RAMZi: In einer selbst erschaffenen Welt
Wie die meiste hervorragende elektronische Musik, nehmen uns auch Phoebé Guillemots Kreationen mit auf eine besondere Reise. Während es in vielen Genres vor ähnlich klingenden Produzenten, die nach Schema F vorgehen, nur so wimmelt, lässt sich nur wenig mit Guillemots Veröffentlichungen als RAMZi vergleichen. Tropische Waldgeräusche, schräge Percussion-Elemente, deliriöse Synthesizer-Linien und Auto-Tune-Vocals – in der Theorie mag die Beschreibung vielleicht etwas befremdlich und möglicherweise sogar unattraktiv klingen, aber genau das macht RAMZi so einzigartig. Wie exotisch sie wirklich klingt, ist mit Worten nicht leicht zu vermitteln.
Während andere Künstler sich vage an Musik aus fernen Ländern orientieren oder sich gar unreflektiert Sounds aus anderen Kulturen aneignen, gestaltet Guillemot mit ihren Produktionen gleich ganze Welten selbst. Tatsächlich ist Exotica das zentrale Thema für RAMZi. Jedoch bewegt sie sich fernab von den marimba-geschwängerten Wiegenliedern, die westliche Hörer mental in den Südpazifik, die Karibik oder Lateinamerika der 50er-Jahre transportieren. In ihrem Fall darf man den Begriff Exotica als Verschmelzung verschiedener Einflüsse aus der gesamten Welt verstehen, die uns durch eine einzigartige Produktionsweise an einen undefinierbaren fremden Ort jenseits aller geopolitischen Grenzen entführt.
„Exotische Musik hat mir bereits gefallen, als ich noch sehr klein war,“ meint Guillemot. „Man bezeichnet sie zwar als ,tropisch’, doch für mich hat der Begriff ,exotisch’ eine stärkere Kraft. Er beinhaltet das Konzept des Fremden und Geheimnisvollen und des Entdeckens von unbekannten, unberührten Orten, die allein der Vorstellungskraft entspringen.“
Abgesehen von den etwas kitschigen Abwandlungen der frühen Exotica hätte man diesem Begriff im Laufe der Zeit noch viele andere Künstler und musikalische Bewegungen zuordnen können. Neben dem New Age-Sound von Iasos, den sie bereits im Bauch ihrer Mutter zu spüren bekam, sowie der Verehrung ihres Vaters für Don Cherry, Alice Coltrane und für verschiedene afrikanische Musik, nennt Guillemot auch Jon Hassell als wichtigen Einfluss.
Hassells Pionierarbeit aus den 70er- und 80er-Jahren stützte sich auf seine ethnomusikalischen Studien zu traditioneller Musik auf der ganzen Welt. Er mischte ihre Elemente mit Jazz und anderer experimenteller Musik aus der westlichen Welt. Daraus formte er das, was man als “Vierte Welt Musik” kennt. Sein Ansatz wurde zu einer reflektierteren und kulturell sensibleren Variante von Exotica.
„Es kommt mir so vor, als ob ich an einer neuen Welle von Exotica arbeite und sie möglicherweise sogar in die ,Fünfte Welt’ bringe!”, flachst Guillemot. „Das mag anmaßend klingen, aber mir ist das egal.” Doch genau so kann man ihre Musik betrachten. Beim Hören der RAMZi-Releases, welche in den vergangenen vier Jahren als Tape oder 12” erschienen sind, verspürt man ganz unbestreitbar ein Gefühl des Neuen und Unbekannten. Ihr Sound ist dicht, etwas klaustrophobisch und voller fremder, verzerrter Geräusche, die sich trotz des komplexen Mixes allesamt in organischer Harmonie bewegen. Ab und an erinnert ein Sound an einen konkreten Ort, doch wird er bald darauf von einem weniger bekannten Ton überlagert, der den Geist in einen wunderbaren Limbo zwischen bekannten Orten versetzt.
Es überrascht kaum, dass Guillemot seit Langem eine weltoffene Musikliebhaberin ist. Als Neunzehnjährige verbrachte sie vier Monate in Südostasien und inhalierte dort förmlich die Popmusik, die auf den Märkten von Laos, Thailand, Vietnam und Kambodscha lief. Anderenorts verliebte sie sich in somalische Musik. Seit neuestem ist sie von der marokkanischen Musik der 80er-Jahre fasziniert. Auch die der 80er- und 90er-Jahre an der Elfenbeinküste sowie die minimalistischen Komponisten der 80er-Jahre aus Portugal und Italien haben es ihr angetan. Auf der anderen Seite legt sie in der Komposition der RAMZi-Songs großen Wert auf den Einfluss von Jazz-Fusion in all seinen Varianten und die strukturelle Komplexität von Prog.
„Ich schätze, dass die Leidenschaft für Musik aus der ganzen Welt verantwortlich für den Fusion-Style in meinen Songs ist.” sinniert Guillemot. „Es fühlt sich an, als ob meine Musik das Ergebnis eines langen Reduktions-Vorgangs verschiedener Einflüsse ist.”
„Manche Leute sagen, ich produziere Collagen. Das finde ich nicht”, erklärt sie uns, „es sind mehrere Schichten aus Rhythmen und Melodielinien. Die Instrumente sind gesampelte Sounds, die ich auf meinem MIDI-Keyboard spiele. Es gibt ein paar Songs, die ich gesampelt habe, um daraus Loops zu erzeugen. Aber meistens bestehen sie aus vielen einzelnen Samples, die ich in den Ableton Simpler lege und sie re-pitche oder mit Effekten versehe.”
Guillemot bestätigt ohne zu Zögern, dass sich in den Arbeiten unterschiedliche Phasen ihres musikalischen Interesses abzeichnen. Die frühen RAMZi-Produktionen entstanden in einer Zeit, als sie von karibischer Musik und Dancehall fasziniert war. Deswegen verwendete sie diese Stile als Grundlage. Allerdings betont sie, dass ihre Herangehensweise darauf basiert, einzelne Sounds auszusuchen und sie als eigene Instrumente wiederzuverwerten – lieber als komplette Teile aus Musikstücken zu samplen. „Es gibt einen Gitarrensound von Durutti Column, den ich immer wieder verwende”, verrät Guillemot, „oder manche Synthesizer-Sounds von Larry Heard. Meistens brauche ich nicht lange, um meine Sounds auszusuchen. Ich bin da ziemlich spontan.”
Während die melodischen und atmosphärischen Sounds mit der Zeit variieren, bilden bestimmte Drumkits, mit denen Guillemot schon viele Jahre arbeitet, die Grundlage für den RAMZi-Sound. Sie hat sich lange Zeit genommen, um Produktionstechniken privat zu erforschen. Ihre Experimente behielt sie für sich, während sie die Herangehensweise entwickelte, die ihr nun zu einer eigenen musikalischen Identität verhilft. „Ich habe etwas gebraucht, bis ich einen Sound gefunden habe, den ich weiterentwickeln wollte”, gesteht sie. „Als ich anfing, mit lateinamerikanischer Percussion, Grain Delays und Vogelstimmen zu experimentieren, bekam ich ein gutes Gefühl und wollte nichts anderes mehr hören.”
Und dieses Motiv zieht sich tatsächlich wie ein roter Faden durch Guillemots Musik. Seine permanente Präsenz verleiht ihrem bewegten und wütenden Sound eine Einheitlichkeit. Neben lateinamerikanischen Percussion-Elementen verwendet sie auch Samples aus afrikanischer Perkussion, die sie von Freunden bekommen und in Drumkits verwandelt hat. Aus diesen Grund-Sounds entwickelt sie Rhythmus-Loops und ergänzt Vogel-Rufe.
„Ich habe bestimmte ,Ur’-Sequenzen für Rhythmen, die ich vor Langem gebaut und von denen ich nur das Audio behalten habe. Sie sind die Definition von RAMZi”, erklärt sie. „Ich finde immer eine Möglichkeit, diese Loops als eine Schicht inmitten 20 anderen unterzubringen. Immer wieder komme ich darauf zurück, Layer dieser langsamen und organischen Rhythmen wiederzuverwerten. Das ist wie ein Fundament, das ich jederzeit anpassen kann. Dadurch bekommt der Sound eine Beständigkeit.”
Der RAMZi-Sound hat seine Wurzeln in einem Sommer, den Guillemot vor vielen Jahren allein in Victoria, British Columbia verbrachte. Zufrieden verweist sie auf Songs aus ihren ersten beiden Alben, die nur auf Kassette erschienen: Dezombi und Bébites sind Paradebeispiele für die typischen RAMZi-Rhythmen.
Das erste Album erschien im Jahr 2013 auf dem kanadischen Label Los Discos Enfantasmes, das zweite als Eigen-Release auf Pygmy Animals. Während Etwal Timoun 12” auf Total Stasis für RAMZi ein großer Schritt nach vorne war, brachte schließlich das Kassetten-Release HOUTi KUSH auf 1080p im Jahr 2015 den RAMZi-Sound einem größeren Publikum näher. Auch Guillemot selbst bezeichnet es als Wendepunkt bei der Entwicklung ihres Sounds.
„Ich denke, HOUTi KUSH zeigt die neue RAMZi”, erklärt Guillemot. „Houti ist eine Art Gespenst in der Welt von RAMZi. Es bringt einen feminineren und romantischeren Ethos in die Musik. Man hört es auf dem Album auch singen.”
Wie bereits angedeutet, spielt Effekt-Verarbeitung eine große Rolle in Guillemots kreativem Arbeitsprozess. Ebenso wie die schiere Vielfalt an Sounds, die in RAMZi-Tracks gleichzeitig laufen, verleiht auch die Bewegung und Variation darin dem Gesamtsound etwas eindeutig Psychedelisches. „Ich verwende gern viele Effekte in meinen Songs”, gesteht Guillemot. „Zu meinen Entdeckungen auf dem Track ,Dezombi’ zählt es, ein Grain Delay auf den Master-Kanal zu legen. Das macht meine Rhythmen ziemlich dubbig und trippy.
„In all meinen Tracks benutze ich minimal Effekte”, fährt sie fort, „um so einen Standard für meinen Sound zu setzen. Das passiert völlig intuitiv. Auf vielen meiner Rhythmen liegt der Beat Repeat-Effekt. Dadurch bekommen die Beats einen organischen Anklang. Außerdem mag ich Corpus sehr. Dadurch wird mein Sound wackeliger. Ich tune ihn nur, damit er mehr Tiefe bekommt. Dazu spiele ich mit dem LFO, der Tune-Funktion und Decay. Ich habe das Gefühl, der Sound wird dadurch lebendiger – fast wie eine Atembewegung.”
Neben dem massiven Einsatz von Effekten und Schichten akustitischer Tiergeräusche ist ein weiterer Bestandteil verantwortlich für den herausragenden, zwischen Natürlichkeit und Fremdartigkeit schwebenden RAMZi-Sound: der Einsatz von Vocals. Besonders auf HOUTi KUSH und den folgenden Releases auf Total Stasis, Rvng Intl. und Mood Hut ist auf vielfältige Arten mutierende Sprache zu hören, die sich wie eine fremdartige Beschwörung durch die Klanglandschaft zieht. Unter Guillemots vielen unterschiedlichen Umgangsweisen mit Vocal-Elementen, kann man klar zwischen herunter-gepitchtem Geschnatter und einer eher melodischen Auto-Tune-Stimme unterscheiden.
„Es gibt einen großen Unterschied zwischen RAMZi auf der Bühne und im Studio”, sagt sie. „Live verwende ich zwei Stimmen, die ich mit dem Grain Delay abwandle. Eine davon ist leicht hoch-gepitcht und die andere ist tief. Die beiden sind so etwas wie Wesen der RAMZi-Welt, die miteinander interagieren. Auf meinen Alben hört man nicht viel von ihnen, nur hier und da ein Snippet. Die meisten Stimmen auf meinen Produktionen sind Samples.”
Genau wie das musikalische Material, das Guillemot zurechtschneidet, um es als eigene Instrumentierung wiederzuverwenden, können auch die Vocal-Samples aus allen möglichen Quellen kommen. In den ersten beiden Tracks auf ihrem neuesten Release, Phobiza “Noite” Vol. 2, findet man eine Stimme aus Pedro Costas Doku-Fiction-Crossover-Film In Vanda’s Room. An anderer Stelle auf der Platte hört man in “Messiah” die bereits erwähnte Stimme von Houti. Das Album endet mit dem Titel “Male Heya”, der ein Auto-Tune-Vocal-Element enthält, welches Guillemot als „mittlere Stimme“ – im Gegensatz zur „großen Stimme” bei Live-Auftritten – beschreibt. Während die „mittlere“ Stimme bis -4 heruntergepitcht wird, ist die „große“ Stimme etwa doppelt so tief. Die „kleine“ Stimme ist zwei bis drei Halbtöne hochgepitcht.
“Für mich ist Auto-Tune ein eigenes Instrument,” erklärt Guillemot. “Ich mag die Modulation zwischen den Noten, die man damit erreicht. Es hat etwas Entfremdendes und gleichzeitig Emotionalisierendes. Außerdem ist es inzwischen überall auf der Welt verbreitet, sogar in traditioneller Musik. Ich glaube, man wird süchtig nach seinem Klang.” Die Stimmen sind natürlich nur ein Teil des Ganzen. Nicht immer ist es leicht, viele unterschiedliche Stimmen gleichzeitig in einem Mix zu verwalten. Und angesichts all der dichten Sound-Layer, die permanent in RAMZis Tracks laufen, darf man sich fragen, wie Guillemot mit dieser Fülle an gleichzeitig ausgegebenen Sound-Informationen klarkommt.
Sie verweist darauf, dass ihre Tracks meistens auf ungefähr 70 BPM laufen. „Ich habe herausgefunden, dass niedrige Geschwindigkeiten mir mehr Raum zwischen den Sounds lassen”, erklärt sie. „Dann kann ich rhythmische Layer darüberlegen, die schneller sind. Wenn alles schnell wäre, wäre es zu schwer zu händeln.” Außer, dass sie Beats in Doubletime über langsamere Tempi laufen lässt, bekennt sich Guillemot bei der Mission für einen natürlicheren Sound zu ihrer Vorliebe für Loops und Phrasen mit kontrastreichen Poly-Rhythmen.
Inspiration für ihre Arbeit findet Guillemot nicht nur in ihren Entdeckungsreisen in Sachen Sound und Musik, sondern auch in Kollaborationen und Alltags-Begegnungen. Sie hat viele Freunde in Montreal, mit denen sie sich musikalisch austauschen kann. Gleichzeitig arbeitet sie aus der Distanz mit der ebenfalls aufstrebenden Produzentin D. Tiffany aus Vancouver zusammen. „Viele meiner Einflüsse stammen von Menschen, denen ich begegne. Einfach mit Freunden Musik zu machen ist eine große Hilfe. Ich möchte versuchen das häufiger zu tun”, sagt Guillemot.
Auch wenn RAMZi sich permanent von der Welt, mit der sie in Berührung kommt, inspirieren lässt, bietet das Projekt Guillemot genau wie ihren Zuhörern eine Art Zufluchtsort. In ihrer reichhaltigen Sound-Welt ist RAMZi ein Wesen ohne Geschlecht auf einer ständigen Expedition durch Anhäufungen von Lebenssituationen und Hindernissen – oder wie Guillemot es selbst formuliert: „ein dickköpfiges Kind”. HOUTI stellt das Gegengewicht zu dieser treibenden Kraft dar, indem sie die feminine Seite dieses lebhaften Audio-Konstrukts markiert. Die Konstante, die beide Gesichter von Guillemots Werk verbindet, ist die Natur selbst – in all ihrer ungezähmten, wurzelschlagenden und überwuchernden Schönheit.
„Ich mag das Gefühl, auf einer Mission zu sein”, meint Guillemot. „In meiner Musik geht es vor allem um die spirituellen Seiten der Natur und die Notwendigkeit, sie zu schützen. RAMZi ist ein Krieger und Musik ist seine Waffe.”
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Photos von Martha Goncalves