Allen unter uns, die ausschließlich mit Popmusik groß geworden sind, mag die Welt der Klassik bisweilen wie ein Paralleluniversum vorkommen. Obwohl die Musik selbst durchaus gewichtig und relevant erscheint, sind die damit einher gehenden Gesetzmäßigkeiten und Rituale für manch einen doch eher befremdlich. Ein anfangs kaum überschaubares Repertoire, das verwendete Vokabular und nicht zuletzt die Aura der „Hochkultur“ machen den Einstieg nicht gerade leicht. Dies gilt erst recht für die zeitgenössische Klassik, denn hier scheint alles noch viel kleinteiliger zu sein.
Zum Glück gibt es heute eine Reihe von aufstrebenden jungen Komponisten, die Musik mit der Zielsetzung machen, den Intellekt und die Sinne gleichermaßen anzusprechen; ohne dabei auf die strenge Zweiteilung Rücksicht zu nehmen, die den Kulturbetrieb zu früheren Zeiten in „anspruchsvoll“ und „anspruchslos“ spaltete. Zu den prominentesten Vertretern dieser neuen Zunft zählt zweifelsohne Mason Bates. Der 37jährige, schon preisgekrönte und in Kalifornien beheimatete Komponist, erweitert seine orchestralen und kammermusikalischen Werke oftmals mit Sounds, Rhythmen, Texturen und Techniken, die aus seiner tiefen Wertschätzung für Techno und Electronica herrühren.
Entscheidend ist dabei jedoch, dass die elektronischen Elemente in seinen Kompositionen nicht als bloße Verzierung dienen, nur um dem Orchester effektheischend einen modernen Anstrich zu verleihen. Vielmehr treten sie stets in eine aussagekräftige Interaktion mit den akustischen Instrumenten. Darüber hinaus verkommt seine unbändig fantasievolle Verwendung der Mittel nie zum reinen Selbstzweck. Er stellt sie stets in den Dienst einer starken narrativen Erzählung. So gesehen orientiert sich Bates Musik an einer Entwicklung, die einst mit Beethoven ihren Anfang nahm. Und so ist es nur gerecht, dass Bates gemeinsam mit dem guten alten Ludwig die Ehre zuteil wird, auf dem aktuellen Spielplan des San Franscisco Symphony Orchestra zu stehen.
Wir trafen uns mit Mason Bates im Rahmen des einjährigen und bereits zur Hälfte absolvierten ‘Beethoven and Bates’ Festivals, um über seine Energy Symphony, den Einsatz von Electronica im Orchesterverbund, Perkussion vom Schrottplatz und die Parallelen zwischen DJ's und Dirigenten zu sprechen.
Deine Musik bezieht sich vielfach auf reale Orte, Personen und Ereignisse. Was beeinflusst dich im nichtmusikalischen Sinne?
Das ist ganz witzig. Als ich noch im Anglistik-Studium war, hätte ich nie gedacht, dass die Beschäftigung mit magischem Realismus oder Metafiktion oder postmoderner Fiktion jemals einen direkten Einfluss auf meine Musik haben könnte. Mir hat es einfach nur Spass gemacht, solche Sachen zu lesen und ich dachte mir, das wird außerdem wohl eine gute Basis für meine Ausbildung sein.
Hast du denn Ambitionen, zu schreiben?
Ja, ich glaube irgendwann schon. Worte nieder zu schreiben, das hat mich immer fasziniert. Ich finde es ähnlich herausfordernd wie das Komponieren. Bisher habe ich es nicht ernsthaft verfolgt, weil ich auf diesem Gebiet vielleicht nicht so viel bieten kann. Aber ich weiss, dass die phantastischen Geschichten als Bestandteil der Literatur einen starken Sog auf mich ausüben. So steckt in einem Werk wie Alternative Energy, das eine Zeitreise zu bestimmten Wendemarken der Energiegeschichte unternimmt, viel Inspiration aus Cloud Atlas, dem Buch von David Mitchell, das vor einiger Zeit auch verfilmt wurde.
Ohnehin finde ich es sehr inspirierend, vergangene Jahrhunderte aus der heutigen Perspektive zu betrachten. Weisst du, im 19. Jahrhundert gab es so viele programmatische Stücke wie die Symphonie Fantastique von Hector Berlioz. Darin wurden die wildesten Geschichten erzählt. Und so was in die Sprache des 21. Jahrhunderts zu übersetzen, reizt mich immer wieder sehr. Literatur ist also mein wichtigster nichtmusikalischer Einfluss.
Hinsichtlicher Deiner verwendeten Sounds hast du für eine Passage in Alternative Energy einen Perkussion-Satz aus Schrottteilen zusammengestellt, ist das richtig?
Ja, korrekt. Das geschieht im ersten Satz, den ich thematisch auf Henry Fords Bauernhof angesiedelt habe, mit der Idee, dass dort jemand tüftelt und ein Auto zusammenschraubt. Ich war gemeinsam mit dem Perkussionisten der Chicagoer Sinfoniker auf einem Schrottplatz, den wir ziemlich geplündert haben. Die Idee selbst ist ja nicht neu. Einstürzende Neubauten haben das schon gemacht und auch George Gershwin. Der hatte sogar Autohupen. Ich finde, dass Perkussion-Instrumente viel mehr von sich geben können, als nur ein akustisches Signal. In meinem Stück The B Sides tauchen an verschiedenen Stellen ein Besen, eine Öltonne und eine Schreibmaschine auf. Man bekommt von einem Perkussion-Ensemble über den eigentlichen Sound hinaus etwas Theatralisches.
Das erinnert an die Idee derMusique Concrète, die die Klänge der uns umgebenden Welt auf musikalische Weise nutzt. Hegst du eine gewisse Affintität zu dieser Bewegung?
Ja, darüber habe ich wirklich intensiv nachgedacht und es ist schon sehr interessant, wenn ein aufgenommener Sound einen inhaltlichen Bezug mit sich führt. Wenn man sich vor Augen hält, dass die Sounds in Matmos’ A Chance To Cut Is A Chance To Cure alle aus einem OP-Saal kommen, wird die Wahrnehmung dessen doch noch viel plastischer.
Wenn du mit einem Orchester unter Leitung eines Dirigenten arbeitest, gibt es da eigentlich eine strikte Aufgabenteilung, in dem Sinne, dass der Dirigent die Führung übernimmt, wenn du das Werk fertig komponiert hast? Oder bleibt es in gewissen Teilen eine Kooperation?
Weisst du, das ist interessant. Bis heute fällt es mir schwer, die Chemie zwischen Dirigent und Orchester genau zu verstehen. Aber mir wird mehr und mehr klar, dass es einen hundertprozentigen Unterschied ausmacht, ob ein Orchester geführt wird oder nicht.
Ich glaube, Dirigieren ist ein bisschen so wie DJing – nicht technisch gesehen, aber von der Empfindung her. Fast jeder glaubt ja, dass DJing einfach sei. Wenn man keine Ahnung davon hat und Jemanden beim Auflegen mit Kopfhörern anstarrt, fragt man sich „Warum stehst du hier rum? Was machst du da eigentlich?“ Und ich schwöre dir, so viele Menschen, inklusive mir selbst in früheren Zeiten, denken sich „Was zum Teufel macht der Dirigent? Fuchtelt er nur mit den Armen rum?“
Mit meiner Musik und der Elektronik ist es nochmal eine speziellere Sache, weil abzuwarten bleibt, welche Beziehung der Dirigent zu diesem Element überhaupt herstellen kann. Das ist für alle ein neues Terrain, bis sie mal ein anderes Stück von mir aufführen. Und so ist es auch für mich immer wieder etwas Besonderes.
Du musst wissen, ein Orchester ist wie ein Ozeandampfer, der nicht einfach auf der Stelle kehrt machen kann. Es gibt Momente, da sitzt du ganz entspannt, spielst im völligen Einklang und auf einmal merkst du, wie das Orchester anhebt und sich hochschaukelt. Das ist eine völlig durchgeknallte Sache.
Ich glaube, DJs kennen dieses Gefühl...
Ja genau. Und deswegen ist das Tempo-Warping mit Ableton ganz entscheidend... Denn wenn ich performe, kann ich die Nudge-Tempo- und Bend-Tempo-Funktionen benutzen, um den Laden zusammen zu halten.
Wenn ich mit einem Orchester spiele, gibt es absolut keinen Spielraum für Fehler. Es darf nichts abstürzen, du darfst kein Tap-Tempo setzten, das nachher nicht funktioniert. Deshalb sind die Flexibilität und die Fluidität für mich einfach phänomenal gelöst.
Mason Bates in der Carnegie Hall, gemeinsam mit Dirigent Riccardo Multi.
Lass uns über Deine Kompositionsweise sprechen. Viele Leute, die Software wie Live benutzen, verstehen unter Komponieren das gleichzeitige Setzen von Noten und Arrangieren von Sounds. Ist das mit deiner Herangehensweise vergleichbar oder müssen wir uns eher einen Mann vorstellen, der am Klavier sitzt und Note für Note und Takt für Takt auf ein Blatt Papier schreibt?
Ich denke, im besten Fall gibt es eine Vielzahl von Ansätzen. Das Tolle an meiner Erfahrung mit elektronischer Musik ist, dass es meine Arbeitsweise über die Jahre beeinflusst hat. Wenn ich an einem Stück mit Electronics arbeite, kann ich die nicht einfach am Schluss hinzufügen. Ich muss sie gleich in meinen Ansatz einbinden.
Aber grundsätzlich fängt bei mir die Arbeit im Kopf an. Üblicherweise denke ich erstmal darüber nach, was für ein Stück es überhaupt werden soll. Wird es eine Wasser-Sinfonie wie es Liquid Interface eine war oder eher etwas wie die Anthology of Fantastic Zoology, die einem Buch entstammt. Dann arbeite ich am Klavier und versuche später mit dem Computer Material zu entwickeln, das das Ganze zum Leben erweckt. Die digitalen Prozesse, mit denen wir heute alle vertraut sind, bringen viele interessante Lösungen für die sinfonische Welt hervor. Man muss sich jedoch vorsehen, nicht der Verlockung zu erliegen, nur noch in Copy & Paste zu arbeiten. Das kann nämlich schnell mal nach hinten losgehen, wenn du sowas später mit hundert Leuten spielen willst.
Gibt es sowas wie die ideale Balance zwischen den elektronischen und den orchestralen Parts, nach der du strebst?
Damit es für mich und die Leute, die das Stück hören, interessant bleibt, sollten sich die Electronics und die orchestralen Sounds in Beziehung zueinander entwickeln.
Als ich angefangen habe, elektronische Klänge in ein Orchester einzubringen, waren das nur Pops und Clicks und synthetische Sinfonie-Sounds. Später interessierten mich naturalistische Sounds wie Gletscher- und Erdbebengeräusche. In letzter Zeit sind es eher technische Klänge wie der eines Teilchenbeschleunigers oder sowas in der Art.
Aber die Beziehung muss stets lebendig bleiben und auf eine Sache sollte man bei der Integration von Electronics in ein Orchester immer achten: Welche Verbindung gehen die sinfonischen Sounds und die Texturen aus den Lautsprechern miteinander ein? Idealerweise sollte sie so ausfallen, dass alles eng verwoben ist und man nicht den Eindruck hat, etwas voneinander losgelöst wahrzunehmen. Ich mag es am liebsten, wenn sich das Orchester im elektronischen Raum aufbaut und daraus emporsteigt. Das kann ruhig soweit gehen, dass das Orchester selbst auf eine gewisse Art elektronisch klingt.
Ich würde das Thema gern etwas breiter fassen und deinen Blick auf einen historischen Aspekt lenken, der mich interessiert. Der erstmalige Einsatz von elektronischen Komponenten in der Art-Musik liegt mittlerweile fünfzig bis sechzig Jahre zurück. Heutzutage sind wir an elektronische und synthetische Sounds extrem gewöhnt. Spätestens seit Hip-Hop und spätestens seit den 80ern sind sie fester Bestandteil des Mainstream-Pop. Ich frage mich, ob sich elektronische Sounds in der sinfonischen Welt immer noch frisch anfühlen. Haben sie noch das Zeug zum Schocker?
Es ist in der sinfonischen Welt immer noch eine große Sache, hauptsächlich weil es Niemand wirklich macht. Ich meine, wie du schon sagtest, es gibt eine 50 bis 60jährige Geschichte zu elektroakustischer Musik. Das meiste davon ist Kammermusik, wie Synchronisms von Davidovski. Oder Stücke von Milton Babbitt und Stockhausen. Aber mit großen Ensembles wie einem Orchester hat es kaum jemand probiert.
Und wenn du dir den sinfonischen Kanon anschaust, nicht nur, was im regulären Rahmen gespielt wird, sondern auch Konzerte wo neue Werke aufgeführt werden, dann wirst du dort nie elektronische Sounds hören. Es gilt dabei ja auch einige Herausforderungen zu meistern; ästhetisch, logistisch und technologisch. Das Ganze ist also immer noch neu und für die Freunde dieser Musik geradezu revolutionär, wenn sie ein Orchester mit elektronischen Sounds erleben.
Und dennoch sind die elektronischen Sounds für mich nur ein Mittel zum Zweck. Ich schätze allerdings sehr, dass die Leute so begeistert davon sind, in meinen Werken eine ganz neue Facette zu entdecken. Obwohl sie in einem Stück wie Alternative Energy lediglich einmal über vier oder fünf Sätze zum Tragen kommt. Und selbst im besagten Satz dauert es bis zur achten oder neunten Minute, ehe die Electronics auftauchen. Dann jedoch gewaltig. Ich denke, was ich damit sagen will, ist, dass ich es natürlich spannend finde etwas neues in die sinfonische Welt einzubringen, allerdings mache ich dies nicht wegen des Neuigkeitswerts an sich.
Mason Bates während einer Aufführung von Alternative Energy auf dem ‘Cabrillo Festival of Contemporary Music’
Die aktuelle Spielzeit des San Francisco Symphony Orchestra läuft unter dem Titel Beethoven and Bates. Wie kam es überhaupt dazu?
Nun, das San Francisco Symphony Orchestra unter Leitung von Michael Tilson Thomas hat sich schon immer sehr experimentierfreudig gezeigt. Ich erinnere mich noch an den Saisonauftakt vor zwei oder drei Jahren, als sie Ligetis Lontano aufführten. Das ist quasi ein Negativbild dessen, was man gemeinhin als Eröffnungskonzert erwarten würde. Statt schnell und laut tönt es hier grüppchenweise und bizarr. Was das anbelangt, war Michael schon immer provokant. Ich denke, dass er seinen Fokus auf Beethoven von meiner Musik – in ihrer neuartigen Sprache, aber doch mit historischen Wurzeln – perfekt ummantelt sah. Wie du weisst, mache ich kein weißes und pinkes Rauschen, zu dem das Orchester irgendwelche Cluster spielt. Ich liebe die ganzen Dinge, die ein Orchester anstellen kann, tonal wie atonal.
Also wurden Beethoven und deine Musik nicht zusammen gestellt, um ausschließlich einen Kontrast zwischen alt und neu darzustellen...
Wenn du dir in Beethovens 9. Sinfonie die Stelle anhörst, in der der Chor einsetzt, dann ist es das erste Mal, dass in einer Sinfonie verbale Inhalte auftauchen. Vor seinem Wirken waren die sinfonischen Sätze auch nahezu in sich geschlossen. Schon in der 5. Sinfonie begann Beethoven damit, diese traditionelle Satzfolge aufzubrechen. Das ist dann fast vergleichbar mit Pink Floyd und den ineinander verwobenen Songs auf ihren Konzeptalben. Er war im 19. Jahrhundert quasi der Urheber des programmatischen Ansatzes, auf den sich spätere programmatisch arbeitende Komponisten wie Berlioz und Wagner mit Blick auf die 9. Sinfonie bezogen. In meiner Musik sorgen die Electronics nicht einfach nur für Techno-Rhythmen. Viel bedeutender ist der narrative Ansatz, den sie vermitteln – zum Beispiel, dass man ganz in der Nähe eines schmelzenden Gletschers steht oder sich in einem rotierenden Teilchenbeschleuniger befindet.
Sehen und hören Sie mehr von Mason Bates.