Die neue Welle: Wavetable in Live 10
Wavetable ist das neue Instrument in Ableton Live 10. Sie sehen und hören es im Video oben: Wavetable erschafft mystische Flächen genauso wie analog klingende Gates, sphärische Sci-Fi-Effekte und zahllose wandelbare Klänge – dahinter steckt ein neuer Ansatz der Wavetable-Synthese. David Abravanel tauchte tief in die Geschichte dieses Verfahrens ein und bekam Insiderinformationen von Abletons Soundteam, woraus diese kurze Abhandlung entstand. Hier erfahren Sie alles, was Sie brauchen, um sich von der Welle tragen zu lassen.
Teil 1: Klangevolution
Auch auf die Gefahr hin, das Wortspiel vorzeitig in die Welt zu setzen, Wavetable-Synthese kam erstmals in den frühen 80er Jahren auf und wurde schnell zum Schlüsselelement des New Wave. Der Musiker und Audiospezialist Wolfgang Palm hatte als Erster die Idee, eine digital gesampelte Wellenform zu verwenden, die sich im weiteren Verlauf verändern kann. Die Wellenformen sind in einer Tabelle gespeichert, von dort wird ein Wellenabschnitt ausgelesen und erzeugt den Sound. Das gespielte Segment nennt man manchmal auch „Table-Lookup“.
Moment mal, ist das nicht dasselbe wie Synthese auf Samplebasis? Lassen Sie uns kurz auf dieses weit verbreitete Missverständnis eingehen. Samplesynthese beruht zwar ebenfalls auf einem digital gespeicherten Sample, aber bei Wavetable lassen sich die Wellenformen außerdem morphen, falls gewollt. Das heißt, obwohl Wavetable-Synths nach Samplesynthese klingen können, unterscheiden sie sich durch den optionalen Übergang in andere Wellenformen (die meisten klassischen Wavetable-Sounds nutzen die Option „Evolve“). Wenn Sie diese Welt noch besser durchdringen möchten, empfehlen wir diesen Artikel aus Sound on Sound
Palm machte Wavetable-Synthese zum Motor des Wave, dem Synthesizer, den seine Firma PPG 1981 herausbrachte. Das Instrument kombinierte diese neue Form der digitalen Synthese mit einem analogen Filter, was dem futuristischen Sound einen Touch analoger Wärme verlieh. Solche Optionen stehen dank der zahlreichen Analogfiltermodelle auch in Wavetable zur Verfügung.
Wave von PPG machte sich als Standard-Synth einen Namen, der bis heute nachklingt. Robert Henke (aka Monolake), der Wavetable gemeinsam mit Ableton entwickelte, weiß noch, warum er seinen Wave 2.3 kaufte: „Nicht weil es um Wavetable ging, sondern weil das die Lieblingsmaschine meiner musikalischen Helden aus den 80ern war.“ Hören Sie hier ein klassisches, frühes Beispiel für den PPG Wave in „See You“ von Depeche Mode (was für ein Chor!):
Und hier eine modernere Umsetzung des Chors aus dem PPG Wave, auf Monolakes Track „Arit“ von 2016:
Ein Meer aus Atmosphären
Im Fokus der Wavetable-Synthese stehen wandelbare Klänge und ungewöhnliche digitale Atmosphären, die analoge Synths nicht bieten. Da überrascht es kaum, dass dieses Syntheseverfahren für spacige Flächen, klirrende Soundeffekte und eine Menge anderer ätherischer Klänge schnell beliebt wurde. Sequential Circuits, vor allem bekannt durch ihren analogen Polysynth Prophet 5, hoben die Wavetable-Synthese 1986 auf eine neue Stufe, als sie den Prophet VS herausbrachten. Der VS war Vorreiter auf dem Gebiet der Vektorsynthese, mithilfe eines Joysticks konnte man vier verschiedene Wellenformen miteinander mischen.
Der Prophet VS war nur ein Jahr lang erhältlich (Sequential Circuits ging kurz nach seinem Erstling bankrott). Korg erwarb die Lizenzrechte für die Technologie und baute daraufhin einen der legendärsten Synths: die Wavestation (1990). Ihr Nutzerkreis reicht von Jan Hammer, der die Titelmelodie von Miami Vice komponierte, über Orbital bis hin zu Plastikman. Da ist es fast leichter zu fragen, wer die Korg Wavestation in den 90ern nicht benutzt hat. Ein Funfact: Es ist der gepitchte C-Dur-Akkord eines Wavestation-Patches, der den universellen Sound beim Hochfahren eines Mac ausmacht. Baden Sie im Nachhall dieses seidigen Akkords in Blank Banshees Vaporwave-Klassiker „B:/Startup“:
Ein neuer Mitspieler
Gegründet von einem ehemaligen PPG-Vertriebsleiter, stand bei der deutschen Firma Waldorf Music die Wavetable-Synthese von Anfang an auf dem Programm. Mit dem Synthesizer Wave wurde 1993 eine neue Legende geboren. Bis heute erzielt der Wave bei Sammlern enorme Preise – trotzdem bleibt fraglich, ob es wohl unter ihnen jemanden gibt, der den Wave noch mehr liebt als die Detroiter Techno-Legende Mike Huckaby, der dem Instrument gleich zwei EPs und eine Sample-Library widmete. Lauschen Sie den sanften harmonischen Übergängen in „Wavetable No. 9“:
Zusätzlich zum Wave entwickelte Waldorf einige Jahre später auch leichter zu bedienende Hardware, allen voran den Microwave und den Blofeld. Der Microwave spielt eine prominente Rolle im Stück „By the Lake“ von Ableton-Mitarbeiter Christian Kleine:
Es gibt zu viele große Wavetable-Synths, um in einem Artikel allen gerecht zu werden, daher konzentrierten wir uns auf einige Legenden. Aber wenn Sie gern mehr über die geschichtlichen Hintergründe erfahren möchten (oder gerade etwas ersteigern), lassen Sie sich die Reihen Ensoniq Fizmo und Access Virus nicht entgehen.
Biegsam
Als in den 00er und 10er Jahren die Plug-ins weiterentwickelt wurden, reifte Wavetable-Synthese weiter aus und eroberte Neuland. Massive von Native Instruments, Serum von Xfer Records, Circle von Future Audio Workshop und Nave von Waldorf sind nur einige von vielen Optionen, die in den letzten zehn Jahren zum Erforschen von Wavetables verfügbar wurden.
Sie haben es bestimmt schon gemerkt, Wavetable-Synthese hat etwas von einem Chamäleon – anders als die typischen Oszillatorverschiebungen und klassischen Wellenformen eines analogen Synths oder die glockenartigen Töne eines FM-Synths, erkennt man den Wavetable-Sound nicht auf Anhieb. Wenn Sie den Wavetable-Synth spielen, werden Sie feststellen, dass seine Stärke genau in dieser Flexibilität liegt.
Teil 2: Lives neue Welle
Bei so vielen inspirierenden klassischen Vorbildern in Hardware und Software, woran orientierten sich die Sound-Designer von Wavetable? „Wir haben viel Zeit investiert, um die richtige Balance zwischen Einfachheit und Kontrolle zu finden“, erklärt Ian Hobson von Abletons Soundteam. „Wir hatten uns vorgenommen, dass Wavetable auch für Leute zugänglich ist, die keine Synthese- oder Sounddesignexperten sind, aber bei Bedarf trotzdem professionelles Manipulieren ermöglicht.“
„[Wavetable-Synthese ist] relativ leicht zu verstehen, wenn die richtigen Wellenformen vorhanden sind“, ergänzt Matt Jackson, Hobsons Kollege im Soundteam. „Der Sweet-Spot klingt enorm breit.“ „Du kannst dich darin verlieren, aber eben im Sound, nicht in Tonnen von Parametern“, sagt Robert Henke. „Du spielst damit, änderst etwas an der Tabelle, den Hüllkurven und den Filtern, so lange bis es passt und fertig. Was das angeht, habe ich eine Menge vom PPG Wave gelernt.“
Die Idee von Zugänglichkeit und Kontrolle wurde auch auf der Bedienoberfläche von Wavetable umgesetzt. Wavetable gibt einen Snapshot davon wieder, was mit dem Klang geschieht – die ausgewählten Wellenformen (inklusive dem aktuellen Lookup-Abschnitt), die Modulatoren und ihre Routings, Hüllkurven und mehr.
Ein Nachteil der klassischen Wavetable-Synths war ihr oftmals winziges Display. Beim PPG Wave oder der Korg Wavestation mussten sich Musiker beim Navigieren zwischen Wellenformen auf ihre Ohren verlassen. Mit dem Display in Wavetable dagegen ist es leichter, den Sound des Synth zu verstehen: „Die Position in der Tabelle zu manipulieren ist ungefähr so, als würde man ein Sample abspielen“, erklärt Jackson, „bloß dass man bestimmen kann, wie schnell und von wo man es abspielt, ohne dass sich die Tonhöhe ändert. Oder man sucht sich die passende Form aus einer Tabelle heraus und verwendet sie genau wie einen Oszillator in einem gewöhnlichen subtraktiven Synth, indem er sich selbst überlassen und gefiltert wird.“
Gut sortierte Quellen
Als Klangquellen bietet Wavetable eine vielfältige Tabellensammlung: „Wir haben die unterschiedlichsten Methoden angewandt,“ berichtet Jackson, „vom Sampeln analoger Geräte über digitale Eurorack-Module bis hin zu eigenen Max-Patches für eine einzige Tabelle und außerdem additive Synthese.“ Zur richtigen Wellenform zu gelangen, ist nicht so leicht, wie man zunächst vermuten mag. Jackson meint dazu: „Man muss die Tonhöhe genau treffen, es darf sich aus zwei Wellen in einer Tabelle kein dissonanter Teilton ergeben. Man muss auf die Phasenlage und das Spektrum achten.“
Wavetable-Synthese beruht auf einer Tabelle als Oszillator, daher besitzt Wavetable keine eigene Klangsignatur. Vielmehr steht eine ganz diverse Palette an Wellenformen und Presets zur Auswahl. Hier sind einige Beispiele, was Sie mit Wavetable erreichen können – alle Klänge wurden ausschließlich mit Wavetable eingespielt, ohne Zusatzeffekte.
Hinein in die Matrix
Ein Feature, in das die Sounddesigner viel Energie steckten, ist die Modulationsmatrix. Die Matrix gibt einen Überblick über die kombinierbaren Parameter und Sie werden die Oberfläche als Tool für schnelle Eingriffe zu schätzen lernen. „Wir wollten immer, dass der Gedankengang hinter Modulationen so abläuft: ,Ich will, dass dieser Parameter von dem dort kontrolliert wird.’ Und nicht etwa: ,Hier ist ein Modulator, damit will ich diesen Parameter dort steuern“, erklärt Jackson. „Das heißt bei uns zweckbasierte Modulation. Sprachlich ist der Unterschied subtil, aber es macht einen Riesenunterschied, wie der Sound entsteht und wie man an ihn herangeht.“
Hobson ergänzt: „Die Modulationsdaten auf den Parametern selbst anzuzeigen, schien uns für eine Bedienoberfläche in Live unpassend. Wir wollten nicht, dass der Workflow auf den Klangquellen beruht, so kamen wir auf die Modulationsmatrix. Wir hatten Bedenken, eine Modulationsmatrix könnte zu theoretisch wirken, also haben wir eine Menge dafür getan, dass das Design einladend wirkt und dass die Bedienung gut zum zweckbasierten Workflow passt.“
Zwar bietet Wavetable auch Tiefgang, aber Sie brauchen nur so komplex zu werden, wie Sie wirklich wollen und erhalten immer großartigen Sound. „Wir haben viel Zeit investiert, um die richtige Balance zwischen Einfachheit und Kontrolle zu finden“, sagt Hobson. „Nach einiger Zeit verfolgten wir dann den Ansatz, ein Segment mit nur minimalem Aufwand zu starten und nur dann mehr Kontrollmöglichkeiten zu geben, wenn man ein klares Ziel vor Augen hat. Wir mussten uns beim Hinzufügen von Parametern ganz schön zusammenreißen und solange nein zu neuen Funktionen sagen, bis sie wirklich notwendig wurden.“
Lesen Sie alles über die neuen Funktionen in Live 10
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