Vor genau 100 Jahren verfasste der italienische Maler und Komponist Luigi Russolo sein Manifest 'Die Kunst der Geräusche' (The Art Of Noise). Ausgehend von der Industrialisierung und dem zunehmenden Geräuschpegel einer mehr und mehr mechanisierten Welt, plädierte er für einen maßgeblichen Einfluss dieser Entwicklung auf zukünftige Kompositionen und deren Instrumentierung. Russolo war davon überzeugt, dass kommende Generationen von Musikern die begrenzten Klangfarben eines Orchesters dank Elektronik und anderer Technologie um unendlich viele aus Geräuschen gewonnene Klangfarben bei der Reproduktion erweitern würden.
Kommt Ihnen bekannt vor? Die einstigen Prophezeiungen des Luigi Russolo sind längst Realität geworden. Eine "unendliche Vielfalt an Klangfarben von Geräuschen" steht heute jedem Musiker, der mit dem Computer arbeitet, ohne weiteres zur Verfügung. Eine zeitgemäße Klangpalette lässt selbst die opulentesten Möglichkeiten vergangener Tage weit hinter sich zurück. "Geräuschhafte" oder, genauer gesagt, synthetisch erzeugte Sounds sind in der heutigen Musik so normal, dass sie wohl niemanden mehr auch nur ansatzweise überraschen könnten. Mit anderen Worten: Was selbst den Vordenker Russolo im Jahr 1913 regelrecht schockiert hätte, gehört heute zum Standard eines klanglichen Ausdrucksvermögens, an das wir uns als Hörer längst gewöhnt haben.
Der in Brooklyn lebende Künstler Nick Yulman erforscht mit seinen Arbeiten seit einiger Zeit das musikalische Potenzial von Alltagsgegenständen und manipulierten Instrumenten. Ein nüchterner, wissenschaftlicher Ansatz liegt ihm dabei fern. Vielmehr wandeln seine ganz praktischen Installationen auf den Spuren des Pop. Damit zieht er sein Publikum emotional in den Bann und regt es dazu an, mit all den Sound erzeugenden Apparaturen zu interagieren. Tut der Betrachter das, erweckt er durch sein Eingreifen nicht nur die einzelnen klirrenden Elemente in Yulmans Werken zu musikalischem Leben, sondern beeinflusst durch die Art und Weise des Zugriffs auch das Zusammenspiel und die Komposition. Von diesem Punkt an verschwimmen die Grenzen. Es ist weder das aktive Spielen eines Instruments, noch rein passives Zuhören. Diese Art, in das Geschehen eingebunden zu sein, kalibriert die Wahrnehmung der Objekte und der daraus hervorgebrachten Klänge vollkommen neu.
Wir haben für Sie drei Arbeiten von Nick Yulman ausgewählt, die wir Ihnen im Video vorstellen möchten. Zu jeder Installation finden Sie auch die begleitenden technischen Ausführungen des Künstlers.
Song Cabinet
Song Cabinet ist eine interaktive Arbeit aus dem Jahr 2010. Anhand eines kleinen Schubladenschranks kann der Betrachter geheimnisvolle Gegenstände und musikalische Texturen entdecken. Das Öffnen und Herausziehen der Schubladen löst verschiedene Musik-Miniaturen aus. Die Miniaturen verändern sich je nach dem, wie weit eine Schublade geöffnet ist. Den Sound selbst generieren die in den Schubladen enthaltenen Objekte, die entweder beklopft, geschüttelt oder direkt angeschlagen werden. Sie treten in einem gemeinsamen rhythmischen Dialog und lösen die unterschiedlichsten Assoziationen und Erinnerungen aus.
Nick erläutert die Technik des Song Cabinet: Ich verwende Lichtsensoren und einen Arduino, um die Position jeder einzelnen Schublade zu erfassen. Die unterschiedlichen Positionen senden dann ein MIDI-Signal an Live. Dort werden die miteinander korrespondierenden Musik-Pattern abgespielt. Die MIDI-Informationen sind auf die An-/Aus-Schalter der Lautsprecher gemappt. Dadurch läuft alles synchron, egal ob etwas gerade aktiviert ist oder nicht. Der MIDI-Ausgang von Live steuert über einen Mikro-Controller die mechanischen Instrumente innerhalb der Schubladen. Jede einzelne besitzt einen Aus-Modus und generiert zwei unterschiedliche Pattern – in Abhängigkeit davon, wie weit die Lade heraus gezogen ist.
Animal Magnetizer
Animal Magnetizer ist eine jüngere Installation, die aus räumlichen Sensoren und automatisierten akustischen Instrumenten besteht. Das Publikum kontrolliert gemeinsam die Mixtur und den Verlauf der Komposition durch die Bewegung von Händen und Körpern im Raum.
Nick erklärt: Ähnlich wie bei Song Cabinet nutzt auch diese Arbeit die Lautsprecher-An-/Aus-Kommandos in Live. So lässt sich kontrollieren, welche mechanischen Instrumente gerade in dem kontinuierlichen Loop involviert sind. Bewegt einer der Beteiligten seine Hände über ein Instrument, wird es aktiviert und spielt im Gleichtakt mit allen anderen. Um alle Elemente der Installation zu aktivieren, bedarf es mehrerer Teilnehmer. Die meisten Instrumente sind Bestandteile eines Systems, das ich entwickelt habe. Ich nenne es Bricolo. Damit kann ich nahezu jedes Objekt in ein MIDI-kontrollierbares mechanisches Instrument verwandeln. Für die Sensorik verwende ich eine Kinect-Kamera, in Verbindung mit einer selbstgeschriebenen Prozesssoftware. Eine sensitive 3D-Bewegung über den Instrumenten löst unterschiedliche MIDI-Signale aus, die dann an Live geschickt werden. Live machte es mir sehr einfach, meine Steuerungssoftware so zu kalibrieren und auf die Instrumente zu mappen, dass sich der musikalische Inhalt in Echtzeit verändern lässt.
Concert Hall
Nicks neueste Arbeit ist seine bis dato auch umfassendste und ambitionierteste: Concert Hall ist eine begehbare musikalische Umgebung, in der mechanische Instrumente einen einstündigen Zyklus aus Liedern und Ambients aufführen. Der Ort, in dem sich das Ganze abspielt, ist eine fantasievolle Spezial-Konstruktion, die neben der Klangkunst viele interaktive Licht- und Videoarbeiten präsentiert. An Concert Hall beteiligt waren außerdem Ranjit Bhatnagar, Frédéric Durieu, Julien Gasc, Rabid Hands, Sunita Prasad und maya.rouvelle. Kuratiert wurde die Arbeit von Jean Barberis und Georgia Muenster.
Die Musik besteht aus MIDI-kontrollierten mechanischen Instrumenten und aufgenommenen Stimmen. Ein in den Wänden integriertes Mehrkanal-Laustprechersystem platziert die Stimmen im Raum. Die Klangerzeuger für Concert Hall bestehen aus traditionellen automatisierten Instrumenten (Drums, Xylophone, E-Piano, Akkordeon und mehr), Modulen aus dem Bricolo-System, das einige meiner zusammengetragenen Objekte bedient (inklusive dem Ting-Synthie, der Melodien und Basslinien auf Büchern spielt) sowie kleinen perkussiven Stellmotoren, die an der Decke und den Wänden hängen und für dynamische Raumeffekte sorgen. Für die Zusammenführung der 16 einzelnen musikalischen Stücke nutzte ich die Arrangierfunktionen in Live. Und dann variiere ich die einzelnen Teile noch über Tempo, Mix und Effekte.
Die Reaktionen auf dieses Kunstwerk waren bisher überwältigend. Allein in der Eröffnungsnacht sahen es über 14.000 Leute.
Noch bis zum 9. September ist Concert Hall im Palais de Tokyo in Paris zu sehen. Sollten Sie es nicht nach Paris schaffen, können Sie eine von Frédéric Durieu geschaffene virtuelle Tour zu Concert Hall vornehmen.
Auf Nick Yulmans Website gibt es noch viel mehr zu entdecken. Dort geht es auch ausführlicher um Bricolo – das mechanische Musiksystem für digital-affine Musiker und Klangkünstler, die Robotik in ihre Aufführungen und Aufnahmen einbinden wollen.