Im Oktober 2015 brachte die Loop-Konferenz viele kreative Akteure aus der Welt der Musiktechnologie zusammen. KĂŒnstler, Entwickler, Designer, Forscher, Wissenschaftler und passionierte Amateure stellten ihre Arbeit vor und tauschten sich ĂŒber wĂŒnschenswerte Formen zukĂŒnftiger Technologie aus. Mark Smith hat die Diskussionen verfolgt und einige Denkweisen festgehalten, die hinter den neuesten technologischen Entwicklungen stehen.
Viele wichtigen musiktechnologischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts haben eindeutig etwas gemeinsam: Der riskante Umgang mit Technologie kann Musik auf unerwartete, spannende Weise eine kulturelle Relevanz verleihen. Overdrive und Distortion gehen auf Gitarristen zurĂŒck, die in den spĂ€ten 1940er und frĂŒhen 1950er Jahren ihre VerstĂ€rker ĂŒberlasteten oder sogar zerstörten. Die modulare Synthese entstand durch die Nutzung technischer MessgerĂ€te und KommunikationsgerĂ€te fĂŒr rein akustische Zwecke. Das BandhallgerĂ€t war das Produkt umgeleiteter Spulen und modifizierter Schreib- und Leseköpfe. Analoge WĂ€rme oder âNicht-LinearitĂ€tâ resultierte aus Fehlern im Frequenzgang und durch Ăbersprechen. Und das Phasing entstand, als Abbey Road-Toningenieure verbotenerweise mit Bandmaschinen experimentierten. Es lassen sich bestimmt noch weitere Beispiele finden. Eines steht fest: Musik und Kunst werden zwar weiterhin als die Hauptfelder kĂŒnstlerischen Ausdrucks gelten, doch die treibende Kraft ihrer Entwicklung findet sich oft an der Schnittstelle von Technologie und Design.
So mancher frĂŒherer Entwicklungssprung der Musikproduktion resultierte aus der Bereitschaft, die Grenzen des erlaubten Einsatzes von Technologie zu verschieben. Im Jahr 2016 ist die Verbindung zwischen Technologie und Musik durch Effizienz, KomplexitĂ€t und NĂ€he charakterisiert. Wer einen Laptop mit Internetverbindung besitzt, kann in akustische Mikrowelten eintauchen und unbegrenzt viele Parameter manipulieren, ohne dafĂŒr das Bett zu verlassen. Dies war fĂŒr mindestens ein Jahrzehnt sogar die Norm: Wir granulieren und warpen schon so lange in unserem bequemen Zuhause, dass der Weg in die Zukunft der Musikproduktion immer mehr in die jĂŒngste Vergangenheit zurĂŒckweicht. Wir genieĂen den einfachen Zugang zu hochwertigen Produkten, zu schnelleren und flexibleren Programmen und zu kleineren, farbigeren BedienoberflĂ€chen. Doch das Versprechen von stets inspiriertem Musikmachen mit intelligenter, befreiender Technologie bleibt unerfĂŒllt.
Teilnehmer auf Norbert Schells Loop-PrĂ€sentation âAll Together Nowâ
Die Technologie an sich lĂ€sst sich dafĂŒr nicht verantwortlich machen. Ăber die begleitenden Werbetexte hinaus kann sie uns beim Musikmachen immer noch inspirieren. Doch die allerneuesten Entwicklungen finden möglicherweise auĂerhalb des Rahmens statt, in dem sich normale Produzenten normalerweise bewegen. Das Bildungswesen, Instrument-Design und Live Coding schaffen Umgebungen, in denen kreative Menschen forschen können â ĂŒber die VerheiĂung des höher, schneller, weiter hinaus, das unser typisches VerhĂ€ltnis zur Musiktechnologie bestimmt.
Bildung, Instrument-Design und Live Coding sind zugegebenermaĂen sehr unterschiedliche Felder. Bei unserer ersten Loop-Konferenz waren allerdings spannende Ăberschneidungen zu erkennen: Live-Coder zeigen Schulkindern, wie sie Musik machen können, und Instrument-Designer arbeiten mit UniversitĂ€ten und sozialen Einrichtungen zusammen, um noch nie dagewesene Performances zu realisieren. Anstatt bereits existierende kreative Methoden zu rationalisieren, bieten zukunftsorientierte Musiktechnologen Auswege aus Komfortzonen an â und aus eingefahrenen Vorstellungen von Musik. Mit der Zeit werden ihre Kreationen immer zugĂ€nglicher â und viele sind sogar kostenlos erhĂ€ltlich.
Live Coding
Das Live Coding ist eine musiktechnologische Entwicklungsmethode, die nicht nur spannend ist, sondern auch viel zugĂ€nglicher, als man denken könnte. Das Programmieren wird landlĂ€ufig mit komplexen, obskuren Sprachen und hermetischen musikalischen Landschaften in Verbindung gebracht, doch oft gilt genau das Gegenteil: Programmiersprache ist möglicherweise einfacher als musikalische Notation und intuitiver als Ihre vertraute DAW-OberflĂ€che. Das Coding ermöglicht deregulierte Kompositionsumgebungen, die dazu ermutigen, ĂŒber Musik nachzudenken und sie in die Tat umzusetzen â in einer Weise, die Sie vielleicht noch nie in Betracht gezogen haben.
In Thor Magnussons Vortrag bei der Loop-Konferenz wurde dies sehr deutlich â er berichtete ĂŒber seine Forschungen im Bereich des Instrument-Design und seine Software-Reihe âixiâ. Als Dozent an der Sussex University und langjĂ€hriger Verfechter des Live Coding konnte Magnusson aufzeigen, wie die Grenzen zwischen Komposition und Echtzeit-Performance in diesem Nischenbereich verschwimmen und sich Avantgarde und DIY-Kultur mischen. WĂ€hrend sich DAWs und ihre lineare, horizontale Zeitachse hervorragend fĂŒr traditionelle Songstrukturen eignen, macht es Live-Coding-Software wie ixi lang möglich, neu zu ĂŒberlegen, in welche Richtung sich die Musik entwickeln soll.
Woher stammt eigentlich die Festlegung, dass die Musik von links nach rechts ablĂ€uft? Mit solchen Fragen setzen sich akademische Musiker auseinander, wenn sie sich gegen die Musikkultur abschirmen. Die Fragen mögen unglaublich komplex klingen, doch Magnussons Antworten leuchten ein, wenn sie mittels Code dargestellt werden. Durch Eingeben eines Sound-Namens, Zeichnen eigener Takte und Noten-Eintippen ĂŒber Zahlen entstehen im Handumdrehen einfache Beats und Melodien. Wenige Kommandozeilen genĂŒgen, um eine Vielzahl von Modulationen und struktureller Wechsel zu realisieren. Jede einfache Information, die zuvor eingegeben wurde, wird immens formbar â und alles lĂ€sst sich direkt auf eigene Sample-BĂ€nke anwenden. Fast alle Menschen können innerhalb weniger Minuten aufstehen und losrennen â und wer ein wenig Zeit in Live-Coding-Software wie ixi lang investieren will, kann höchst intuitive und flĂŒssige Ebenen des improvisatorischen Komponierens erreichen.
Indem wir das traditionelle Notensystem, die Pianorolle und MIDI-Clips durch einfache Worte und Zahlen ersetzen, öffnen wir das Spielfeld fĂŒr all jene, die das westliche musikalische System nicht erlernt haben. Kinder, Ă€ltere Menschen, Menschen mit geistiger Behinderung und all jene, die Live Coding ausprobieren wollen, können ein eigenes GefĂŒhl dafĂŒr entwickeln, was ihnen Musik bedeutet.
Programmieren als Performance
Ein weiteres Coding-Programm namens Sonic Pi prĂ€sentiert sich als âLive-Coding fĂŒr alleâ, das fĂŒr jegliche Art von Musik geeignet ist â âvon Kanons bis zu Dubstepâ. Genau wie ixi lang ist Sonic Pi sehr einfach zu bedienen und als Gratis-Download erhĂ€ltlich. Sonic Pi wurde von Sam Aaron entwickelt und fĂŒr den Einsatz im Klassenzimmer ausgelegt. Der Entwickler vermittelt seine zweckorientierte Coding-Vision mit Leidenschaft â sein Loop-Vortrag war von einer relaxten Dringlichkeit, die das besondere Potenzial von Programmen wie Sonic Pi und ixi lang verdeutlichte: die Demokratisierung des Musikmachens zugunsten all jener, denen das technische Wissen und die musikalische Sprache als Anwendungsgrundlagen herkömmlicher DAWs fehlen.
Erfahrene Home-Produzenten könnten diesen Gedanken uneingeschrĂ€nkt zustimmen. Komplett ausgestattete Prosumer könnten jedoch zu Recht den Gedanken haben, dass die Möglichkeiten, die ihnen das Programmieren liefert, eigentlich ĂŒberflĂŒssig sind. Trotzdem bietet das Coding etwas an, das ein neuer Kompressor oder ein neues Plug-in niemals bieten kann: die Chance, die eigene Verbindung zur Musik zu rekalibrieren. In diesem Zusammenhang spielt auch der Unterschied zwischen Anwender und Entwickler eine Rolle. Medien wie Programmcodes ermöglichen die Kreation völlig neuer Instrumente, auto-generativer Strukturen oder kompletter musikalischer Systeme â eine attraktive Vorstellung fĂŒr all jene, denen die bewĂ€hrten musiktechnologischen Anwendungspfade nicht mehr genĂŒgen. Der Paradigmenwechsel besteht darin, dass nicht mehr technische GerĂ€te wie Bandmaschinen oder VerstĂ€rker in Frage gestellt werden, sondern die Musik selbst.
Neue Instrumente und die Weiterentwicklung der Performance
Der Mangel an Körperlichkeit ist nach wie vor eine Problematik, die im modernen Instrument-Design eine Rolle spielt. Ohne direkten Zugang zur Maschinerie wird die Frage, wie sie sich zweckentfremden lieĂe, schnell abstrakt. Gleichzeitig öffnen sich andere Wege der Innovation. Sensoren sind inzwischen allgegenwĂ€rtig â von Spielkonsolen bis zu Smartphones â und liefern Instrument-Entwicklern neue kreative Werkzeuge, die Komponisten dabei unterstĂŒtzen können, wenn sie ihre musikalische Sprache auf andere Bereiche ĂŒbertragen wollen, etwa Choreographie oder Produktdesign.
In einer Podiumsdiskussion ĂŒber zukĂŒnftiges Instrument-Design zeigten sich Wissenschaftler, Musiker und App-Entwickler sehr fasziniert von der Vorstellung, unabhĂ€ngig von den Anforderungen des kommerziellen Marktes neue Instrumente zu erschaffen. InterdisziplinĂ€re Kreative wie Leafcutter John zeigten dem Publikum, wie sich mittels Sensor-Technologie Instrumente entwickeln lassen, die direkt am Körper anliegen, anstatt ĂŒber kĂŒnstliche Schnittstellen wie Keyboards, Drehregler oder Fader zu verfĂŒgen. Joseph Malloch machte die Verbindung noch deutlicher â seine eigens fĂŒr TĂ€nzer entwickelten Sensor-Instrumente verwandeln Choreographie in musikalische Parameter und verwischen die Grenzen zwischen kreativen Disziplinen.
Nicht nur digitale Komponenten bringen das Instrument-Design voran â in erster Linie ist die Kombination aus digitalen und analogen Technologien mit modernem und traditionellem Design dafĂŒr verantwortlich. Diese DualitĂ€t zeigt sich in der Arbeit von Amelie Hinrichsen. Sie gehört dem 3DMIN-Team an, dessen mehrfach ausgezeichnetes Instrument PushPull einem Akkordeon Ă€hnelt â ein Blasebalg aus Karton erzeugt einen Luftstrom, der ĂŒber ein Mikrofon gelenkt wird. Ăber greifbare Sensoren kann der akustische Sound digital manipuliert werden. Rebecca Fiebrinks Erforschung des maschinellen Lernens geht einen Schritt weiter und lĂ€sst die Möglichkeit entstehen, ein eigenes Instrument zu entwickeln, bevor man einen Controller ĂŒber eine Konsole oder ein Smartphone âunterrichtetâ, um das VerhĂ€ltnis zwischen den eigenen Gesten und den Parametern zu untersuchen, die manipuliert werden sollen. Fiebrinks Instrument Wekinator kann beliebig viele Applikationen erlernen und somit zur Kreation eigener Instrumente genutzt werden, die an Ihre persönlichen Vorstellungen angepasst sind.
Da die Technologie sich stetig verbessert und zugĂ€nglicher wird, steigt die Anzahl der Möglichkeiten fĂŒr ausdrucksstarke Steuerungen exponentiell: Was wĂ€re, wenn Sie zur Steuerung von HĂŒllkurven die gesamte PrĂ€zision Ihrer eigenen Muskeln, GliedmaĂen und Finger einsetzen könnten?
Solche Paradigmenwechsel fordern zukunftsorientierte Komponisten dazu heraus, unbekannte Bereiche des Musikmachens zu erforschen. Das IRCAM-Institut in Paris beschreitet neue Wege mit CoSiMa â einem web-basierten Projekt, das dem Publikum die Möglichkeit gibt, via Smartphone mit Live-Performances zu interagieren und gewissermaĂen in Echtzeit mit den KĂŒnstlern zu komponieren. Wenn man bedenkt, wie selten das Publikum beim Komponieren ins Bewusstsein vordringt, werden die Karten durch CoSiMa neu gemischt. Mit dieser App mĂŒssen sich Komponisten darĂŒber Gedanken machen, welche Art von Musik aus der Wechselbeziehung zwischen Zuhörern entsteht, auf die sie keinen direkten Einfluss haben. So wird das Publikum zu einem wesentlichen Teil des Arrangements. Das Projekt wurde auf Loop von IRCAMs Nobert Schnell prĂ€sentiert. Sehen Sie hier das ganze Video.
Selbst wenn Sie vielleicht nicht darauf brennen, die avantgardistischen Aspekte der Musiktechnologie in ihr Studio zu holen: Es lohnt sich, darĂŒber nachzudenken, wie Ihre Beziehung zur Technologie dabei helfen kann, sich von den Gegebenheiten Ihrer Tools und Instrumente zu lösen und Ihre Arbeitsmethoden mehr an persönliche Vorstellungen anzupassen. Auch ohne ins Live-Coding oder Instrument-Design einzutauchen: Das Nachdenken ĂŒber die Möglichkeiten dieser Technologien kann eine Sichtweise entstehen lassen, die ĂŒber die Traditionen, die wir aus Geschichte und Kultur ĂŒbernehmen, hinausgeht. Es macht sich immer bezahlt, im Auge zu behalten, wie sich die Parameter Ihrer Technologien aushebeln und in Frage stellen lassen, denn oft sind Musiker, die sich nicht an die Spielregeln halten, auch diejenigen, die Spuren hinterlassen.