QuinzeQuinze: Die Kunst des mystischen Erzählens
Der Chor war ein fester Bestandteil griechischer Dramen: Er kommentierte das Geschehen, bereicherte die Aufführung und gehörte zum Stück dazu, ohne aber in die Handlung eingebunden zu sein. In der mündlichen Erzählkunst hingegen ist die sprechende Person sowohl Performer:in als auch Erzähler:in. Indigene Communitys rund um den Globus nutzen zahllose Varianten dieser uralten Tradition, um die Zuhörenden mit Tanz, Gesang und Worten zu unterhalten, während sie ihnen gleichzeitig Themen rund um etwa Identität, Kosmologie oder das Land näherbringen.
Aufbauend auf dieser Tradition lässt das Pariser Ensemble QuinzeQuinze vielschichtige Geschichten entstehen, in denen sozialkritische Themen, surreale Landschaften, metaphysische Glaubenssätze und tahitianische Kultur – zwei der Bandmitglieder stammen von dort – verwoben werden. Ihre Werke sind wesentlich von der polynesischen Tradition des ōrero-Rituals beeinflusst, das die Band als „mystische, enigmatische und bildhafte” Art des Geschichtenerzählens beschreibt. „Was wir versuchen, ist Geschichten und Charaktere zu erschaffen, die sich in Dilemma-Situationen befinden, oder in Situationen, die über sie selbst hinausgehen”, erklären QuinzeQuinze. „Wenn wir singen, können wir sowohl die Erzähler- als auch die Figurenstimme sein”.
QuinzeQuinzes Erzählungen haben etwas Entrücktes an sich, und stehen im Kontrast zu Elementen aus psychedelischem Indiepop, groovendem Dancehall, Ambient und R&B. Das Stück Pa'i Pa'i von der 2020 erschienenen EP Le Jeune handelt von einer Armee aus Kämpfern, die aus dem Boden wachsen und von einer Klippe stürzen. „Die Ausgangsidee hinter dieser bildhaften Analogie war für uns, dass wir unsere Willensfreiheit als Menschen in einer modernen Gesellschaft thematisieren wollten", so das Quintett. Julia, eines der Bandmitglieder, nimm die Rolle der Erzählerin ein. Sie betritt die Szenerie mit den Worten „Last night in the mountain a hundred voices whispered, floating in the wind, words that I've never heard before." [dt.: Gestern Nacht flüsterten hundert Stimmen in den Bergen, schwebten im Wind, Worte, die ich nie zuvor gehört habe.] Tsi Min, ein weiteres Mitglied der Band, ergänzt die menschliche Perspektive: „Sweep the dust out of my sight, had a vision, my homicide." [dt.: Wisch mir den Sand weg aus dem Blick, ich hatte eine Vision, meine Ermordung.]
Auch die sich wandelnde Form der mündlichen Überlieferungen, also die Veränderung von Erzählungen durch die Erzählenden, beeinflusst QuinzeQuinze. „Jede Person, die erzählt, kann sich potenziell die Handlung zu eigen machen, die Form oder die Worte ändern, teilweise auch mit der Bedeutung spielen. Das passt sehr gut dazu, wie wir gemeinsam unsere Geschichten schreiben. Es kommt uns immer so vor, als hielten wir lebendiges Material in den Händen."
Abbilder polynesischer Kultur
Die pazifische Inselregion ist der Band eine wichtige Quelle, wenn auch eher als Inspiration denn als Schablone. Das Ensemble befasst sich unter anderem mit der Geschichte, den Bräuchen und der Folklore der Region – mit dem Ziel, Konventionen zu hinterfragen und sich universellen Themen zu nähern.
Während Polynesien gemeinhin mit friedfertiger Musik assoziiert wird, ist die Diskografie von QuinzeQuinze vorrangig von gewarpten Melodien geprägt. Synthlastige, geloopte Rhythmen erzeugen ein rasantes Tempo, kontrapunktiert von Steeldrums und der Spannung traditioneller polynesischer Percussion-Instrumente, etwa der to’ere. Die meisten Tracks nutzen leicht dissonante Texturen und subtile Temposchwankungen, biegen Zeit und Raum. „Wir stellen der polynesischen Kultur gern musikalische Konnotationen gegenüber, die man im Allgemeinen nicht damit verbindet", beschreibt die Gruppe. „Wir wollen Musik nicht in Schubladen stecken. Der Musikstil hängt bei uns von der Story ab, von der Bedeutung und der Energie, die wir in einen Song hineingeben wollen." Der Bezug auf die Kultur ist damit jedoch nicht aufgegeben: In Tracks wie dem kürzlich veröffentlichten Vega, der von Car-Bass-Partys in den Tälern von Tahiti inspiriert ist, integriert die Gruppe verschiedene Elemente der dortigen Gegenwartsgesellschaft. Das Musikvideo zeigt den regionalen Tanz ori deck, der inzwischen auch der Name eines eigenen elektronischen Musikgenres ist. „Wir haben uns auf die Atmosphäre fokussiert und die DNA von QuinzeQuinze mit reingebracht", erklärt die Band.
Die Musikvideos von QuinzeQuinze machen begreifbar, wie das Ensemble stereotype Vorstellungen über Polynesien bekämpft. Der Clip zu Le Jeune thematisiert die Atomtests, die Frankreich zwischen 1966 und 1996 auf Tahiti durchführte. Im Video „präsentiert ein nichtlinearer Erzähler seine Umgebung und deren Geschichte in mehreren 3D-Gemälden, die zwischen einer postapokalytischen Atmosphäre und himmlischen Landschaften oszillieren", erklären QuinzeQuinze. „Das Video zielt darauf ab, die polynesische Herkunft der Bandmitglieder Tsi Min und Ennio durch diese manchmal vergessene Episode einzufangen, die nicht so mit Zuckerguss überzogen ist wie die gewöhnlichen Darstellungen pazifischer Kulturkreise."
Für die musikalische Identität der Band ist die Kunstform des ōrero heute elementar. Während es in der Praxis des ōrero jedoch um die Vermittlung von Wissen geht, beansprucht die Gruppe keinen Anspruch auf letzte Wahrheiten. Vielmehr arbeitet QuinzeQuinze mit den Potentialen der ōrero-Tradition, Spannungen zwischen Realität und Fiktion zu erzeugen und bildliche Metaphern für abstrakte Konzepte zu finden.
Science-Fiction zum Ausgleich
Ob durch Erzählungen polynesischer Schöpfungslegenden oder durch entfesselte, lebendige Poesie: die Alben von QuinzeQuinze strotzen von fantastischen Motiven. Ihre oftmals mit 3D-Technik gedrehten Videos akzentuieren das Dystopische und verleihen der tropischen Hitze der Musik dramatische Dringlichkeit. Etwa zeigt Bolero um ein fahl beleuchtetes Aquarium, in dem die Fische nach und nach die Emotionen verärgerter Angestellten widerspiegeln. Die Wirkung ist albtraumartig, absurd und düster komisch – eben die Kombination, nach der QuinzeQuinze strebt.
„So wie sich in unseren Songs die Emotionen vermischen, sollen auch unsere Visuals Brücken zwischen dem Schönen und dem Düsteren bauen. Das mit 3D-Technik umzusetzen, war für uns spannend, weil wir damit komplette Universen erschaffen können. Außerdem bietet sich 3D an, weil es normalerweise schon ausreicht, die Technik unkonventionell einzusetzen, um beim Zuschauen Referenzpunkte scheinbar verloren gehen zu lassen."
In Le Jeune zeigt jede Szene ein anderes Stadium der Ausbreitung einer Atomexplosion. Die Gesichter der Gruppe sind von der Radioaktivität verzerrt, die Szenenreihenfolge wurde umgekehrt, „so dass man als Zuschauer:in erst im Nachhinein die Ursache der gruseligen Veränderungen versteht, die auf dem Bildschirm gezeigt werden: die radioaktiven Figuren, die Umwälzung der Natur", erklären QuinzeQuinze. „Wir fanden es interessant, mit üppigen und surrealistischen Darstellungen zu arbeiten, die dennoch das Thema des Lebensbedrohlichen veranschaulichen." Abgesehen vom Anspruch der Gruppe, die Ungerechtigkeit von Atomtests auf Tahiti zu beleuchten, ging es QuinzeQuinze mit dem Clip auch darum, „die Schönheit eines makabren menschlichen Phänomens […] herauszuarbeiten".
Komponieren als Gruppenarbeit
QuinzeQuinze ist ein Kreis enger, teils miteinander aufgewachsener Freund:innen, im Studio funktioniert die Band wie eine Familie. Die Bandmitglieder Marvin und Robin sind Brüder, während sich die anderen auf der Kunsthochschule kennengelernt haben; dort begann auch ihre Auseinandersetzung mit Musik. Wenngleich die Gruppendynamik nicht immer nur aus Spiel und Spaß besteht, bleiben größere Konflikte dank tiefen gegenseitigen Vertrauens und demokratischer Prozesse aus. Auch Essensschlachten mögen dabei eine Rolle spielen – so haben sich die Bandmitglieder auch schon gegenseitig mit Schweinekoteletts beworfen.
Zum Thema Musikproduktion hat die Band eine offene Einstellung, die sich aus einer gemeinsamen musikalischen Vision speist. In der Konzeptphase einigen sich die Musiker:innen auf bestimmte Sounds, dann geht es ans Jammen. „Wir verbringen viel Zeit damit, über die Geschichten und Intentionen zu sprechen, die die Musik in uns erzeugen soll. Dadurch versuchen wir, das Feld der Möglichkeiten so weit wie möglich einzugrenzen. Wenn wir zum Beispiel eine mentale Vorstellung vom Raum haben, in dem sich eine Szene abspielt, dann hat das einen Einfluss auf unsere Reverb-Einstellungen." Sind das Dekor und die Intentionen einmal gesetzt, dann „ist alles, was in der Folge aufgenommen oder geschrieben wird, eine logische Antwort auf die Fragen, die wir uns stellen, damit sich der Song zur endgültigen Form entwickelt."
Auch wenn eine einzelne Person die Komposition übernimmt, ist das Endresultat doch immer ein Gemeinschaftswerk. Bei neuen Tracks „kommt der Impuls fast immer von einer Person, und meistens sind die Lyrics mit dabei", erzählt die Band. „Wenn Tsi Min produziert, legt er es auf glückliche Zufälle an und versucht, Ableton zu kapern. Zum Beispiel, indem er der Zufallssuche nach Samples für ein Drum Rack ein Potentiometer zuordnet, oder wenn er mit ungewöhnlichen Routings arbeitet, indem er eine Sidechain im Gate- statt im Kompressormodus benutzt."
Als nächstes benutzt Robin Tonaufnahmen, die von Live-Schlagzeug über Gesangstakes bis hin zu Field-Recordings reichen können. Die Aufnahmen werden durch Verzerrer, EQ oder Autotune so lange modifiziert, bis sie unkenntlich sind. „Wir verwenden viel Zeit darauf, unkonventionelle Percussion-Objekte aufzunehmen, zum Beispiel Kühlschränke, Schlüssel, Schalter und so weiter, die wir dann mit Resampling, Pitch und Kompressor bearbeiten. Allein dieses Material macht 90 Prozent unserer Audioverarbeitung aus."
Julia, die sich eher auf VSTs spezialisiert hat, findet anschließend einen melodischen und harmonischen Ansatz in der Komposition. „Der Loop dreht sich jedes Mal stundenlang, und in der Regel gehen die Klangtexturen dem Song-Arrangement voraus", beschreibt die Band. „Sobald sich ein Grundgefühl aus dem Loop herausbildet, gehen wir ans Mixing, wir modellieren den Sound, nehmen Vocals auf und bauen den Track auf." In der Regel wird ein Track an jedes Mitglied weitergereicht, wobei die Band hier nicht immer linear vorgeht. „Um ein Gegenbeispiel zu nennen, unsere letzte Single, Vega, haben wir in fast zwei Tagen alle gemeinsam aufgenommen. Als der erste Loop kam, fingen wir sofort an zu tanzen, und haben erst aufgehört, als der Song vorbei war."
An vielen Stellen enthält die Musik neben Samples von echten Instrumenten auch nachgestellte Aufnahmen – eine Methode, die die Grenzen zwischen Digitalem und Analogem verwischt. So werden etwa die Steeldrums live eingespielt, manchmal nutzt die Band jedoch auch ein mit Kontakt selbstgebautes Steeldrum-VST, eigens erstellt „um Noten zu spielen, die sich außerhalb des Tonumfangs einer echten Steeldrum befinden" QuinzeQuinze fährt fort: „Um die Präsenz zu verstärken, kombinieren wir sie am Ende zum Beispiel mit VSTs oder akustischen Instrumenten." Im Stück Ta’ata noa von der 2018 erschienenen EP Neva Neva werden die Steeldrums von einer echten Mandoline begleitet. Bei Bolero wiederum wird die Steeldrum-Sequenz unisono mit echten Flöten und einem Prophet-10 gedoppelt, um mehr Power zu reinzubringen. Ob digital oder nicht: „Es ist super interessant, wie all diese unterschiedlichen Sounds am Ende miteinander verschmelzen.
Die gewünschten, radikalen Veränderungen selbst aufgenommener Sounds erreicht die Band mit digitalen Effekten. „Wir verwenden VST-Effekte wie Pitch, Harmonizer, Delays, Distortion, Chorus. Oder wir warpen sie und loopen nur einen ganz kurzen Abschnitt." Beim Experimentieren im Studio kann die Gruppe ihre Tracks um beliebig viele neue Komplexitätsebenen erweitern – auf der Bühne sieht das schon anders aus: „Auch wenn die Songform dafür modifiziert werden muss, bemühen wir uns, alles zu vereinfachen. Am Ende bekommen wir dann eine Version, die mehr oder weniger dem Original entspricht."
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Text und Interview: Nyshka Chandran