Photay: Aufwärts
Musik entsteht niemals im luftleeren Raum, aber nicht nur die einzelnen Elemente fügen sich zusammen. Die fesselndsten Stücke scheinen aus mehr als der Summe der einzelnen Teile zu bestehen. Für Musiker und Produzenten ist es zwar selbstverständlich, ein Musikstück in seine Bestandteile zerlegen zu können, doch gibt es immer etwas auf höherer Ebene, das einen wirklich runden Track ausmacht.
Vor diesem Hintergrund gibt uns Photay alias Evan Shornstein faszinierende Einblicke, wie er beim Layering vorgeht. Mit seiner musiktheoretischen Ausbildung entwickelt er dichte Harmonien und Klangfarben. Dadurch strotzen seine Tracks vor Komplexität und folgen mitunter ganz herkömmlichen Strukturen, um sich dann wieder auf einfachere Elemente wie Fieldrecordings, schräge Stimmsamples und andere Subtilitäten zu beziehen.
Oft sind es gerade die minimalen Variationen, die sich in Photays Tracks einschleichen, um im nächsten Augenblick mit maximaler Schönheit zu explodieren. Bei „Balsam Massacre“ oben wird deutlich, wie sich die scheuen Keyboards langsam in einen fröhlichen Bläsersatz verwandeln. Zwar liegen seine Einflüsse vor allem im Ambient, doch die Stücke von Photay entwickeln sich immer klar weiter – und jeder neue Sound scheint aus dem vorangegangenen abgeleitet zu sein.
Unmittelbar vor der Europatour zu seinem aktuellen Album Onism sprachen Evan Shornstein und David Abravanel darüber, wie man live ein Solo-Set definiert, einen kreativen Tagesablauf gestaltet, digitale Stille ausfüllt und mehr.
Auf dem Album legst du mehrere Instrumente übereinander. Wie entscheidest du, welche du live spielst?
Meiner Erfahrung nach ist das immer ein sehr verschlungener Weg, weil ich darauf brenne, ein Live-Set zu erarbeiten, das nicht einfach wie das Album klingt. Ich will etwas komplett Neues und doch Bekanntes machen. Das ist wie ein Lernprozess, verglichen mit dem ersten Durchlauf des Sets. Im Rückblick denke ich mir: „Junge, du hast die Elemente dort hervorgehoben und das da solo gespielt, oh Mann.“ Und mit der Zeit verstehe ich die Prioritäten, ich weiß, was live funktioniert und was ich vernachlässigen kann.
Bei mir ist es immer so eine Mischung. Einerseits aus meinem aktuellen Live-Set, das superpedantisch mit Elementen umgeht, die niemand im Club oder im Saal versteht. Andererseits geht es auch um die Balance, wann etwas einfach geloopt oder getriggert werden muss. Dann sage ich mir: „Das kann ich unmöglich spielen und wenn doch, treibt es mich in den Wahnsinn.“ Mir geht es da um die Kombination, die wichtigsten und aussagekräftigsten Elemente zu spielen und dazu im Hintergrund live geloopte Samples zu haben.
Welche Elemente würdest du zum Beispiel live spielen und welche im Hintergrund loopen?
Auf dem Korg Minilogue habe ich eine Menge Harmoniefolgen gespielt. Für eine Sekunde auf die Tastatur rüber zu hüpfen, fühlt sich toll an. Natürlich, wenn ich mit einer Band auftreten würde, wäre es mir am liebsten, wenn jeder jedes Element live spielt. Anders ist das bei Basslines und manchen Drums. Als Drums nehme ich oft sanfte, geloopte Percussion-Layers und spiele die Kicks und Snares dann händisch dazu. Aber ich versuche, das bei jedem Song anders zu machen, damit ich nicht bloß das Playback habe, wozu ich einen Synth spiele, denn das würde mich verrückt machen. Ich bin eher so drauf, dass ich mich bei jedem Song auf ein anderes Element konzentriere.
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Kicks und Snares live zu spielen klingt ungewöhnlich. Spielst du sie an und loopst sie dann oder spielst du den ganzen Song durch?
Bei meinem Song „The Everyday Push“ zum Beispiel spiele ich die großen 808-Kicks, die Percussion mit Federhall und die Claps. Das mache ich quasi den ganzen Song lang, ich arrangiere ihn um oder bearbeite ihn, damit in der Mitte lange Breaks entstehen, wo ich von den Drums auf einen Synth oder so umwechseln kann. Normalerweise spiele ich durch, aber ich lasse genügend Percussionloops zur Unterstützung übrig, damit ich mich davon auch lösen kann. Hätte ich Mitmusiker, könnte ich mich tatsächlich hinsetzen und spielen, aber ich will flexibel genug sein, dass ich umwechseln kann. Im Normalfall habe ich eine Hand am APC-40 und die andere auf dem Drumpad.
Apropos federnde Sounds, auf Onism gibt es einige sehr schöne, kurze, melodische Hallfahnen. Hattest du dafür eine spezielle Methode, schaltest du zum Beispiel ein bestimmtes Tool ein?
Für das aktuelle Album hatte ich von einem Freund die Hallspiralen seines Gitarrenverstärkers ausgeliehen und am Ende zupfte er einfach die Metallfedern. Aus diesen Samples baute ich meine Crashbecken und ließ dort die unterschiedlichsten Sounds durchlaufen, sozusagen um die Federn anzuschlagen.
Ich habe außerdem ausgiebig mit Convolution Reverb gearbeitet, viele Presets davon waren einfach meine Lieblingsreverbs, meine Standardwerkzeuge. Aber auf dem Album ging es genauso um einfache Delays aus Live.
Evan demonstriert sein Live-Setup und wie er seine Studiotracks für die Bühne aufbereitet.
In früheren Interviews tauchte bei dir öfter das Thema Fieldrecordings auf und auf Onism sind einige deutlich zu hören. Wenn du mit Feldaufnahmen arbeitest, fügst du sie normalerweise zu bestehenden Tracks hinzu oder entstehen die Tracks aus den Feldaufnahmen heraus?
Ähm, beides! Ein natürlich auftretendes Geräusch, sowas Superorganisches, gibt mir immer ein gutes Gefühl. Nichts im Studio Aufgenommenes, sondern einfach etwas aus der Außenwelt, das in seiner reinen Umgebung existiert. Das wirkt sich definitiv auf den Track aus, sogar wenn es nur ein Klick von einer Sekunde ist. Dahinter steckt die Idee, etwas von einer ganz organischen Klangquelle hinaus auf digitales Terrain zu heben.
Ganz oft ist es auch so, dass ich an einem Track sitze und stark die digitale Stille spüre. Bei einigen Stücken wie „The Everyday Push“ gibt es eine sehr dünne Schicht aus Feldaufnahmen, dort sind es Vögel auf dem Big Sur an der Westküste, gleich neben der Straße. Für mich sind sie echt subtil und ein Freund meinte neulich zu mir: „Stimmt, jetzt wo du es sagst, nehme ich sie wirklich wahr.“ Besonders über Kopfhörer gibt es da so eine, sagen wir mal, sanfte Ebene aus organischer Landschaft.
Interessante Lösung, besser als einfach Bandrauschen oder Schallplattenkratzen zu nehmen.
Richtig! Anfangs habe ich mehr oder weniger über alles Schallplattenkratzen gelegt. Und dann, wenn die Musik letztlich auf Wachs gepresst wird, wird es ganz schön meta [lacht]. Für mich ist das eine schöne Art, den Leuten etwas unterzujubeln, was sie womöglich gar nicht realisieren, es sei denn, man erwähnt es.
Fängst du bei einem Track eher mit einer Akkordfolge, mit einem bestimmten Sound oder vielleicht mit einem charakteristischen Loop an?
In den meisten Fällen ist es ein spezieller Sound mit spezieller Charakteristik. Das Stück „Storm“ auf Onism entstand aus einer Jam mit meiner Stimme, einem Harmonizer-Pedal und einem Kirchenhall-Pedal. Die fertige Aufnahme habe ich zerschnitten und in eine neue Reihenfolge gebracht. In anderen Fällen verliebe ich mich in eine zufällige Akkordfolge und lasse mich nur davon inspirieren. Aber meistens geht es von einer besonderen Klangfarbe aus, bei der ich glaube, eine Welt zu finden, die mir gefällt und ich spüre, dass ich darauf aufbauen kann.
Beginnst du bei der Studioarbeit eher in der Session- oder in der Arrangement-Ansicht?
In der Arrangement-Ansicht, schon von Anfang an. Aber seit ich angefangen habe, Live-Sets nur aus Clips im Session-Mode aufzubauen, inspiriert mich das total, denn es funktioniert wie mit einem Sequencer. Es läuft einfach weiter, es loopt und läuft und hört quasi nicht auf und fängt nirgends an, es geht viel ums Anklicken. In Zukunft will ich von der Arrangement-Ansicht unbedingt weiter weggehen. Andererseits sind bei mir immer viele Songs in Arrangementform, weil sie tatsächlich aus einer Menge Struktur und Abschnitten bestehen.
Du hast einen Abschluss in Studiokomposition gemacht. Hat das einen Einfluss darauf, wie du an einen Track herangehst?
Ja. Ein paar meiner Profs haben mich zum Songwriting richtiggehend gezwungen, das hieß, sich ans Klavier zu setzen und wirklich zu schreiben. So nach dem Motto: Wenn du eine gute Melodie oder Harmoniefolge schreiben kannst, dann ist die Klangfarbe egal. Das finde ich auch, aber ich stecke mittlerweile auch ziemlich tief im Techno drin und schon immer im IDM und in allen anderen Musikrichtungen, die auf Klangfarben beruhen. Jedenfalls habe ich vom Studium definitiv mitgenommen, den Schwerpunkt auf Melodie und Themenentwicklung zu legen.
Ich reagiere bei Aufnahmen schon immer sensibel auf Wiederholungen. Vielleicht, weil meine Schwester es immer hasste, dass die Musik, die ich hörte, so repetitiv war. Manche, die ich kenne, mögen Wiederholung angenehm finden, aber ich versuche, die Dinge weiterzutreiben. In letzter Zeit probiere ich dabei entgegengesetzte Strategien aus. Ich bin nämlich totaler Fan vom neuen Album von Nils Frahm, All Melody. Dort entwickeln sich gigantische Harmoniefolgen. Da ist für mich neuerdings die Frage: Wie lange kann ich mich auf ein einziges Thema konzentrieren, aber mit Variationen?
Wenn du gerade nicht auf Tour bist, aber ins kreative Schaffen kommen willst, wie sieht für dich ein normaler Tagesablauf aus? Fällt es dir leicht, etwas zu einer bestimmten Zeit zu erledigen oder musst du abwarten, bis die Inspiration zuschlägt?
Da habe ich viel herumexperimentiert. Ich weiß noch, als ich in die Stadt zog, dachte ich mir: Okay, das musst du jetzt als Job betrachten, aufstehen, frühstücken, dich ransetzen und los geht’s! Aber ich saß bloß da, nur die Wand und ich, mit dem Gefühl „Oh Mann“.
Jetzt mache ich eine ganze Menge mehr, zum Beispiel gehe ich morgens oft erstmal schwimmen und das hilft mir sehr. Aber es stimmt schon, Kreativität kommt auf jeden Fall in Wellen. Ich habe lange Phasen, in denen ich an Klangfarben und an Sounds arbeite und dann verbeiße ich mich plötzlich in etwas, wo ich mit einer ganz klaren Vorstellung arrangiere und schreibe. Aber das kommt wirklich nicht jeden Tag vor. Ich habe viele Freunde, die ich darum beneide, dass sie einfach loslegen können, einen Track schreiben und ihn abfeuern. Ich habe sehr fruchtbare Phasen, in denen ich schreibe und dann wieder lange Trockenphasen. Ich habe versucht, die Balance zu finden und während solcher Phasen einfach Shows zu spielen oder an meinem Live-Set zu arbeiten. Es ist für mich dann eben keine Schreibphase. Auch Remixe haben mir geholfen, weil es da einen Zeitplan und eine Deadline gibt und dazu noch Ausgangsmaterial. In den Phasen, in denen ich beim Schreiben nicht so viel Erfolg hatte, hat mir das sehr geholfen.
Auf beiden Albumcovers ist ein Schwarz-Weiß-Foto von dir. Das erste sieht aus wie ein Teenagerbild.
Stimmt, aus der neunten Klasse.
Das nächste Bild sieht etwas aktueller aus. Ein bisschen wie bei den ersten beiden Alben von Nas, wo er einmal als Kind und dann als Erwachsener erscheint, als Anspielung auf Reife oder Fortschritt. Welche Geschichte steckt hinter deinen Covers?
Bei Elektronischer Musik setzt man in Sachen Ästhetik oft aus etwas Futuristisches oder auf etwas, das nach Elektronik aussieht. Einer meiner Freunde schlug eines Tages vor: „Warum nimmst du nicht einfach dieses großartige Bild mit dem Afro aus der neunten Klasse?“ Das kam mir total richtig vor, weil das mein erstes Album auf Astro Nautico war. Es hatte noch seine Ecken und Kanten, aber zu der Zeit, warum nicht! Damit begann eine schöne Reihe. Als Sadie, die nächste EP, herauskam, war darauf nur ein Schwarz-Weiß-Foto von meinem Hund. Ich stehe total auf Farben und für mich ist so eine Beschränkung im Artwork eine tolle Sache, weil ich die Musik selbst ziemlich farbenfroh finde und ihr gern ein beinahe widersprüchliches Äußeres verpasse.
Für Onism gab es nur ein aktuelles Foto, das ein Freund von mir auf einem Roadtrip gemacht hatte. Stimmt schon, keine Ahnung, ob ich daraus ein Cover gemacht hätte, wenn dem nicht der Afro vorausgegangen wäre. Mir gefiel einfach diese Verbindungslinie von vorher und nachher.
Wo könnte es mit deiner Musik als nächstes hingehen?
Ich habe mir eine Menge neue Instrumente zugelegt, wie den Buchla Easel und ich toure viel. Das große Ziel ist, dass ich weiter vorankomme und Wiederholungen vermeide. Ich habe mir vorgenommen, viel in neuen Umgebungen zu arbeiten und mit neuen Workflows zu experimentieren. Immer wenn ich gefragt werde, was mein typischer Workflow ist, kriege ich das Gefühl, dass ich noch auf der Suche bin.
Bonustrack:
Fotos von Photay: Ben Zank
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