Matmos präsentieren weitere Sounds aus dem Polish Radio Experimental Studio
Das Polish Radio Experimental Studio ist kein bekannter Name in der Geschichte der elektronischen Musik, sein Erbe jedoch ist reich an musikalischer Innovation des 20. Jahrhunderts. Diese unterschätzte, aber dennoch wichtige europäische Musikinstitution war das Thema eines einzigartigen Samplepacks aus dem Jahr 2018, mit dem auf besondere Weise während einer besonderen Zeit hergestellte Sounds zu neuem Leben erweckt werden sollen. Hier können Sie mehr über die Geschichte von PRES erfahren und bekommen Zugang zum ursprünglichen Samplepack. Kehren wir jetzt erneut in das Warschau der 1960er und 70er Jahre zurück, um uns die visionäre Palette eines Komponisten näher anzuschauen, der genauso unterschätzt wurde wie das Studio, in dem er einige seiner wichtigsten Werke geschaffen hat.
Von allen Kunstschaffenden, Forschenden und Experimentierenden, die mit PRES in Verbindung gebracht werden, ist Bogusław Schaeffer einer der bedeutendsten. Schaeffer war ein produktiver Universalkomponist, der sich gleichzeitig sowohl mit der klassischen Tradition als auch dem avantgardistischen Experimentieren beschäftigte. Den Großteil seiner bahnbrechenden Arbeit bei PRES führte er in den 1970er Jahren aus, bevor er aufgrund der analogen Einschränkungen des in der alten Welt verankerten Equipments zu anderen Studios wechselte. Schaeffers Vermächtnis steht in der klassischen und experimentellen polnischen Musik im Schatten der berüchtigteren und bekannteren Komponisten Krzysztof Penderecki und Henryk Górecki. Michal Mendyk vom Adam Mickiewicz Institute, der den Zugang zu den PRES-Archiven koordiniert hat, deutet an, dass die Herausforderung bei der Beschäftigung mit Schaeffers musikalischem Erbe zum Teil in seiner Einstellung zur Kreativität liegt.
„[Schaeffer] war einerseits so produktiv und systematisch wie Stockhausen,” erklärt Mendyk. „Genau genommen produzierte er zwischen 400 und 800 Stücke. Er hat einfach jede Idee, die er hatte, aufgeschrieben. Andererseits war er sehr experimentell und offen für Improvisation und zufällige Aktionen.”
Der Download beinhaltet einen Ordner mit Audio-WAV-Files und ein Ableton Live-Projekt. Bitte beachten Sie: Live 10 Suite ist erforderlich, um alle Angebote des Live-Projekts vollständig nutzen zu können
Das Sample Pack basiert ausschließlich auf Aufnahmen der elektroakustischen Stücke von Bogusław Schaeffer', die im Polish Radio Experimental Studio erstellt wurden
Das Adam Mickiewicz Institute gibt allen eine allgemeine Genehmigung, die die Samples auf irgendeine Weise verwenden wollen, einschließlich ihrer unbegrenzten Verarbeitung oder Anpassung
Wer wäre besser dafür geeignet als Matmos, um nach Zugriff auf Schaeffers Soundarchiv bei PRES aus einem solch umfangreichen und eigenwilligen Gesamtwerk ein Samplepack zu schaffen? Drew Daniel und Martin Schmidt haben mehr als 20 Jahre damit verbracht, einen imperialen Kurs durch Konzepte und Klangprozesse mit chirurgischem Eifer einzuschlagen. Das wird nirgendwo so deutlich wie auf dem 2001 erschienenen Album A Chance to Cut Is a Chance to Cure, auf dem das Samplematerial komplett aus dem Bereich medizinischer Behandlungen stammt. Matmos stecken voller Überraschungen, sind produktiv und durch ihre Nebentätigkeiten in der Aktionskunst und dem Hochschulwesen wohl Universalgelehrte, was sie zu den perfekten Entdeckern des scheinbar undurchdringlichen Werks von Schaeffer macht.
„Jedes Mal, wenn wir von einer Arbeit hören, bei der Elektronik, konkrete Musik und akkustische Instrumente miteinander verbunden werden, wird das für uns zum Prüfstein. Kompositionen aus dieser Zeit mit dieser Technik, die sehr arbeitsintensiv sind, sind meist sehr komplex, stark abstrahiert, und sie besitzen eine transzendente Klangqualität, die sich durch das Wie und das Wann der Herstellung erklären lässt.”
„Ich tendiere dazu, durch Zuhören herauszufinden, welche Techniken verwendet wurden,” gibt Schmidt zu. „Wir haben Zeit im GRM-Institut verbracht und im Keller herumgestöbert, in dem die alten Geräte aufbewahrt werden. Es gab dort einen alten Vocoder, einen EMS, glaube ich, das war eine monströse Maschine in Schreibtischgröße. Ich bekam dadurch ein sehr reales Gefühl für alte Technik und dafür, was die Leute durchmachen mussten, um die Sounds zu bekommen, die sie erhielten. Ich hörte mir [Schaeffers] Sachen an und dachte ‚Okay, das ist also rückwärts gesprochen, mit einem Halleffekt und vielleicht einem Vocoder, oder ist es vielleicht nur ein Filter?’. Diese Aufnahmen sind eine erstaunliche Tour durch verschiedene Techniken.”
Schaeffers Beziehung zu PRES begann in den 1960er Jahren. Zu dieser Zeit war der Radiosender der einzige Ort im von der Sowjetunion kontrollierten Polen, an dem effektiv elektronische Musik produziert werden konnte. Sogar Künstler von weiter weg, wie der norwegische Komponist Arne Nordheim, traten die Reise hinter den eisernen Vorhang nach Warschau an, um bei PRES zu arbeiten. Schaeffer war einer der produktivsten Komponisten, die in den 60er und 70er Jahren bei PRES arbeiteten. Als sich jedoch sowohl seine Karriere als auch die Technologie weiterentwickelte, kam es immer mehr dazu, dass er international unterwegs war und weniger Zeit in Polen verbrachte.
„Als er anfing, viel durch Europa zu reisen, begann [Schaeffer] damit, Werke an verschiedenen Orten und mit verschiedenen Geräten zu schaffen,” erklärt Mendyk. „Zum Beispiel gab es im Studio von Belgrade Radio einen bestimmten Synthesizer, der Sounds produzieren konnte, die in Warschau nicht möglich waren. Also musste er dorthin reisen, Sounds aufnehmen und zum Mischen zurück kommen. Schaeffer entwickelte sich aber auch technologisch weiter. Er beschäftigte sich mit Computermusik, algorithmischer Musik, was das Polish Radio Experimental Studio nie tat. Er setzte also diese linearen Entwicklung quasi fort, und sie blieben der alten Schule verbunden. Er und PRES gingen dann gegen Ende der 70er Jahre verschiedene Wege.”
Das musikalische Erbe von Schaeffer ist vielseitig. Sogar als seine Arbeit bei PRES auf dem Höhepunkt war, gab es nie einen bestimmten Bereich, auf den er seine kreative Energie konzentrierte. Er entfaltete eine unermüdliche Neugier auf das Experimentieren mit Klängen. Diese reichte von konkreter Musik mit eigens angefertigten Instrumenten bis hin zu elektronischen Symphonien, denen bei der Aufführung eigene Sounds hinzugefügt werden konnten, sowie einer elektronischen Messe und einem Stück mit Jazz-Samples namens ‘Blues’, das bemerkenswert vorausschauend war.
„Das ist eine coole Sache an [Schaeffer],” sagt Mendyk. „Es gab keinen Style. Jedes Stück war eine eigene Welt. Junge Künstler:innen waren in den 60er und 70er Jahren in Polen in einer sehr guten Position. Die Künste wurden vom kommunistischen Regime als eine Art Propaganda stark unterstützt, deshalb hatte er die Zeit und Möglichkeit, zwei Monate im Studio zu sein, um ein sechsminütiges Stück zu produzieren.”
Neben den merkwürdigen Eigenschaften der Sounds, mit denen er arbeitete, befasste sich Schaeffer auch mit Themen und Konzepten in seinen Kompositionen – was Matmos natürlich ansprach, wenn es um die Suche nach Sample-Material ging.
„Die Poesie der Stücke von Bogusław Schaeffer scheint noch weiter zurück zu gehen [als zu ihrer archaischen Technologie],” sagt Daniel. „Das Stück, das mir sofort am besten gefallen hat, war ‚Heraclitiana’. Hier wird versucht, die philosophische Welt des [antiken griechischen Philosophen] Heraklit zum Leben zu erwecken, der für die beiden Aussagen bekannt ist, dass die Existenz an sich aus Feuer besteht, und niemand zweimal in den gleichen Fluss steigen kann. Es ist eine Vision von der Geschichte als endloser Wandel. Es war sehr cool zu hören, wie jemand versucht hat, eine wirklich offene philosophische Aussage in ein bestimmtes Musikstück zu packen. ‚Heraclitiana’ ist voll von absolut wahnsinnigen, präzisen, gewaltsamen Klangereignissen – vielen perkussiven Schlägen und seltsamen Kombinationen. Es sind eine Menge hoher Triangeln zu hören, verbunden mit verschiedenen perkussiven Klangattacken. Es hat also sehr viel Spass gemacht, sofort mit dem Samplen loszulegen, weil die interne Struktur so anders war. Ich glaube, wir hätten 200 Samples alleine aus ‚Heraclitiana’ erstellen können.”
Es ist das erste Mal, dass Matmos ein Samplepack zusammengestellt haben. Es ist eine natürliche Erweiterung ihres eigenen Handwerks, das oft eine experimentelle Haltung gegenüber samplebasierten Kompositionen und Produktionen eingenommen hat. In Anbetracht ihres Respekts für Schaeffers Musik und für die dahinter stehenden Techniken zeigt sich das die Gemüter spaltende Schreckgespenst der Sample-Kultur hinter der Arbeit von Daniel und Schmidt.
“Ich hoffe auf jeden Fall, dass die Leute sich [Schaeffers] Arbeit so anhören, wie es gedacht war, bevor sie sich diese Box voller Soundfragmente vornehmen,” sagt Schmidt. “Was wir getan haben, ist ein Art von Bequemlichkeit.”
“Wie wenn Mama den Rand von deinem Sandwich abschneidet,” fügt Daniel hinzu. “Es wäre schön, wenn wir hier Botschafter sein könnten, anstatt eine Art von Klang-Glutamat zu sein, die deine Musik „weird” macht. Was ich an Samplepacks zum Teil traurig finde, ist, dass sie als eine Art Ersatz benutzt werden für den Prozess der Suche nach eigenen Sounds.”
„Es stimmt meiner Meinung nach, dass die Menschen in einen Moment zurückversetzt werden, in dem verschiedene Mikrofone, Preamps, Studioräume und eine andere Herangehensweise an die Komposition Texturen erzeugt haben, die so niemals wiederholt werden können. Es ist eine seltsame Form des kulturellen Gedächtnisses, wenn diese Samples und Sounds in Umlauf gebracht werden und sie von Menschen verändert werden dürfen. Ich finde das positiv. Es ist für mich ein schöner Gedanke, dass Bogusław Schaeffer ein Geist sein könnte, der wegen der 200 Samples jetzt öfter in Erscheinung tritt.”
Daniel nickt den Kopf, als die Sprache darauf kommt, dass er und Schmidt auf dem ersten Matmos-Album von Ligetis Stück ‚Artikulation’ gesamplet haben und dadurch das elektronische Experiment des ungarischen Komponisten aus den späten 50er Jahren mit den Tropen des 90er Drum & Bass neu kontextualisiert haben.
„Es geht um die Entscheidungen, die kreative Menschen mit diesen Komponenten treffen,” argumentiert er. „Wir fanden es großartig, was Ligeti aus der Technologie der damaligen Zeit herausgeholt hat. Es ist geprägt durch einen ganz besonderen historischen Moment. Wenn du aus einer früheren Ära samplest, bleibst du trotzdem immer noch in deiner eigenen Zeit verhaftet.”
Trotz ihrer überlegten Herangehensweise an die Ethik des Samplens war es aufgrund seiner experimentellen und oft tonal komplexen Natur kein einfacher Prozess, Schaeffers Arbeit zu analysieren.
„Ich muss als Metapher dafür immer an den Versuch denken, ein nasses Taschentuch durchzuschneiden,” sagt Schmidt. “Es fällt auseinander, sobald du mit mit dem Schneiden anfängst, und du denkst ,Oh nein, ich hätte etwas tiefer schneiden sollen!’ Du fragst dich also, wo fängt dieser Sound an? Wo sollte er enden? Es ist komisch, wenn Samples versuchen, das ganze Universum auf Drums zu reduzieren. Es fühlt sich schmutzig an, die Komposition einer Person auf das Schlagzeug zu reduzieren...”
„...oder Stabs” fährt Daniel fort. „Deswegen hatten wir Kategorien wie Noise und Texture mit längeren Samples. Ein Vocalsample, bei dem nur eine Person die Note C singt, ist das praktischste Sample der Welt, weil darauf alle möglichen Akkorde gepackt werden können. Aber das ist kein Chorsample. Hier geht es um ein Sample von Bogusław Schaeffers choraler Musik. Es muss deshalb ein Abbild der Art von Akkorden oder musikalischer Informationen sein, die er geschaffen hat. Das bedeutet, es wird für die Endnutzer:innen weniger flexibel sein, weil es viel von seiner Persönlichkeit enthält. Das ist zwar ein seltsamer Kompromiss bei der Erstellung von Samples, aber wir wollten, dass die Samples so viel von Bogusławs Ästhetik enthalten wie möglich, unter Vorgabe der eigenartigen und kurzen Schnipsel-Rahmenbedingungen von Samplekits.”
Als Pioniere der neoklassischen und elektroakustischen Musik und dem dazugehörigen Samplematerial würde ein sich selbst ernst nehmender Ton im Umgang damit nahe liegen, aber sowohl Schaeffer als auch Matmos bewahren einen Sinn für Humor in ihrer Arbeit. Der unermüdlich produktive Schaeffer schrieb genauso gerne Drehbücher für Komödien wie düstere elektronische Stücke. Es ist daher keine Überraschung, dass im Samplepack kleine schelmische Soundabschnitte versteckt sind.
„Es gibt eine Stelle, an der eine Frau immer wieder lacht,” erzählt Schmidt, “auf sehr theatralische Art und Weise. Aufnahmen von Menschen anzuhören, die absichtlich lachen, das ist einfach zu witzig.”
Ein weiterer besonderer Sound, der im Samplepack heraussticht, ist der ,Honk’, der wie die klangliche Untermalung eines Slapstick-Gags auf Kosten eines glücklosen Clowns klingt.
„Wir nehmen gerade ein Album auf, das auf Bogusław Schaeffer basiert, und bis jetzt haben wir ausschließlich das Samplepack verwendet,” verrät Schmidt. „Als ob die Ansage gewesen wäre, ‘Okay Motherfuckers, ihr habt euch die Samples rausgesucht, jetzt macht mal gefälligst Musik mit den Samples, die ihr erstellt habt.’”
“Und dieser Honk-Sound, von dem du sprichst, ist der zentrale Riff eines Songs, an dem wir arbeiten mit dem Arbeitstitel ,Snort Trot’, glaube ich,” fügt Daniel hinzu.
Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs sind Matmos mitten in der Produktion des Schaeffer-Albums, wie aus einer Grafik an ihrer Wand zu entnehmen ist. Das Album wird zweifelsohne ein in sich geschlossenes musikalisches Universum werden, so ähnlich wie der Rest der Diskographie von Matmos und Schaeffers eigenes verworrenes Gesamtwerk. Es wird jetzt faszinierend sein zu sehen, welche anderen unerwarteten Ergebnisse daraus entstehen, wenn Schaeffers Sounds mit der Community der modernen Musikwelt geteilt werden. Das wird dann bei Ihnen liegen.
Text und Interviews: Oli Warwick
Der Download beinhaltet einen Ordner mit Audio-WAV-Files und ein Ableton Live-Projekt. Bitte beachten Sie: Live 10 Suite ist erforderlich, um alle Angebote des Live-Projekts vollständig nutzen zu können
Das Samplepack basiert ausschließlich auf Aufnahmen der elektroakustischen Stücke von Bogusław Schaeffer', die im Polish Radio Experimental Studio erstellt wurden
Das Adam Mickiewicz Institute gibt allen eine allgemeine Genehmigung, die die Samples auf irgendeine Weise verwenden wollen, einschließlich ihrer unbegrenzten Verarbeitung oder Anpassung
Das Projekt wird vom Adam Mickiewicz Institute mitorganisiert als Teil des internationalen kulturellen Programms anlässlich der hundertjährigen Unabhängigkeit Polens. Finanziert vom Ministerium für Kultur und nationales Erbe der Republik Polen im Rahmen des mehrjährigen Programms NIEPODLEGŁA 2017–2022
Urherberrechte an allen Werken von Bogusław Schaeffer liegen bei der Aurea Porta Foundation