Realitäten verarbeiten: Psychedelische Zukunftsmusik mit Special Guest DJ, Perila und Ben Bondy
Der Blick auf die Musikgeschichte zeigt: Die spannendsten klanglichen Entwicklungen gingen zumeist nicht auf die Rechnung von Einzelpersonen, sondern von Communities. Im Online-Zeitalter bestimmen sich derartige Bewegungen nicht mehr durch Genres oder geographische Grenzen, sondern vielmehr durch gemeinsame Philosophien, die die Musik in immer neue und unerforschte Gebiete bewegen.
Um Labels wie 3XL, West Mineral Ltd. und Motion Ward herum ist ein Kollektiv an Künstler:innen entstanden, deren experimentelle elektronische Musik zu amorph ist, um einem bestimmten Genre zugeschrieben werden zu können. Beats können auf jedem ihrer Releases vorkommen, sind jedoch nicht nach klassischen Dancefloor-Rezepten gebaut. Oft kommt die Musik auch ganz ohne Beats aus, an vielen Stellen treffen dubbige und tiefe Drones auf dynamische und ruhelose Texturen, die sich dem Ambient-Label entziehen. Dem Kollektiv hängt ein hypnotischer Geist an, der den Ernst experimenteller Musik abgestreift hat und sich aus einem vitalen Humor speist. Wir haben einige Schlüsselfiguren aus dieser schwer zu umreißenden Szene getroffen, um die Philosophien und Ansätze hinter ihren unkonventionellen Klangwelten besser zu verstehen.
Hinter dem Label 3XL steht im Wesentlichen Special Guest DJ, auch als Shy bekannt, der verschiedenste Gesichter für seine Releases findet und ein Netz aus Kollaborationen kreuz und quer durch die bereits beschriebenen Szenen geschaffen hat. Er stammt aus den USA, lebt heute in Berlin und fungiert als produktiver Knotenpunkt für Musik, Artwork, Mastering und andere Elemente, auf denen sein Label aufbaut. Einer seiner vielen klanglichen Sparringspartner:innen ist Ben Bondy, ein in New York ansässiger Künstler aus Kansas City. Perila ist eine aufstrebende Künstlerin, deren Karrierepfade bereits Labels wie Shelter Press und Smalltown Records berührten und eng mit dem 3XL-Universum zusammenhängen. Die Wege der drei Künstler:innen kreuzen sich bei verschiedenen Projekten mit weiteren wichtigen Akteur:innen wie Ulla Strauss, Exael, Huerco S. und Pontiac Streator, alle drei sind jedoch auch einzeln als Musiker:innen aktiv.
Jammen
Ein fundamentaler Aspekt der Kollaborationen zwischen den Artists ist das Jammen, egal ob sie dabei Spuren für die Remote-Zusammenarbeit skizzieren oder in Echtzeit zu Hause oder auf der Bühne gemeinsam improvisieren. Sie haben sich zwar keine strengen Regeln für das gemeinsame Musikmachen gesetzt, arbeiten aber meistens mit Computern und stehen dazu im Kontrast zum Trend der letzten Jahre, in der elektronischen Musik stark auf Hardware zu bauen.
„Ich bin nicht so der Typ für Equipment” sagt Perila, „und das hat mich auch manchmal ein bisschen verunsichert, aber mittlerweile begreife ich immer mehr, dass mich das halt ausmacht. Wenn ich an all unsere kollaborativen Projekte denke, glaube ich, dass die Schönheit der Projekte darin liegt, dass wir nicht viel brauchen – es kommt alles aus uns selbst.”
„Ich glaube, niemand von uns konnte sich Equipment je wirklich leisten,” sagt Shy. „Jedesmal, wenn ich Hardware kaufe, muss ich sie danach wieder verkaufen – ich finde sie langweilig oder arbeite einfach nicht damit. Den Push habe ich aber behalten, weil er sich aufgrund seiner Vielseitigkeit anfühlt wie das einzige wirklich nützliche Teil.”
Wenn überhaupt, findet eher eine Gitarre als ein Outboard-Sequencer oder Synthesizer ihren Weg in den Mix. In der Musik manifestiert sich eine bestimmte Rock-Unterströmung – dies wurde mit dem Virtualdemonlaxative-Album von 2020 auf West Mineral Ltd. noch deutlicher, auf dem Exael, Pontiac Streator, Shy und Ulla eine Art digitaler Inversion des Grindcore schufen. Shy und Exael griffen für ihr Projekt Hoodie auch auf den schwelenden Nu-Metal der Deftones zurück. Der Einfluss von Trip Hop und Illbient führt bei einigen der Künstler:innen auch zu Musik mit mehr Struktur, wie etwa auf Zakharenkos R&B-gefärbter Veröffentlichung Baby Bloom aus dem Jahr 2022.
Ihre Singer-Songwriter-Qualitäten setzt Perila auch auf einem Track von Exaels kommendem Popalbum ein, das Shy als „eine der üppigsten Platten mit am meisten Biss" beschreibt. Shy und Exael veröffentlichen gleichzeitig eine letzte Hoodie-Zusammenarbeit mit dem Sänger James K. Das Projekt Critical Amnesia ist das beste Beispiel für den kollaborativen Geist der Crew – eine lose Supergroup, bestehend aus Exael, Perila, OL, VTGNike, Huerco S und Shy, die in Shys Berliner Wohnung gejammt haben. Die daraus resultierende Platte auf xpq? strotzt nur so vor Vielseitigkeit und Energie.
Quellmaterial
Die samplelastige Klangpalette von xphresh ist charakteristisch für den in der 3XL-Community weithin verbreiteten Fokus auf Sampling. So wie etwa ZULIs Herangehensweise an die Schaffung neuen Ausgangsmaterials sehr DJ-lastig ist, wirft auch Bondy gerne alles in eine DJ-Software und manipuliert das Material dann, bis sich eine Idee herauskristallisiert. Als er von seiner Bandkarriere in die Produktion einstieg, suchte Bondy nach einem geeigneten Medium für „Gehirn aus"-Experimente und fand dieses in der beliebten DJ-Einstiegssoftware Virtual DJ.
„Das mit Virtual DJ ist lustig, weil unsere Freund:innen offensichtlich alle mit diesem komischen universellen Tool arbeiten", gibt Bondy zu. "Dabei entsteht das Gefühl, dass man mit allem Musik machen kann. Vor allem Rory, auch Pontiac Streator genannt, hat mich zu diesem Virtual-DJ-Ding inspiriert. Er ist der Meister des Virtual DJ. Er hat keine DAW, er bearbeitet keine seiner Tracks. Er kann seine Tracks nicht mischen, nicht bearbeiten – er stellt sie fertig, schickt sie zum Mastern und fertig."
Als Bondy und Streator zusammen an the blessed kitty arbeiteten, erzeugten sie einige der Rhythmen, die man auch mit Künstler:innen aus ihrem Umfeld assoziieren könnte, mit Virtual DJ. Streator schickte einen relativ rhythmischen Stem an Bondy, der ihn in Virtual DJ lud und einen Take aufnahm, indem er das Jogwheel zurückdrehte, um eine erste Schicht von umgekehrten perkussiven Impulsen zu erzeugen. Nachdem er diesen Take gebounct und wieder geladen hatte, wiederholte er den Vorgang und loopte den resultierenden Stem, bis der eigenartige, polyrhythmische und verdoppelte Beat begann, seinen eigenen, mutierten Groove zu erzeugen. Gut hörbar ist das auf dem Track „Boyfriend", der Produktionstrick kam aber auch an anderer Stelle zum Einsatz, etwa auf Perilas Track „Time Swamp" von ihrem 2020 erschienenen Album Everything Is Already There.
Die Crimeboys-Platte ist ein eigensinniger und tiefgründiger Liebesbrief an eine wirklich breite Palette von Samples", erzählt Shy in Hinblick auf seine jüngste Zusammenarbeit mit Pontiac Streator. „Sie beginnt mit einem Sample von ‘Blade Runner Blues’ von Vangelis als erstem Track. Die ersten paar Takte sind wirklich einfach nur ein unverfälschtes Pad vom Anfang dieses Tracks. Dann kommen Vladislav-Delay-Samples, Burial-Samples, Grimes... der Sampling-Vibe ist einfach wild.”
Bondy zeichnet sich durch eine selbsternannte „Anything Goes"-Einstellung zum Sampling aus, die stark auf YouTube baut. Dabei nimmt er Sounds aus Tutorial-Videos für Hardware, die eigentlich unerreichbar teuer ist. So schafft er auch eine Hommage an die frühen Tage des Samplings, in denen Produzent:innen bei sich zu Hause die Sounds von unbezahlbaren High-End-Synthesizern von den Platten in ihrer Sammlung abnahmen. Seine Art des Samplings ist aber vielleicht auch einfach ein Nebenprodukt der Zeit, die er damit verbringt, die Weiten des Internets zu durchstöbern – etwa, um herauszufinden, „wie das Innere einer Waschmaschine klingt" oder um sich per Bildschirmaufnahme knackiges Hollywood-Sounddesign aus Filmen zu holen.
Feldforschung
Auch Feldaufnahmen kommen in der Musik rund um 3XL immer wieder zum Einsatz. Für Perila hat sich dieser Prozess im Laufe der Zeit intensiviert und eine fast sakrale Dimension angenommen. Sie dokumentiert Räume, in denen sie arbeitet: Während eines Aufenthalts in der Nähe von Toulouse in Frankreich, aus dem ihr jüngstes Shelter-Press-Album On The Corner Of The Day hervorging, hatte sie etwa Zugang zu einem ländlich gelegenen Galerieraum. Hier hatte sie die Möglichkeit, sich mit geschärften Sinnen auf die akustischen Eigenschaften ihrer Umgebung zu konzentrieren.
„Der Raum, der mir da gegeben wurde, hat mich so inspiriert,” erklärt sie. „Ich habe mit meinem Zoom-Recorder viel Raum und Gesang im Raum aufgenommen. Ich habe viel mit einem Granular-Synth-Plug-in von Izotope gearbeitet, viele Vocals und Schnipsel aufgenommen und viele Live-Schlagzeug-Aufnahmen aus meinem Archiv verarbeitet. Ich habe einfach gejammt und irgendwann haben diese Sachen so perfekt zusammengepasst, haben meine Stimmung gespiegelt und diesen Raum, in dem die Sommertage mit Licht und Schatten gespielt haben.”
Anfangs hatte sie ihre Field-Recordings noch stark bearbeitet, je mehr sich ihre Praxis jedoch hin zu gefundenen Sounds entwickelte, desto mehr hinterfragte sie auch ihren kreativen Ansatz. Wenn ein Sound eingefangen wurde, etwa in einem Höhlensystem, haftete ihm so viel Ortssinn an, dass sie ihn nicht mehr stark verändern wollte.
Sound formen
In Anbetracht der eigenwilligen Natur ihrer Musik ist es gar nicht so einfach, den Mixdown-Ansatz all dieser Künstler:innen und Projekte auf einen Begriff zu bringen. Manchmal zeigt sich eine Galerie-ähnliche Klarheit, die den vorrangig digitalen Ansätzen und Perilas Fokus auf den Raum entspricht, während sich an anderer Stelle der Bass und die Drums zu verwischten Pinselstrichen mischen und die Musik durch den Reverb ganz verwaschen ist. Eine Qualität, die sich jedoch durchzieht, ist eine eigentümliche Wärme. Sogar auf dem 2022 erschienenen Album Foam von Ulla, das Shy als besonders rauhes, grobes Digitalwerk aus der Wiege der DAW-Produktion beschreibt, wird eine gemütliche Ruhe hörbar, die nicht der darauf referenzierten Musik entspricht.
„Irgendwann fand ich großen Gefallen an der analogen Wärme und Komplexität des Vladislav-Delay", sagt Shy, "und fing an, anders über Texturen nachzudenken, wie über die Textur von Schallplatten, über Glätte und Klarheit, und darüber, wie diese Sounds über Soundsysteme wiedergegeben werden können. Beim Mastering lege ich immer eine Röhrenemulation auf die hohen Frequenzen, um sie zu glätten, weil ich es für sehr wichtig halte, dass Dinge, die hart und digital klingen könnten, leicht abgerundet werden."
Die Musik aus dem Umfeld der Szene ist nicht für die Feinheiten im Mixing bekannt, sondern für den offenen Umgang mit Prozessen. Durch die Abwesenheit von festen Regeln entsteht Raum für überraschende Arten, Sound zu generieren und zu manipulieren. Shy spricht über Methoden wie das Phasen von zwei deckungsgleichen Pad-Sounds, um damit halluzinierende, unter-wasser-ähnliche Effekte zu bekommen, und beschreibt die Rhythmen für „Surface” – einen seiner bekanntesten Tracks als uon – als gutes Beispiel für einen glücklichen Zufall.
„Die Rhythmen auf ‘Surface’ sind mit einer App namens Impaktor auf meinem Smartphone entstanden,” erklärt er. „Man legt das Handy auf eine Oberfläche und tippt auf die Oberfläche und ein Rhythmus entsteht. Ich hatte einen ausgeleierten Groove auf einem Plattenspieler laufen und meine Lautsprecher zeigten nach oben, und so entstand der Beat aus dem ausgenudelten Groove, der in die App ausgespielt wurde, die dann diese arrhythmische Struktur erzeugt hat. Mich inspiriert es, neue Prozesse zu finden, aber ich kann sie dann meistens nicht so oft wiederholen.
Humor und Gemeinschaft
Humor ist sinnstiftend für die Gemeinschaft und ihre Musik. Wie jeder Freund:innenkreis hat auch dieser Insider-Jokes und Referenzen, die sich einem größeren Publikum schwer erklären lassen. Jener Geist, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, fühlt sich in einem größeren Kontext jedoch erfrischend an, in dem ein freudloser Zugang zu Experimentalmusik sich weithin als Standard durchgesetzt hat. Humor in der Musik bewegt sich immer auf einem schmalen Grad und droht, ins Lächerliche zu kippen, die Witze sind aber immer in außergewöhnliche Sounds eingebettet, egal ob sie sich auf Tracks wie Tomb Raider mit Freude an der Y2K-Kultur bedienen oder das älteste in Notenschrift festgehaltene Musikstück der Geschichte sampeln.
„Ich glaube, viele Leute erwarten von Ambient oder sowas, ernst und akademisch daherzukommen,” sagt Bondy, „aber es liegt tatsächlich richtig viel Tiefe im Stumpfsinn und im Herumblödeln. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum Jammen und Virtual DJ für viele von uns so gut funktioniert, und warum wir so grob arbeiten, weil das diesen “Hirn aus”-Vibe richtig gut einfängt.
Trotz der sehr familiären Verbindungen zwischen einigen der Kernmitglieder der Community handelt es sich bei letzterer nicht um einen geschlossenen Kreis. Die Anzahl der neuen Namen, die es in die Kataloge von 3XL, West Mineral Ltd. und verwandte Labels schaffen, zeigen, dass die Gruppe nach außen so offen ist wie ihre Musik. Bondy sieht den Grund dafür in der geteilten Philosophie und einer besonderen musikalischen Kompatibilität. Obwohl alles jedoch relativ ungezwungen und ungeplant daherkommt, gibt es eine treibende, organisierende Kraft, die die Musik zusammenhält und der Welt zugänglich macht.
„Ich habe das Gefühl, das ist einfach dieses spirituelle Mindset,” sagt Perila, „dieser Ansatz des ‘offenen Wegs’, wie wir ihn nennen, wo es keine Begrenzungen gibt, dafür aber das Bedürfnis, die Grenzen unserer Wahrnehmung ständig zu verschieben. Leute wie Shy und Naemi [Exael] ziehen eigentlich fast so eine Art Zukunft in die Gegenwart, ohne dabei sowas zu sagen wie ‘ah, das ist futuristische Musik.’ Aber in ihrem Ansatz des DJings und Musikmachens liegt etwas aus der Zukunft, das ein bisschen langsam Einfluss auf die Denkweisen der Leute nimmt, sodass sie ein bisschen weiter denken, und nicht immer in diesen limitierenden Framings wie ‘Ambient.’ Das liebe ich, wenn ich die Musik meiner Freund:innen zu beschreiben versuche, die haben alle ihren eigenen und individuellen Style. Darin liegt eine sehr einzigartige Verarbeitung der Realität durch Klänge.”
Mehr von 3XL gibt es auf Bandcamp.
Text und Interviews: Oli Warwick
Übersetzung: Julia Pustet
Es handelt sich um eine gekürzte Übersetzung des englischen Originaltexts.