Modeselektor: Maschinen mit Geschichte
„Sachen kaufen? Klar. Sachen loswerden? Schwierig.” Gernot Bronsert bringt Modeselektors Umgang mit Equipment auf den Punkt. Der Blick in Studio des Duos lässt darüber keinen Zweifel: An drei Wänden reihen sich in langen Regalen verschiedenste Hardware-Geräte aneinander, von ikonischen Vintage-Boxen über kleine Kuriositäten bis hin zu High-End-Effektgeräten – und wie ich später entdecke, geht die Sammlung im Flur noch weiter.
Mit diesem Equipment haben Sebastian Szary und Gernot Bronsert, die außerdem zwei Drittel von Moderat ausmachen, einen wiedererkennbaren und einzigartigen Sound geschaffen. Manche der Geräte befinden sich seit fast drei Jahrzehnten in Modeselektors Besitz. Trotzdem sind beide nicht die Typen, die sich auf der Suche nach Authentizität oder „klassischen” Sounds verzetteln; mit spannendem Equipment zu arbeiten, ist für die beiden vor allem ein Weg zu musikalischer Inspiration. Bronsert sagt dazu: „Wenn man sich etwas neues holt, motiviert das – und auf einmal hat man einen neuen Track.”
Hochwertige Sounds und Vintage-Credibility hin oder her: wenn es um das Entwickeln neuer Ideen und Impulse geht, kann das Ausleben von Eigensinnigkeit, Macken und speziellen Vorlieben seine Vorteile haben – und Modeselektor hat eine ganze Kollektion an eigen- und einzigartigen Geräten.
Vor allem für Bronsert ist es auch wichtig, schnell zu sein. Der selbsterklärte „klassische Künstlertyp” hält sich nicht gerne mit der Gebrauchsanweisung auf und macht sich lieber einfach an den Track. Szary ist da schon eher der Nerd, widmet sich dem Equipment mit mehr Ruhe. „Ich will einfach jammen”, sagt Bronsert im Gespräch. Szary und er essen Nüsse und trinken ihren morgendlichen Kaffee. Bronsert fügt hinzu: „Ich will einfach, dass es funktioniert und gut klingt. Sonst bin ich schnell demotiviert.”
Auch die Idee, ein Sample-Pack zu machen, beschäftigt die Beiden schon eine Weile. „Wir wollten immer die 808 und die 909 sampeln, um eigene Sample-Kits zu machen”, erklärt Bronsert. „Wenn wir auflegen, ist Szary zum Beispiel zu faul, um neue Musik zu kaufen,” – Szary wirft ihm einen Blick zu – „also bringt er sein Equipment mit und performt live zu der Musik, die ich auflege.” Das Problem: „Die 909 hat er aber, seit er 20 war.” „18”, korrigiert ihn Szary. „Sie ist schon eine alte Dame”, fährt Bronsert fort. “Die will man echt nicht mitnehmen. Und wenn man sich eine neue holt, klingt sie nicht wie die eigene 909, weil jede 909 anders klingt.”
Die Idee war also, das eigene Equipment zu samplen und die ganz eigenen Sounds aufzunehmen, um sie schnell und einfach einsetzen zu können. „So hat das Ganze angefangen”, erzählt Bronsert.
Laden Sie sich hier das Demo-Pack von Extended Sounds kostenlos herunter*
„Extended Sounds Demo” enthält ausgewählte Sounds aus Extended Sounds von Modeselektor.
*Ableton Live 11 ist vorausgesetzt.
Der Plan, ein Sample-Pack zu erstellen, wurde im März 2020 konkret, genau gesagt am 12. März: der Tag, für den eine Modeselektor-Party im Berliner Club Ohm geplant gewesen wäre. „Die Party hat nie stattgefunden”, kommentiert Szary trocken. Während in ganz Europa Lockdowns beschlossen wurden, wurden Modeselektors Tourdaten abgesagt, was auch den Lebensunterhalt der Crew gefährdete.
„Wir sind eine tourende Band, an der eine Crew hängt”, erklärt Bronsert. „Die meisten Crew-Mitglieder hatten nach der Absage unserer Shows ein Riesenproblem. Also mussten wir Mittel und Wege finden, um ihnen zu helfen.”
Sie stellten ihren Haupt-Soundtechniker Felix Zoepf als Studiomitarbeiter ein – und merkten, dass sie mit seiner Hilfe die Kapazität hatten, das Sample-Pack zu erstellen. „Er ist der Architekt hinter dem Ganzen. Eigentlich ist das seine Mitgliedskarte für Modeselektor”, lacht Bronsert.
In diesem Moment stürmt Zoepf mit einem hektischen „Moin, Moin” in den Raum. Er ist dem Duo seit über zehn Jahren verbunden, kümmerte sich beim Glade-Festival 2009 erstmals um ihren Sound. Dabei gehen Zoepfs Fähigkeiten weit darüber hinaus, hinter dem Mischpult zu stehen: Er ist In-House-Soundtechniker bei Monkeytown, dem Label des Duos, und half Modeselektor 2014 beim Aufbau ihres Studios.
„Er ist ein Punk”, sagt Bronsert. „Er ist total chaotisch, aber gleichzeitig sehr fokussiert und organisiert. Er weiß zum Beispiel, was ich in meiner ganzen Karriere als elektronischer Musiker nie gelernt habe: Wie funktioniert eine Patch Bay eigentlich?” Zoepf lacht mit einem Mund voll Nüsse. „Er ist wirklich ein Geek, wenn es um neue Soft- oder Hardware geht.”
Keine Frage also: Zoepf war qualifiziert, sich auf der Suche nach samplebaren Schätzen durch die Sammlung des Duos zu wühlen. „Ich habe hier viele Wochenenden verbracht”, erzählt er. „Anfangs hatten wir tausende Ideen, und natürlich mussten wir sie immer weiter runterkochen.”
Ein wesentlicher Teil der Arbeit bestand im Finden der geeigneten Signal-Ketten, um den Sounds Persönlichkeit und Charakter zu verleihen. Bronsert zeigt auf ein altes Studer-Mischpult, das kleinere von zweien im Raum. „Wir haben dieses Pult nur gekauft, um die Geräte durchzuschicken. Es hat eine eigene, natürliche Distortion, wenn man [ins] Rote geht oder den Gain aufdreht. Keine Gitarre und keine externe Distortion kriegt diese warmen „Antony ‘Shake’ Shapir”-Sounds hin, die alle wollen.”
Zoepf hätte eigentlich noch einen oder zwei weitere Effekte in die Kette gepackt – besonders den Analog Heat von Elektron, „der einfach immer gut ist. Man kann ihn auf alles legen. Er ist sowas wie die [Hardware-]Version des Drum Buss in Ableton.”
Damit ist natürlich nur ein Bruchteil der vielen Tools erwähnt, die im Laufe der Jahres zu Modeselektors Sound beigetragen haben. Und natürlich heißt das jahrzehntelange Aufbauen einer Sammlung, dass es Geschichten zu jedem Gerät und seiner Verwendung gibt.
„Jedes Teil hat seine Geschichte”, beginnt Szary. „Die [Roland TR-]909 habe ich 1993 gekauft – für D-Mark, nicht Euro! Das war die Zeit als die Preise stiegen, das analoge Equipment zurückkam.”
Dennoch handelt es sich dabei nicht um das älteste Teil des Studios: „Der Crumar-Synth, der ist von 1979”, fährt Szary fort.
Gemeint ist der Crumar Multiman-S, ein kräftiger String-Synthesizer, der im Nebenraum an der Wand steht. Wir sehen ihn uns genauer an.
„Er ist echt schwer”, sagt Zoepf. Wir versuchen ihn hochzuheben, während ein langhaariger Techno-Produzent das Studio nebenan betritt. „Aber es macht Spaß, ihn zu spielen. Man kann alle Tonarten auf einmal spielen – er hat alle Stimmen. Er klingt so gut, einfach das perfekte 90er-Jahre-IDM-scape-Gerät.”
Zurück im Studio frage ich, was das Duo dazu bewegt, sich bestimmte Teile zu kaufen. „Ich mag Vintage-Equipment”, erklärt Bronsert. „Also dieser Simmons zum Beispiel” – er hievt einen schwarzen Kubus, den Simmons SDS 8 Drum Synthesizer, vom Schreibtisch. „Für mich ist der so Achtziger, dass er schon wieder cool ist.” „Das Drum-Kit ist so brutal”, hebt Zoepf hervor. (Einen Eindruck davon bekommt man im Outro des Moderat-Tracks Versions von 2013)
„Oder der Rhythm Arranger” – Bronsert zeigt auf eine hübsch in Holz gefasste Roland TR-66, die auf einem Regal thront. „Das war die vor der CR-78. Also drei Versionen vor der 808.” Die drei versuchen mit etwas hin und her, die Chronologie der Drum Machines von Roland und dessen Vorgänger Ace Tone zu rekonstruieren, die vor der 808 erschienen.
„Hässliche, hässliche Drum Machines”, sagt Zoepf. „Sie spielen Loops.” „Als Orgelbegleitung”, wirft Bronsert ein.
Wie also wird all das in einen Modeselektor-Track integriert? „Sampling”, antwortet Bronsert. „Siehst du diesen kleinen Kompressor?” Er zeigt auf einen anderen eigentümlichen Kasten auf dem Regal, den DBX 119 Compander. Wenn man den [Rhythm Arranger] da durchschickt, klingt es…”
„…brutal”, lacht Szary.
„Der hat so viel Noise und so viel komisches Zeug und er ist einfach…”
„…echt hässlich”, sagt Zoepf.
„Nein, gar nicht!”, protestiert Bronsert. „Ich finde ihn total sexy. Und ich sample ihn dann einfach nur und nutze die Sounds. Verzerre sie und schicke sie nochmal durch einen Sampler, resample sie.”
„Und dann gibt’s da noch die Vermona Drum Machine, die einzige Drum Machine, die in der DDR gebaut wurde”. „Ich kann sie holen”, sagt Szary, verschwindet im Nebenzimmer und kommt mit einem klobigen, grauen Raumschiff zurück, das er mir in den Schoß legt: eine originale Vermona DRM.
„Sie ist, glaube ich, von 1986, mit MIDI-in und -out.”, erklärt er.
„Das war das einzige MIDI-Gerät in der ganzen DDR!”, ergänzt Bronsert.
Szary fährt fort: „Ich habe Geschichten gehört: Ein paar berühmte Rockbands aus der DDR haben Shows in Westdeutschland gespielt und haben Kühlschränke und andere Sachen mit in den Westen genommen, um sie gegen eine [Yamaha] DX7 einzutauschen. Ich glaube, diese [Vermona Drum Machine] hier war auch für den Export gedacht. Schau, alles ist auf Englisch. Ich habe keine Ahnung, wie viele sie davon gebaut haben. 100 oder 200?”
Szary hatte Glück, ein Exemplar auf eBay zu finden. „Es ist aber auch übertrieben nervig, dieses Teil zu programmieren, wirklich”, sagt Zoepf. „In Ableton ist das Programmieren der Samples sehr komfortabel.”
Nachdem der Berg an Sampling-Arbeit abgearbeitet war, war Zoepf mit den Besonderheiten jedes einzelnen Geräts vertraut. Der Arp Odyssey etwa „war echt nervtötend, weil er so instabil ist, was die Tonhöhe angeht. Ich musste immer anwesend sein und auf den Fine-Tune[-Knopf] aufpassen. Auch der [Korg] MS-10 war ein bisschen verstimmt.”
„Der MS-10 braucht 15 Minuten, um aufzuwachen”, ergänzt Bronsert. „Wenn man ihn anmacht und anfängt zu spielen, auch wenn man ihn stimmt, verändert er sich innerhalb der nächsten Minuten.”
Dann gibt es noch die TR-606 des Duos, modifiziert von einem Freund – mit gemischten Ergebnissen. So erlaubt er zusätzliche Kontrolle über Tonhöhe und Decay, dafür hat der Output Störgeräusche. „Das Teil macht jedesmal Klickgeräusche, wenn eine LED vom durchlaufenden Licht getroffen wird”, sagt Zoepf. Nachdem er mehrfach versucht hatte, sie zu samplen, fand er schließlich eine Stelle im Studio, an der die Interferenz einfach aufhörte.
So frustrierend sie auch sein mögen: Derartige Features machen den Sound des Equipments erst aus. „All die Sample-Instrumente [des Packs] haben diese kleinen Inkonsistenzen, die ihnen ihren Charakter verleihen”, sagt Zoepf.
„Darin liegt ihre Seele”, ergänzt Szary.
Bronsert zieht einen Vergleich zur Jagd von Produzent:innen nach „glücklichen Zufällen”. „Das ist das, wonach alle suchen. Und ich glaube, das ist das was Felix auch gerade erwähnt hat, dass die Seele des Packs in all diesen Fehlern besteht – im Endeffekt sind das glückliche Zufälle.”
Die drei nutzten nicht nur Vintage-Geräte, sondern auch ein kleines Modular-Setup – mit Plaits, Clouds und Ringmodulen von Mutable Instruments – und zusammengeschnittene Field-Recordings von Szary. „Es gibt ein Kit namens Brueckenstrasse. Das ist im Grunde Szary, der ins Studio kommt, pissen geht und sich einen Kaffee macht”, lacht er. „Ich habe es nur zurechtgeschnitten – und es ist ein ziemlich cooles Kit. Ein Tag im Leben des Szary.” Samples nicht nur als One-Shots, sondern als Quellmaterial für Wavetable-Synthese zu verwenden, eröffnete nochmal einen ganz neuen Raum für Entdeckungen. „Es ist einem wirklich komplett offen, was man damit macht”, sagt Szary. „Das ist die Magie des Samplens.”
Die einzige Frage, die bleibt: Wo hört man auf? „Tatsächlich hört man auf, wenn man müde wird”, scherzt Zoepf.
Dass das Studio nun in einfach nutzbarer Form eingefangen wurde, könnte tatsächlich Einfluss auf Modeselektors Arbeitsweise nehmen – vor allem auf der Bühne. „Wir haben immer Song für Song gearbeitet”, sagt Bronsert über ihre Live-Sets. „Wir haben unsere eigenen Songs gesampelt und dann performt. Aber wenn man einen Song mit dem Sample-Pack gemacht hat, ändert das alles.” Statt jeden Track zurück zu produzieren, kann das Duo nun einfach die Sample-Instrumente nutzen, mit denen sie im Produktionsprozess gearbeitet haben.
Am Ende geht es natürlich nicht einfach um Bequemlichkeit. Inspiriert von Produzent:innen-Techniker:innen wie etwa Errorsmith, der seinen Output durch den Razor Soft Synth höchst kreativ erweiterte, sehen die drei das Sample-Pack als eine Art „Meta-Musik” – und eine Art, so Bronsert, „eine Modeselektor-Ära abzurunden”. Modeselektors einziges Bedenken ist, dass die Sounds ein bisschen zu leicht zu teilen sein könnte: „Ab einem gewissen Punkt sitzt du auf deinem Sound wie Gollum, der seinen Ring bewacht. Aber ich glaube, das ist nicht sehr 2021.”
Text und Interview von Angus Finlayson.
Fotos: Birgit Kaulfuss
Infos und Neuigkeiten zu Modeselektor gibt es auf der Webseite der Band.