und da haben die permanent diese weirden Modulationen mit der Lautstärke und dem Panning, durch die alles sich bewegt und spannend bleibt.”
Um 2021 herum begann Fink über die Limitationen der statischen Sättigung und Verzerrung nachzudenken, und darüber, wie wegweisende Psy-Trance-Prozent:innen so viel kinetische Energie in ihre Musik brachten. Sogar in hypermoderner und von digitalen Technologien geprägter Musik hatte der Sound Qualitäten, die der Liebe zu analogen Signalen huldigten.
„Leute reden ja oft davon, wie warm und dynamisch analoge Sachen sind. Das liegt vor allem daran, dass die Sättigungs-Kurve im analogen Bereich nie statisch ist,” erklärt Fink. „Es gibt immer eine Interaktion mit anderen Komponenten, und die eigentliche Kurve eines Röhren-Amp oder eines Gitarren-Amp ändert sich, sobald man etwas spielt.”
Ebenfalls auf Finks Kappe ging der beliebte Echo-Effekt. So wie die Anwendung die Essenz eines klassischen Tape-Delays destilliert und um mehr Möglichkeiten fürs Sounddesign erweitert hat, wollte Fink nun den reichhaltigen Charakter von Vintage-Signalketten einfangen und diese mit neuen experimentellen Ansätzen kombinieren – mit dem Ziel, ein riesiges neues Potenzial in punkto Steuerbarkeit und Manipulationsmöglichkeiten zu schaffen.
Flexibles Routing
Ein wichtiger Einfluss auf Finks Denkprozess war – neben Psy-Trance – der von Mick Gordon produzierte Soundtrack für das Videospiel „Doom” von 2016.
„Ich habe recherchiert, wie manche der irren Sounds auf dem Doom-Soundtrack entstanden sind,” erklärt Fink, „und eine Technik war, vier parallele Effektketten von Distortions, Kompressoren, einem Reverb und einem physischen Feedback-Loop zu nutzen und das zu einem reichhaltigen und krassen Sound zu mischen. Das hat mich dann zum Nachdenken über flexibles Routing angeregt, und darüber, verschiedene Verzerrungen parallel zu verschiedenen Filtern nutzen zu können.”
So wie jedes andere Tool in Live 12 ist die Oberfläche von Roar darauf ausgelegt, mit nur wenigen Reglern spannende Ergebnisse zu erzeugen. Werden die verschiedenen Bereiche jedoch aufgeklappt, legen sie ein komplexes Netzwerk von Parametern und Routing-Optionen offen. Finks anfängliche Skizze von Roar enthielt mehrere Distortion-Kurventypen mit dazugehörigen Filtern, LFOs und Hüllkurven als Modulationsquellen sowie eine Modulationsmatrix, die verschiedene Interaktionen zwischen Teilen der Anwendung ermöglichte.
"Was wir uns anfangs nicht vorstellen konnten, ist, wie viel Spaß es macht, Rückkopplungen zu haben, die zeitlich gesteuert und synchronisiert werden können und alle möglichen unangenehmen Effekte erzeugen", erzählt Fink.
Kurven
Roar bearbeitet jeden empfangenen Sound mit Verzerrungskurven, die Shaper genannt werden. Anwender:innen haben die Wahl zwischen einem Shaper, zwei seriell oder parallel geschalteten Shapern, drei auf MultiBand eingestellten Shapern, die tiefe, mittlere und hohe Frequenzen abdecken, einem Paar, das für die Bearbeitung von Mitten und Seiten eingestellt ist, oder einem speziellen Feedback-Routing.
Die Shaper können auf 12 verschiedene Formen eingestellt werden, von Soft Sine und Diode Clipper bis hin zu Tube Preamp und Shards.
„Für uns war es wichtig, wirklich verschiedene Geschmacksrichtungen zu haben", erklärt Fink. „Wir haben virtuell-analoge Modelle wie Diode Clipper und Tube Preamp, und die letzten wie Polynomial, Fractal, Noise Injection und Shards sind einfach weird und besonders – solche Kurven habe ich noch nie gesehen."
Jede Kurve erzeugt ihre eigenen, einzigartigen Artefakte auf dem Signal. Für Marco Tonni war es jedoch das Hinzufügen eines Filters nach jedem einzelnen Shaper, das ihn als Musiker am meisten begeisterte. Tonni leitete das Team, das Roar entwickelt und gestaltet hat.
„Einen Shaper mit einem Filter zu koppeln, halte ich für genial", erklärt Tonni, "denn wenn man das Signal verzerrt, entstehen natürlich Obertöne, aber man mag nicht alle. Meistens mag man die ersten Obertöne und dann fängt es an, dünn und blechern zu klingen. Man könnte natürlich einen EQ nachschalten, aber wenn ich Musik mache, bin ich dafür zu faul. Eine schöne Kurve mit einem Filter im selben Block zu haben, das ist ein Game Changer".
Fink spielt schon sein ganzes Leben Gitarre, während Tonni mehr Erfahrung mit Beats und Synthesizern mitbringt. Einig sind sich beide darin, dass Roar das Beste erreicht, was man mit einem sauberen Signal machen kann, das nicht schon zu viele Obertöne hat. Wo er früher fürs Sounddesign eher auf einen Synthesizer zurückgegriffen hätte, nutzt Tonni jetzt gerne Roar, mit dem er verschiedene Arten von Sounds erzeugt.
„So fange ich jetzt sehr oft mit einer neuen Idee an", erklärt er. „Ich beginne eine Skizze mit einer einfachen Sinuswelle und sowas wie einem großen Arpeggio, und dann benutze ich Roar als Waveshaper."
Modulation
Ein Vorteil der in das Tool eingebetteten Multimode-Filter ist die Möglichkeit, Parameter im Zusammenspiel mit anderen Teilen von Roar zu modulieren. Wer den Modulationsbereich aufklappt, sieht, wie sich die Bewegung des Klangs mit zwei verschiedenen LFOs, einem Envelope-Follower und einer Rauschquelle steuern lässt.
„Ursprünglich waren die LFOs keine richtigen LFOs", verrät Tonni. „Das waren im Grunde Dinger, mit denen man Breakpoints hinzufügen und Formen erzeugen und sogar die Position dieser Breakpoints randomisieren konnte. Es war dann, als könnten wir nicht mehr ohne die leben, aber tatsächlich wurde Roar besser, sobald wir uns auf einfachere Formen beschränkten – weil wir andere Möglichkeiten fanden, diese LFOs zu animieren, wie das Morphing, das Marco gebaut hat."
Wer mit Modulationen vertraut ist, wird die Regler relativ einfach bedienen können. Der Morphing-Regler an den LFOs ist jedoch eine besonders spannende Ergänzung, mit der die Form klassischer Wellenformen wie Rechteck, Sinus und Ramp angepasst werden kann.
Die Modulationsmatrix ist das kreative Herzstück von Roar. Sie bietet eine übersichtliche Tabelle, über die jede beliebige Modulationsmenge aus den vier Quellen auf alle Regler des Geräts angewandt werden können, auch auf die anderen Modulationsquellen. Diese übergreifende Signalmanipulation ist es, die Sound in etwas völlig Unbekanntes und Aufregendes verwandeln kann.
„Das Konzept ist von Anfang an sehr komplex", sagt Fink. "Es war zu erwarten, dass man sich in Roar verlieren kann. Sobald man eine Modulationsmatrix hat, kann man stundenlang daran herumtüfteln, auch wenn man nur eine Grundidee im Kopf hat."
„Bei sowas wie einem anhaltenden Pad-Sound ist ein LFO, der seine Form ständig ändert, viel interessanter", fügt Tonni hinzu. „Man kann den einen LFO mit dem anderen modulieren und zum Beispiel etwas Randomisierung hinzufügen, sodass man einen organischen, sich entwickelnden Sound bekommt, anstatt irgendetwas vorhersehbares."
Kompression
Angesichts der wilden Signale in Roar ist Kompression ein wesentlicher Schritt in der Kette, der massive Mengen an unerwünschtem Clipping sowie kaputte Lautsprecher vermeidet. Sie beschlossen, den Kompressor am Besten einfach zu halten, und wollten sicherstellen, dass dessen Feinheiten auf die Signale von Roar produzierten Signale optimiert sind.
„Wir hatten eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie dieser Kompressor klingen sollte", erklärt Tonni, „und wenn man den Anwender:innen einige der Bedienelemente abnimmt, haben diese davon den Vorteil, nicht zu viel Zeit mit der Einstellung von Dingen wie Attack- und Release-Zeiten verbringen zu müssen."
Ein Schlüsselmerkmal von Roar ist für Tonni die einzigartige Art, auf die dieser die Dynamik eines Signals beeinflusst. Früher erreichte er den klassischen „pumpenden" Kompressionssound, indem er vor dem Kompressor einen Hall auf sein Signal anwandte, sodass das Abklingen zu hören war, wo der Kompressor aussetzte. Heute kann er für noch dramatischere Ergebnisse sogar die Dry/Wet-Einstellung mit dem Envelope-Follower von Roar steuern.
„Ich liebe verzerrte Beats", sagt er, „aber ich mag es auch, wenn die Kickdrum rund ist und durchkommt. Mit Roar kann ich ein Signal zerstören, aber sicherstellen, dass die Kick immer noch den Punch hat und ziemlich sauber ist."
Feedback
Das Feedback in Roar ermöglicht Signalen, sich auf verschiedene und unvorhergesehene Arten zu entwickeln, vom Hinterlassen eines subtilen, rhythmischen Schweifs bis hin zu kraftvollen Drones mit Overdrive. Die relativ einfachen Einstellungen bieten eine Bandbreite an Feedback-Modi von Time und Synced bis hin zu Note, die zu spannenden musikalischen Ergebnissen führen können.
„Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Marco mir den ersten Prototyp mit eingebauten Feedback geschickt hat,” erinnert sich Tonni. „Das war der Moment, ab dem ich wusste, dass wir da was sehr besonderes haben. Die Tatsache, dass man auch den Kompressor im Feedback-Loop haben kann, bedeutet, dass wenn man einmal anfängt, das Signal rückzukoppeln, viele Komponenten von Roar anfangen, miteinander zu interagieren. Sobald das Feedback-Signal eine bestimmte Lautheit erreicht, wird es vom Kompressor gezähmt, sodass das Feedback weniger wird, und dann wird das Signal in der Release-Phase des Kompressors lauter und das Feedback kommt wieder rein. Das sorgt für ein sehr organisches Gefühl, als würde das Feedback atmen, weil es so dynamisch auf Signale reagiert.”
Universale Distortion
Die Tiefe und Flexibilität von Roar machen das Tool für Musikschaffende aller Art spannend – egal ob es im Multiband-Modus genutzt wird, um dem Low-End eines Trap-Beats Distortion hinzuzufügen, oder ob man eine warme und griffige Klangfarbe für ein Pad sucht. Experimentelle Künstler:innen können tief in die Modulations- und Feedbackmöglichkeiten eintauchen, um neue Sounds aus bestehenden Signalen zu formen. In der erweiterten Ansicht von Roar zeigt das Tool erst, was es wirklich kann.
„Am liebsten mache ich Musik mit kontrolliertem Chaos,” sagt Tonni. „Roar kann einem helfen, völlig abzudrehen, dabei aber alles unter Kontrolle zu halten. Das ist es, was [Roar] so kraftvoll und inspirierend macht – das Gefühl zu haben, das Ding explodiert gleich, aber es morpht einfach immer weiter.”
Entdecke alles, was Live 12 zu bieten hat
Text und Interviews: Oli Warwick
Übersetzung: Julia Pustet