Marina Herlop: Mit Klavier und Stimme in die Unendlichkeit
Marina Herlop erforscht mit ihrer Musik die unendlichen Möglichkeiten des Klavier und ihrer Stimme. Auf Pripyat, ihrem neuesten Album, nimmt die klassisch ausgebildete katalanische Komponistin die eigenen Vocals auseinander, um sie dann vielschichtig neu anzuordnen. Sie kombiniert ausgefeilte Harmonien mit widerspenstiger Elektronik und lotet dabei stets aus, wie weit sie mit neuen Tools und ihrer Vorstellungskraft gehen kann.
Auf Tracks wie „Miu“ loopt Herlop mehrere Gesangsharmonien und erzeugt ein schimmerndes Netz von Melodien, das in eine elegante Akkordfolge und flüchtige Percussion mündet. Diese Art von Klangforschung ist ein neues Kapitel der Herlopschen Klangwelt, bestanden doch die meisten ihrer früheren Arbeiten ausschließlich aus Vocals und Klavier mit minimaler elektronischer Manipulation. Als Herlop mit den Aufnahmen zu „Pripyat“ begann, wurde ihr jedoch klar, dass diese Instrumente für die Realisierung ihrer kompositorischen Ideen nicht mehr ausreichten. Sie hatte Ableton Live bereits bei der Produktion ihrer vorherigen Alben ausprobiert und begann nun, die Software mit einer neuen Absicht zu verwenden: „Live hat für mich ein neues Tor geöffnet“, sagt Herlop in unserem Zoom-Gespräch. „Es war wie unendlich multipliziert mit unendlich.“
Inzwischen ist das Elektronische zu einem zentralen Bestandteil von Herlops Arbeit geworden. Dies ermöglicht ihr, klassische Gesang-und-Klavier-Kompositionen um neue Register zu erweitern. Herlop hätte jedoch nie damit gerechnet, dass sie eines Tages selbst mit Software arbeiten würde. „Ich hatte immer diese falsche Vorstellung, dass das etwas unglaublich Komplexes sei, und nur von wenigen Leuten mit magischen Kräften beherrschbar.“ Als Herlop ihr zweites Album „Babasha“ aufnahm, machte sie sich jedoch allmählich mit der DAW vertraut. Zuerst spielte sie manche Elemente direkt mit einem MIDI-Keyboard ein oder importierte Partituren, die sie in Notationsprogrammen komponiert hatte. Über das Ausschneiden, Einfügen und Arrangieren von MIDI-Spuren in Live – und den dabei gemachten Fehlern – verstand Herlop auch komplexere Prozesse, manchmal auch dank telefonischer Unterstützung von Freund:innen. „Auf diese Weise lernt man viel mehr als wenn man Bücher liest, weil das mit Erfahrungen, Emotionen und später auch Erinnerungen verbunden ist“, sagt sie.
Schönheit in Fehlern zu finden: Das führte Herlop auf die Spur zu ihrer aktuellen Musik. Es fiel ihr dabei jedoch nicht leicht, die Grenzen ihrer klassischen Ausbildung zu sprengen. Die Künstlerin hatte gelernt, auf jedes Detail der Komposition und Aufführung zu achten – jede Note und jeden Moment zu hinterfragen, bis sie wusste, dass alles perfekt war. Dies hatte allerdings den Nebeneffekt, dass sie zuweilen Ängste auf der Bühne empfand, die sie erst mit jahrelanger Erfahrung ein wenig ablegen konnte. „Wenn man oft auf die Bühne geht, ist das irgendwann nicht mehr heilig,“ sagt Herlop. Und diese Ängste zu überwinden „hilft einem tatsächlich, auch mit anderen Dingen im Leben klarzukommen. Es macht einen zu einem besseren Menschen.“
Wir haben in Bristol mit Marina Herlop gesprochen. Kurz vor unserem Gespräch hatte sie einen Auftritt in New York, bei dem sie mit Musiker:innen improvisiert hatte, die sie zuvor nicht kannte. Für Herlop war das eine Premiere – und in Anbetracht ihrer neuen musikalischen Methoden ein musikalisches Abenteuer. Zur Zeit unseres Treffens beschäftigte sich Herlop im Studio mit noch mehr neuen Klangfarben und Texturen, und war in Anbetracht all der musikalischen Möglichkeiten voller Energie. Herlop ist entschlossen, jenem neuen Weg zu folgen – wohin er auch führen mag.
Wie fängst du an, wenn du ein neues Stück komponierst?
Ich versuche zuerst, es zu entschlüsseln. Zu Beginn eines neuen Albums ist das der beunruhigendste Moment: diese leere Seite. Zuerst mache ich eine Art Vorproduktion, zum Beispiel stelle ich mir die Klangfülle vor. Zum Beispiel will ich besonders auf hohe Frequenzen achten und nur wenige Bässe verwenden – oder sehr bewusst sein, wenn ich sie verwende. Ich versuche, mir bestimmte Grenzen zu setzen, denn das hilft immer. Vielleicht halte ich mich später nicht mehr daran, aber es ist sehr hilfreich, sie zu haben. Bevor ich mit der Musik loslege, befasse ich mich zum Beispiel mit Harmonielehre und mache ein paar Übungen. Es erfrischt den Verstand, mal etwas anderes auszuprobieren. So komme ich auf neue Ideen, die ich später vielleicht sogar in der Musik verwenden kann. Ich will das eher beiläufig machen, und dann etwas finden, das mich interessiert und als Startpunkt für eine Komposition dienen kann.
Was kommt beim Komponieren zuerst – Gesang oder Instrumente?
Das kommt auf den Song an. Meist beginne ich mit den Instrumenten. Ich setze mich zum Beispiel ans Klavier und entwickle eine Akkordfolge, denn das Klavier ist mein Instrument. Wenn ich es höre, dann höre ich kein Klavier mehr, sondern eigentlich die Musik an sich. Wenn die Akkorde auf dem Klavier gut klingen, kann ich versuchen, sie auf einen Synthesizer oder eine Textur zu übertragen. Dann haben sie mehr Persönlichkeit. Manchmal finde ich eine interessante Akkordfolge und nehme sie mit Gesang auf – je nachdem.
Wie sieht dein derzeitiges Studio-Setup aus?
Da ist mein Audio-Interface und mein Synth – ein Prophet. In den neuen Songs kam er oft zum Einsatz. Außerdem habe ich einige Plug-ins. Ich nutze Omnisphere und verschiedene Kontakt-Libraries. Dann meine Monitorboxen und ein altes Klavier – falls ich Piano-Sounds aufnehmen will. Alles ganz einfach und spartanisch – ich brauche nicht viel.
Wie überträgst du das auf deine Performance?
Bei meinen Konzerten nutze ich einen Computer, aber die meiste Zeit spiele ich Instrumente, zum Beispiel Klavier, meinen Synth – oder ich singe. Mit dem Computer mache ich zur Zeit nicht so viel auf der Bühne. Ich nutze ihn beispielsweise zum Umschalten zwischen Synth-Presets oder zum Abspielen einer Hintergrundspur. Aber ich sollte lernen, wie ich den Computer live einsetzen kann, denn das würde mir neue Möglichkeiten eröffnen.
Geht es dir darum, die Musik auf deinen Alben akkurat zu reproduzieren, oder ist auch Improvisation im Spiel?
Es geht mir schon darum, die komponierten Stücke so originalgetreu wie möglich zu spielen. Das ist eine ganz persönliche Entscheidung. Denn wenn ich manche Songteile oder bestimmte Instrumente nicht spiele, oder andere Dinge ändere, fühlt es sich so an, als wäre ich dem Original nicht treu. Es dauert einfach so lange, bis ich entschieden habe, welche Instrumente zum Einsatz kommen. Und wenn ich davon etwas wegnehme, merke ich schnell, dass etwas fehlt.
Ich versuche also, das zu reproduzieren, was auf dem Album ist. Aber weil die Musik von Menschen gespielt wird – jedes Mal an einem anderen Ort und unter anderen akustischen Bedingungen – ist es nie damit identisch. Selbst wenn ich gar nicht danach suche, mag ich diesen Unterschied zwischen dem Album und dem Konzert. Vielleicht ist er nur ganz klein – aber genau das, was das Ganze lebendig macht. Selbst wenn ich genau das wiedergeben will, was ich im Kopf habe oder was auf dem Album ist, kann ich das nicht. Es ist einfach unmöglich. Und das finde ich spannend.
In Bezug auf Improvisation: Niemand von uns improvisiert auf der Bühne. Trotzdem ist es jeden Tag anders, weil man nie in genau derselben Stimmung singt, oder sich der Rhythmus ein wenig ändert. Das passiert ganz unbewusst. Ich habe nichts gegen die Improvisation. Aber in diesem Projekt gibt es dafür noch keinen Platz. Vielleicht in der Zukunft.
In den Videos eurer Konzerte ist zu sehen, dass die mehrschichtigen Gesangsharmonien manchmal live gesungen werden, manchmal aber auch Playbacks sind. Was sind die Vor- und Nachteile dieser Vorgehensweise?
Selbst wenn wir als komplette Band spielen, gibt es kleine Gesangsparts im Backing-Track. Manchmal gibt es vier oder fünf Vocal-Schichten, und wir sind nur zu dritt. Ich will aber, dass alle Layer zu hören sind. Wenn ich solo spiele, kann ich meine Vocals natürlich nicht mehrstimmig singen. Deswegen spiele ich die übrigen Vocal-Layer ab.
Es wäre natürlich toll, eine sieben- oder zehnköpfige Band zu haben und alles live zu spielen – das hätte eine ganz andere Wirkung. Aber aus logistischen Gründen geht das leider nicht. Mir machen beide Varianten Spaß. Ich spiele aus musikalischen Gründen am liebsten mit einer Band – es ist immer besser, sich mit anderen Leuten zusammenzutun. Aber ich habe auch alleine Spaß auf der Bühne.
In anderen Interviews hast du darüber gesprochen, dass Musik bestimmte Archetypen, Formeln, Strukturen oder Proportionen widerspiegeln sollte, die es schon immer gegeben hat. Wie manifestieren sich diese ewigen Archetypen in deiner Musik?
Es ist eine Frage des Gleichgewichts. Ich denke, dass man beim Musikmachen nicht komplett frei ist: Beim Komponieren müssen wir bestimmten Maßgaben folgen. Manche Dinge sind vorgegeben – ich habe sie nicht erfunden, es gibt sie einfach. Und es kommt darauf an, wie sie sich in der Musik widerspiegeln. Ich darf bestimmte Elemente wegnehmen, ohne das Gefühl zu haben, dass der Song schwächer wird oder die Aufmerksamkeit nachlässt. Manchmal kann ich Elemente wegnehmen und die Aufmerksamkeit steigt – oder mein Engagement für den Song steigt, weil ich das genau so machen wollte. Es geht darum, abschätzen zu können, was die Hörer:innen gerade brauchen – manchmal gebe ich es ihnen, manchmal aber auch nicht. In gewisser Weise spiele ich mit ihnen. Denn wenn man ein bisschen länger durchhält, hat man auch mehr Spaß. Aber in der Musik gibt es diesen Trick schon von Anfang an. Ich denke, dass es einen richtigen Weg dafür gibt – einen Archetyp oder ein Schema, das ich berücksichtigen muss. Das ist wie ein Ratespiel: Was ist am besten für den Song?
Auf „Pripyat“ gibt es viele Vocal-Schichten. Kannst du anhand eines Beispiels beschreiben, wie sie entstanden sind?
Der Song „Miu“, der auch als Single erschienen ist, basiert auf einer Improvisation Karnatischer Rhythmen – damit habe ich mich damals befasst. Ich habe mich beim Improvisieren aufgenommen, das Ganze dann zerschnitten und die Teile behalten, die mir gefielen. Ich hatte die Idee, dass es an bulgarischen Gesang erinnern würde, wenn sich eine Gesangslinie bewegt und die anderen gleich bleiben. Normalerweise habe ich zuerst eine Melodie, die ich dann nach Belieben erweitere. Und wenn ich damit zufrieden bin, bleibt es so.
Fühlst du dich generell zu traditionellen Musikformen oder Vokalidiomen hingezogen?
Ich traue mich nicht, viel darüber zu sprechen, weil ich in dieser Hinsicht ehrlich gesagt noch ziemlich unwissend bin. Ich interessiere mich für traditionelle Musikformen, weil ich denke, dass sie in einer Spiritualität verwurzelt sind – einem natürlichen Wissen, das uns irgendwie abhanden gekommen ist. Diese Entwurzelung hat etwas mit dem technologischen Fortschritt zu tun. Ich interessiere mich für diese Art, Musik zu begreifen.
Und ich will das genauer untersuchen, anstatt nur ein paar YouTube-Videos anzusehen. Ich will Samples und Instrumente finden, die ich spielerisch erforschen kann. Ich interessiere mich sehr für das indonesische Gamelan, aber ich weiß noch gar nichts darüber. Ich weiß nur, dass den Klang toll finde – das gilt auch für afrikanische Percussion und afrikanische Vocals. Ich muss mehr darüber erfahren, bevor ich mich traue, darüber zu sprechen. Sonst käme ich mir hochstaplerisch und ziemlich ignorant vor.
Bei deiner Musik stehen Klavier und Gesang im Mittelpunkt. Könntest du dir jemals vorstellen, auf einem Stück oder Album ohne diese Instrumente zu arbeiten?
Ja – ich könnte mir tatsächlich vorstellen, Musik für ein Ensemble zu komponieren. Und Filmmusik – oder andere Auftragsarbeiten. Aber weil ich schon immer mit Gesang und Klavier gearbeitet habe, wäre es interessant, diese Elemente mal nicht zu verwenden. Jede Einschränkung kann zu etwas Interessantem führen!
Mehr von Marina Herlop findest du auf Bandcamp und Instagram