Mike Sheridan: Die eigene musikalische Identität finden
Wenn Musiker:innen davon sprechen, „ihren Sound zu finden“, meint das in der Regel den Prozess, in dem sie die eigene musikalische Identität entwickelt haben oder noch entwickeln. Über das technische Können hinaus umfasst dieser Prozess eine Kombination von individuellen künstlerischen Entscheidungen, spezifischen Produktionsmethoden und einem guten Verständnis der emotionalen Wirkung, die die eigene Musik vermitteln soll.
Für Mike Sheridan geht es bei der Suche nach dem eigenen Sound auch darum, Normen herauszufordern und Konventionen in Frage zu stellen. Im Geist von Picassos berühmtem Zitat – „Ich habe vier Jahre gebraucht, um wie Raffael zu malen, aber ein Leben lang, um so zu malen wie ein Kind“ – versucht sich auch Sheridan an einer zwanglosen Arbeitsweise: „Ich versuche, das Denken einzustellen und mich von der Notwendigkeit zu befreien, mich sozial und kulturell zu positionieren“, sagt er. „Man kann immer analytisch vorgehen und einen festen Plan haben, aber die beste Arbeit entsteht, wenn man sich von jeder Art von Narrativ lösen kann.“
Wer sich Sheridans Debütalbum I Syv Sind anhört, wird wahrscheinlich überrascht sein, dass er schon als Teenager so beeindruckende Musik geschaffen hat. Er wohnte noch bei seinen Eltern und entwickelte mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, eine Klangpalette, die seine Gefühle und Erlebnisse während des Erwachsenwerdens in der ruhigen Kopenhagener Vorstadt widerspiegelte. Was er nicht wusste, war, dass dieses scheinbar unschuldige kreative Unterfangen ihn direkt ins Rampenlicht rücken würde – vielleicht etwas zu früh.
„Das Album hat den Weg in den Mainstream gefunden“, erinnert er sich. „Es war ein bisschen zu viel. Ich fühlte mich eine Zeit lang sehr verletzlich und auch etwas fehl am Platz. Ich brauchte eine Pause von all der Aufmerksamkeit so früh in meiner Karriere. Improvisierte Musik wurde zu einem Zufluchtsort für mich, und ich begann, mich mehr der Avantgarde zuzuwenden.“
Sheridans Musik hat sich seither durch verschiedene Genres bewegt und bildet einen Raum, in dem Dub-Techno auf Downtempo, Ambient und IDM trifft. Als Inspirationsquelle dient ihm ein breites Spektrum von Künstler:innen wie Eliane Radigue, Alva Noto und Trentemøller, die zu seinem nuancierten, introspektiven und nachdenklichen Sound beitragen.
„Ich hatte das Glück, mit Leuten wie August Rosenbaum, Fred Frith und Garth Knox aufzutreten, um nur einige zu nennen“, sagt er. „Die sind alle unglaubliche Inspirationen für mich. Und die frühe Kopenhagener Technoszene rund um den Club Culture Box mit Kenneth Christiansens Echocord Label hatte ebenfalls einen großen Einfluss auf mich.“
Eine liebgewonnene Erinnerung hinsichtlich seiner musikalischen Anfänge ist für Sheridan, wie sein Vater ihm im Alter von 9 Jahren SONY ACID für seinen PC schenkte. Dies war sein Einstieg in die Welt der linearen Zeitleisten und bot ihm die Möglichkeit, die Kunst der Sequenzierung von Audioclips zu erlernen und gleichzeitig den Grundstein für seine musikalischen Experimente zu legen.
Durch eine Übertragung vom Sonar Festival im Jahr 2004 kam er erstmals mit zeitgenössischer elektronischer Musik in Kontakt. „In diesem Moment hat etwas Klick gemacht“, erinnert er sich. „Es war, als würde ein Instinkt in mir zum Leben erweckt werden. Genau diese Aufregung spüre ich auch heute noch.“
Nach dem Erfolg von I Syv Sind hat sich Sheridan bewusst gegen eine konventionelle Tourneekarriere und den damit einhergehenden Stress entschieden und sich den ihm bis dahin unbekannten Gebieten von Tanz, Theater und Film zugewendet. Ab 2015 konzentrierte er sich hauptsächlich auf das Komponieren für Theater, Hörspiele und kollaborative Musikperformances. 2016 vertonte er den für einen Emmy nominierten Dokumentarfilm „The Islands and The Whales“ und 2017 die Theateraufführung von Shakespeares „Hamlet“ auf Schloss Kronborg. 2022 nominierte ihn die dänische Filmakademie für den Robert-Preis für seine Filmmusik zu „Persona Non Grata“.
Sheridan ist einer der wenigen Künstler im Besitz eines seltenen Cristal Baschet, einem Instrument, bei dem ein Satz chromatisch gestimmter Glasstäbe an Metallstielen befestigt ist. Er erinnert sich daran, dass sich die Suche nach dem Instrument wie eine Schatzsuche anfühlte.
„Als ich das Cristal Baschet zum ersten Mal hörte, war das ein bisschen so, als hätte ich den Schatz meines Lebens gefunden. Es hatte diesen Klang, der quasi exakt ein Gefühl verkörperte, das ich in mir hatte. Das war ein bisschen wie damals, als ich zum ersten Mal elektronische Musik im Radio hörte. Mit etwas Detektivarbeit fand ich Frederic Bousquet, einen Cristal-Bauer, der das Handwerk in der Werkstatt von Bernard Baschet in Paris gelernt hatte. Ich schickte Frederic mein erstes Album, der es wiederum Bernard vorspielte. Daraufhin erklärte Bernard sich bereit, mit Frederic zusammen ein Instrument für mich zu bauen. Ich holte es in seiner Werkstatt auf einem Berg in der Nähe von Quézac in Südfrankreich ab.“
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Im Jahr 2012, als Sheridan sich noch mit seinem Cristal Baschet vertraut machte, traf er den dänischen Jazztrompeter Palle Mikkelborg. Die beiden verstanden sich auf Anhieb, es entwickelte sich eine unerwartete musikalische Partnerschaft.
„Es fühlte sich surreal an, von der elektronischen Musik zu kommen und plötzlich mit jemandem wie Palle aufzutreten, der 50 Jahre älter ist als ich. Wir haben über alles Mögliche miteinander geredet, nur nicht über Musik. Wir haben nie geprobt, aber es war, als wären unsere Gefühle miteinander synchronisiert. Auf eine Art waren wir uns ähnlich, sodass wir direkt auf die Bühne gehen und einfach spielen konnten. Zusammen mit dem Ensemble Hope haben wir „Anamorphosis“ gemacht, das 2014 im DR Studio 2 aufgenommen wurde.“
Sheridans Liebe für unkonventionelle Instrumente und Klänge hört nicht beim Cristal Baschet auf. Seine Suche nach einzigartigen Klangtexturen bildet die Grundlage für einen wesentlichen Teil seines kreativen Prozesses. „Ich bin fasziniert von alternativen Arten, akustische Instrumente zu spielen“, sagt er. „Insbesondere Blasinstrumente, Hörner, Gitarren, Streicher und Percussion. Was elektronische Instrumente angeht, habe ich mich intensiv mit dem Buchla 200e beschäftigt. Und ich hatte ein Serge Modular-System, das ich geliebt habe.“
Bei der Produktion seines neuesten Albums Atmospherics hatte Sheridan die Möglichkeit, in verschiedenen Studios mit seltener Vintage-Ausstattung zu experimentieren.
„Ich war in einem Studio, das vom Kulturverein artFREQ betrieben wird. Dort gab es eine phänomenale Sammlung von Vintage-Outboard-Gear und ich durfte dort viel Zeit verbringen und meine zu Hause aufgenommenen Tracks mit den Effekten dort bearbeiten. Außerdem war ich noch im Farvemøllen, einem der wenigen altmodischen Musikstudios hier in Kopenhagen. Die haben einen beeindruckenden Mikrofonschrank. Und ich habe dort die meisten Tasteninstrumente auf dem Album aufgenommen.“
In der Geschichte von Atmospherics kehrt Sheridan zur musikalischen Sprache seiner Teenagerjahre zurück. Er beschreibt das Album als Kristallisatonspunkt einer zutiefst persönliche Reise, die zum Ziel hat, sich wieder mit seinem inneren Kind zu verbinden.
„Ich habe als Erwachsener versucht, die Musik zu machen, von der ich als Kind geträumt habe“, sagt er. „Es ist ein Dankeschön an das Kind hinten im Klassenzimmer mit dem Laptop und den Kopfhörern, das sich als so stur und doch so integer erwies.“
Während viele Künstler:innen die kreative Befreiung feiern, die mit selbst auferlegten Einschränkungen einhergeht, folgte Sheridan bei der Arbeit an Atmospherics einem anderen Ansatz. Anstatt sich einzuschränken, gab er sich der ganzen Fülle an Ideen und Möglichkeiten, die sich auf natürliche Weise entfalteten, hin. Bezug nimmt er dabei auf den bekannten Spruch, der auffordert, die eigenen Lieblinge zu töten [„kill your darlings“, Anm. d. Übers.], und dreht ihn um, indem er versucht, genau diese Lieblinge zu bewahren und ihnen Platz einzuräumen.
„Ich habe diese Idee aus einem Interview mit dem Regisseur Lars Von Trier. Er spricht sich dort dafür aus, seine Lieblinge zu lieben, denn, so sagt er, wenn alle gelernt hätten, „ihre Lieblinge zu töten“, werde der Kunst ein Konsens aufgezwungen, der das Potenzial für etwas Interessantes oder Einzigartiges zerstört.“
Eine persönliche Herausforderung, mit der Sheridan umgehen muss, ist seine Dyskalkulie – eine Beeinträchtigung, die den Umgang mit Zahlen und somit auch das Verständnis von traditioneller Musiktheorie nahezu unmöglich macht. „Für mich war die Arbeit mit Computern die Grundlage für alles“, sagt er. „Hier hatte ich die Freiheit, meinen ganz eigenen Sinn zu finden. Ich verliere mich zwar immer noch in Maßeinheiten, Takten, MIDI-Kanälen und Harmonien, aber ich kann per Drag-and-drop auf eine Weise arbeiten, die für mich sinnvoll ist.“
Sheridan ist sich zwar der Hürden bewusst, die Dyskalkulie mit sich bringt, sieht jene aber auch als Chancen. Sie motivieren ihn, aktiv nach Kooperationen zu suchen. So hat er beispielsweise während der Arbeit an Atmospherics eine Reihe von Musiker:innen, Kolleg:innen und Freund:innen hinzugeholt, um ihm bei der Verwirklichung seiner Vision zu helfen.
„Die Streicher wurden von dem Folk-Violinisten Bjarke Falgren eingespielt, mit dem ich schon seit Jahren zusammenarbeite“, sagt er und nennt noch einige der anderen Beteiligten. „Katrine Grarup Elbo von Toechter hat ebenfalls dazu beigetragen. Die Klavier-, Rhodes- und Mellotron-Parts wurden alle von Søren Kjærgaard gespielt, der ein echter Avantgardist ist. Marc Antoine-Millon hat einige wunderschöne Bass-Parts für den Track „Megaparsec“ geschickt. Die Filmkomponisten Kaspar Kaae und Brian Batz haben ein paar beeindruckende Gitarren-Parts geschrieben und für „Minds“ übernahm Jonathan Bremer von Bremer/McCoy einige Kontrabass-Parts.“
Vielleicht hat Sheridan wegen der speziellen Perspektive, die die Dyskalkulie mit sich bringt, eine Wertschätzung für die taktilen und intuitiven Facetten des Musikschaffens entwickelt, wobei er dem Bedürfnis, sich zurechtzufinden, den Vorrang vor numerischer Präzision gibt. Diese Philosophie verfolgt zumindest sein neues Projekt „Touch“, das er als eine Reihe von Stücken beschreibt, die ihn zu den Grundlagen seiner Musikalität zurückbringen. Das Projekt legt einen klaren Fokus auf die physische Interaktion mit Instrumenten und Materialien und erzählt eine Geschichte, die sich um Intuition und den unmittelbaren Ausdruck von Gefühlen dreht.
„Ich will Systeme entwickeln, die genau auf meine motorischen Fertigkeiten reagieren“, erklärt er. „Es geht darum, die Intuition zu nutzen und den unmittelbarsten Weg zu finden, um Emotionen in Klang umzusetzen. Es ist sehr ähnlich zu einem Tagebuchprojekt.“
Sheridan will sich in seinem Leben eine gewisse Unabhängigkeit bewahren, die es ihm ermöglicht, zu reflektieren, und – was vielleicht noch wichtiger ist – schnell in Aktion treten zu können, wenn ein Moment der Kreativität kommt. „Ich empfehle, im täglichen Leben Zeiträume einzuplanen, in denen man die Möglichkeit hat, kreativ zu sein, wenn die Inspiration kommt. Erledigt eure Aufgaben zu Beginn des Tages und verschafft euch so Freiräume“, schlägt er vor.
Sheridans künstlerische Reise stellt unter Beweis, wie wichtig es ist, Spontaneität zuzulassen und seiner eigenen Stimme treu zu bleiben. Aufstrebenden Musikschaffenden möchte er einen Ratschlag mit auf den Weg geben: Er betont die große Bedeutung von Geduld und weist darauf hin, dass der Aufbau einer Karriere Zeit braucht, ähnlich wie das Schaffen von Musik. „Ich finde, Zeit und Liebe sind sich sehr ähnlich“, sagt er abschließend.
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Text und Interview: Joseph Joyce
Fotos von Nadja Brečević