Picó: Wie kolumbianische Soundsysteme einen neuen weltweiten Beat erfinden
In Barranquilla, Cartagena und in vielen anderen Dörfern und Städten entlang der kolumbianischen Karibikküste pumpen enorme Outdoor-Soundsysteme auf der Straße munter Champeta, Salsa, Calypso, Cumbia, Zouk oder Soukous in aufgeheizte Scharen von Tanzwütigen. Dazu zucken bunte Laserstrahlen und pulsierende Lichter über die Menge hinweg und lassen dabei psychedelische, handgemalte Bilder von Drachen, Zauberern, Soldaten und anderen jenseitigen Figuren aufleuchten, mit denen Bühne und Lautsprecher verziert sind.
Jedes der Soundsysteme hat seine eigenen thematischen Merkmale (z. B. „Das Soundmonster”, „El Solista — Der König der Tanzfläche”), die sich in diesen kaleidoskophaften Malereien widerspiegeln. Ohne sie wäre eine Picó-Party nicht, was sie ist: eine lateinamerikanische Variante des Raves, die auf eine jamaikanische Soundsystemparty trifft – inklusive DJs, Livemusikern und aufopferungsvollen Teams, die das Ganze zum Laufen bringen. Und so eine Crew ist wirklich notwendig, bedenkt man die Größe mancher dieser Partymaschinen.
Größenmäßig rangieren die Anlagen der Picó-Soundsysteme von kleineren, mobilen DJ-Pulten zu monströsen Türmen aus Hoch- und Tieftönern, die bis zu vier Reihen hoch und mehrere breit sein können. Genau wie sein jamaikanisches Gegenstück nahm das Phänomen Picó in den 60er Jahren seinen Anfang. Vor allem den afro-karibischen Kommunen an der nordöstlichen Küste Kolumbiens boten die Outdoor-Soundsysteme die Möglichkeit, sich ohne viel Geld zu amüsieren. Durch sie konnte man Musik spielen, die den Menschen, die wenig oder gar keinen Zugang zu Radio und Live-Konzerten hatten, gefiel. Natürlich haben die Musikstile die aufgelegt werden über die Jahrzehnte einige Entwicklungen durchgemacht. Mit dabei waren jedoch stets tanzbare afrikanische Rhythmen wie die kongolesische Rumba, Afropop, Zouk oder Soukous.
Für die Picós ist die Verbindung zur afrikanischen Musik etwa so grundlegend wie es der amerikanische R 'n' B für die jamaikanischen Soundsysteme ist. Afrikanische Rhythmen sind die Basis für Kolumbiens moderne Cumbia- und Champeta-Formen. Der Mix, der auf Picó-Soundsystemen gespielt wird, ist äußerst lebendig, bunt und „cool”. Auf unverkennbare Art werden darin Vierviertelbeats und gitarrenlastige Sounds aus Zentral- und Ostafrika mit fröhlichen Soca-Sounds aus der Karibik und Percussion-Elementen aus Südamerika gemischt. Picó-Sets haben inzwischen auch einigen Künstlern zum Durchbruch verholfen. So zum Beispiel Systema Solar, denen es gelingt, diese energetische Ästhetik in ihren Produktionen festzuhalten.
Der 36-jährige Kolumbianer Harvey Cubillos erkannte die Chance, die lebendige Picó-Ästhetik einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Cubillos ist Ableton Certified Trainer und erfahrener Produzent für elektronische Musik. Er unterrichtet an der DJ Productor Akademie in Madrid. Dort entstand seine Idee für eine Ableton-Konsole, mit der man den Vibe, die Sounds und die Rhythmen der Picós perfekt einfangen konnte.
Cubillos nahm die dazugehörigen, traditionellen Instrumente auf, kreierte einen authentischen Synth-Sound und sampelte sogar einige einheimische Picó-DJs am Mikro für den echten Flair. Dabei entstand unser Picó-Pack, das zum Gratis-Download zur Verfügung steht. Cubillos hofft, dass Nutzer „damit Spaß haben, spannende Dinge schaffen und mit dem Sound aus der kolumbianischen Karibik viele interessante neue Beats kreieren.”
Das Picó-Pack als Download
Wir haben via Skype mit Cubillos in Madrid gesprochen, weil wir gern mehr über die kolumbianischen Soundsysteme erfahren wollten. Und auch darüber, wie das Producer-Pack entstanden ist.
War traditionell-kolumbianische Musik ein Einfluss für dich, als du mit dem Auflegen und dem Musikmachen begonnen hast?
Nein, damals war ich total auf Future-Trance, Techno, Progressive House und Dance fokussiert. Ich habe mit 19 mit dem Produzieren angefangen, indem ich sample-basierte Aufnahmen mit recht einfachen Soft-Synths und Instrumenten gemischt habe. Inzwischen habe ich drei Alben aufgenommen. Mein letztes, Vuelve y Engancha, ist 2005 erschienen. Seitdem habe ich vor allem unterrichtet, aber ich produziere auch weiterhin meine eigenen Sachen.
Wie bist du als jemand der vom Dance kommt auf die lateinamerikanischen und karibischen Stile aufmerksam geworden, die von den Picó-Sundsystemen gespielt werden?
Ein paar Jahre nachdem ich zu produzieren und aufzulegen angefangen hatte, habe ich in einer kleinen Stadt bei Bogotá eine traditionell-kolumbianische Gruppe gehört. Ich begann mir vorzustellen, wie man diese Sounds mit Dance verbinden könnte. Ungefähr zur selben Zeit meinte ein Produzenten-Kollege von mir, ich könnte doch auch mal mit unserer indigenen Musik ein paar neue Sachen ausprobieren. Ich fing an, mich in die Musik der kolumbianischen Küste reinzuhören. Sie ist wirklich anders als die im übrigen Land, da die karibischen Küstenregionen stark afrikanisch beeinflusst sind. Die Mischung von traditionell-afrikanischer Perkussion und der indigenen gaita (Flöte) hat das hervorgebracht, was heute als Cumbia bekannt ist.
Wann hattest du das erste Mal mit Picó-Soundsystemen zu tun?
Ich wurde in Bogotá geboren – also weit weg von der Karibkküste, wo die Picós herkommen. Als ich dabei war, mein zweites Album zu produzieren, begann ich mich mehr mit der Kultur der karibischen Regionen meines Landes zu befassen. Ich habe viel über die Musik und die Geschichte der Gegend gelesen und dabei eine Menge über die Picó-Systeme erfahren. Als ich dann später an die Küste gereist bin, wurde mir sofort klar, dass ich statt in der Hauptstadt lieber in der Karibik aufgewachsen wäre.
Was ist für dich das Besondere an den Sets und Partys der Picó-Soundsysteme?
Die Picó-Systeme sind ein Teil der hiesigen musikalischen Kultur. Außerdem ist jeder Picó einzigartig, weil er individuell von dem DJ oder den Musikern gestaltet wird, die ihn bedienen. Ich liebe die Farben, die Designs und das Charisma, das das Ganze hat. Letztendlich stehen sie für die Entwicklung der Musik, die von Afrika aus nach Kolumbien kam. Kolumbianer lieben Picó-Systeme. Denn obwohl sie von der Küste kommen, stehen sie doch für die Popkultur des gesamten Landes. Sie verkörpern den Sound, die Musik, die Eigenheiten der Küstenregion und sind seit Jahrzehnten fester Bestandteil jeder Party, jeder verbena (Festival) und jedes Konzerts dort.
Inwieweit ähneln sie jamaikanischen Soundsystemen?
Die jamaikanischen Soundsyste sind mobiler. Man kann sie mit dem Auto von einem Ort zum anderen fahren. Manche Picós fahren auch herum, aber die meisten sind irgendwo dauerhaft installiert oder werden zumindest an der gleichen Stelle aufgebaut.
Welche Musikgenres werden auf Picós gespielt?
Die musikalische Kultur Kolumbiens hat sich über die Jahrzehnte ständig verändert und entsprechend ist die Musik auf den Picós mitgezogen. In den 50er Jahren wollten die Leute Cumbia, Mambo und (afrikanische) Rumba hören. In den 60ern und 70ern spielten die DJs vor allem Salsa und afrikanische Stile, wie zum Beispiel Zouk. Champeta-Musik im „Terapia”-Stil (eine Mischung aus Soukous und karibischer Rhythmik) war in den 80ern schwer angesagt. In den 90ern spielten alle Champeta. Und heute spielen Picós eigentlich jeden modernen Musikstil. Aber die am stärksten frequentierten sind die, die ich oben genannt habe.
Veröffentlichen Picó-Künstler auch Musik?
In den 90er Jahren haben einige Musiker und DJs, die zu Picós dazugehörten, angefangen eigene Champeta-Songs zu produzieren.
Was für Rhythmen oder Instrumentalsounds sind typisch für Picós? Und wie hast du sie für dein Pack eingefangen?
Für mich ist das charakteristischste Instrument der hiesigen Musik – und ganz besonders für Picós – das Yamaha DD65-Drumpad. Deswegen haben wir dem Ableton Picó-Pack einige Samples beigefügt, die ähnlich wie dieses Modell klingen. Es sind auch Vocal-Aufnahmen von DJs und Ansagern aus Barranquilla enthalten. Darunter sind Leute wie La locura Musical, Derbi Figueroa und Abel Llinás. Zusätzlich gibt es eine Reihe indigen-kolumbianischer Drum-Samples darin – zum Beispiel tambora, alegre und llamador.
Kannst du den kreativen Prozess näher beschreiben, in dem das Picó-Pack entstanden ist?
Obwohl ich wie gesagt aus Bogotá komme, habe ich mich sehr in die Musik der Küste verliebt. Um die unterschiedlichen Musikstile zu kombinieren, erschien es mir am einfachsten, so eine kleine Picó-Konsole für Ableton zu entwerfen. Ich wollte ein Pack erschaffen, mit dem man die Picó-Sounds als Nutzer neuartig einsetzen kann. Die Idee schien anfangs völliger Wahnsinn zu sein, weil Picós große Maschinen und voll mit psychedelischen Designs sind, die eigentlich kaum ins Live-Interface passen. Doch ich habe Layouts gefunden, die denen der Picós sehr ähnlich sind und die hervorragend ins Ableton-Design passen.
Wie schon erwähnt, sind die Synth-Pads vom Yamaha DD65 inspiriert. Ich wollte einen Sampler haben, der mit diesem Drum-Kit zusammenpasst. Ganz so, als ob man dieses Instrument in einem echten Picó spielt. Also wandte ich mich an Lina Bautista, einer Spezialistin für die visuelle Programmiersprache Max. Sie sollte mir helfen, das Instrument zu bauen. Wir beide steckten viel Arbeit hinein und haben dabei ein einzigartiges, maßgeschneidertes Werkzeug für alle Nutzer geschaffen.
Bei diesem Projekt entstand eine simple Ableton-Konsole, die zugleich sehr attraktiv ist. Sie hat einen Sequenzer und drei verschiedene Soundbanks (Traditional, Electronic und Champeta). Die erste davon enthält hauptsächlich indigene Drum-Samples – unter anderem tambora, llamador, alegre. In der zweiten liegen die Synthesizer, die ich für das Pack gemacht habe. Und in der dritten findet man Sounds, die typisch für Champeta-Songs sind – zum Beispiel Vocal-Samples von Radio-DJs und Picó-Musikern aus Barranquilla und aus anderen Städten.
Dazu hat mein guter Freund Gustavo Angulo, der ein hervorragender kolumbianischer Musiker ist, auf meinen Wunsch hin einige typisch-karibische Instrumente eingespielt. Zum Beispiel hat er gaitas und Caña de Millo (Millo-Flöte), Akkordeons und Klarinetten aufgenommen. Diese Elemente sind in den „Roots”-Packs enthalten – das sind zusätzliche Konsolen, die das Picó-System abrunden - sie klingen wirklich gut!
Was erhoffst du dir von diesem Projekt?
Ich wünsche mir, dass die traditionelle Musik-Kultur Kolumbiens durch die Ableton-Technologie bereichert wird. Ich hoffe, dass die Leute dieses Pack nutzen und Spaß dabei haben, spannende Dinge zu entwickeln und dass sie die Musik der kolumbianischen Karibik nutzen, um fröhliche und interessante neue Beats zu basteln. Es ist eine einfache Konsole, aber man kann wirklich eine Menge damit machen!