Makaya McCraven: Beat Scientist
Der Drummer, Multi-Instrumentalist und selbsternannte „Beat Scientist“ Makaya McCraven sitzt vor seinem Haus in Chicago und erzählt uns via Zoom von seinem Lockdown: „Ich habe mir eine ausgiebige Musik-Pause gegönnt – mal abgesehen davon, dass ich Gitarrenunterricht genommen und meinen Kindern Musikunterricht gegeben habe“, sagt er. „Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich an keiner neuen Musik gearbeitet. Sonst hatte ich stets mehrere Projekte am Laufen – und drohende Deadlines.“
McCravens Leben dreht sich um Musik, und das war schon immer so. Er wurde in Paris als Sohn von Musikereltern geboren: Agnes Zsigmondi ist eine ungarische Folk-Sängerin und Stephen McCraven ein Jazz-Drummer. Makaya McCraven wuchs in Massachusetts auf und verfeinerte seinen musikalischen Stil in Chicago, wo er seine klassisch ausgebildeten und international gefeierten Drum-Skills mit einer Sample-basierten Herangehensweise an die Produktion kombinierte.
Der Durchbruch gelang ihm mit dem Album In The Moment, das 2015 auf dem in Chicago ansässigen Label International Anthem Recording Company erschien. Das Album basiert auf Liveaufnahmen und der Bearbeitung mit Ableton: eine Brücke zwischen Jazz und Beatmaking. McCraven ist eng mit der Labelfamilie verbunden und hat dort noch weitere hochgeschätzte Alben veröffentlicht: Highly Rare, Universal Beings und Where We Come From (Chicago x London Mixtape). Vor einem Monat erschien dort auch Universal Beings E&F Sides auf Vinyl und als Dokumentation. Und damit nicht genug: Anfang des Jahres machte McCraven auch mit We’re New Again auf XL Recordings von sich reden – seiner Interpretation von Gil Scott-Herons Album We’re New Here, das 2020 sein zehnjähriges Jubiläum feiert.
Der Corona-Lockdown ließ eine Pause entstehen, die McCraven jetzt allmählich wieder mit neuer Musik füllt. In These Times heißt das Werk, für das er gerade viel Zeit mit Ableton Live verbringt, um musikalische Elemente aus mehreren Zeitebenen zu neuen Tracks zusammenzufügen. Das ursprüngliche Klangmaterial wurde zwischen 2016 und 2020 an verschiedenen Orten aufgenommen: im Büro des Magazins „In These Times“ (September 2019), im Walker Arts Centre in Minneapolis, im Co-Prosperity Sphere in Chicago und im Symphony Centre des Chicago Symphony Orchestra.
Das letztgenannte Konzert fand kurz vor Beginn der Pandemie statt und wurde von bewegten Bildern begleitet – Archivfilmmaterial über schwarze Musiker:innen und Aktivist:innen, kombiniert mit Spoken Word des Sprachwissenschaftlers Studs Terkel, der auch an dem progressiven Magazin, das der Musik ihren Namen gab, mitgewirkt hat. Das musikalische Ergebnis wird 2021 auf International Anthem erscheinen: „Während des Lockdowns habe ich zwar Höhen und Tiefen erlebt, aber ich habe ihm auch viel zu verdanken. Inzwischen produziere ich wieder viel. Die Pause hat mir Klarheit gebracht und neue Wege gezeigt, die Musik zu vollenden.“
Du bist ein renommierter Jazz-Drummer und Produzent – zwei Seiten deiner künstlerischen Arbeit. Wer hat dich zu Beginn deiner Karriere am meisten beeinflusst?
Ich war von Anfang an ein Schlagzeuger, der Platten produzieren will. Die Schnittstelle dieser beiden Dinge liegt in der kreativen Nutzung des Studios. Und die Platte und die Live-Erfahrung sind getrennte Bereiche. Aufgenommene Musik ist nur relativ neu. Vor hundert Jahren war es noch so, dass man für Aufnahmen die Noten besorgt und versierten Instrumentalist:innen gegeben hat. Die Musikkultur hat sich durch die Aufnahmetechnik verändert: von Tape-Loops und Les Paul über die Beatles bis zur Drum Machine und Sample-basierten Musik. Alles ist Teil eines Kontinuums. Neulich habe ich ein Video gesehen, in dem Oscar Peterson Synthesizer spielt. Für mich stellen sich da mehrere Fragen: Wie nutzen wir Klänge? Und auf welchen Wegen können wir mit ihnen Dinge von unendlicher Freude erschaffen? Das ist sowohl live als auch beim Aufnehmen möglich. Ich habe viel Sample-basierten HipHop gehört, das hat mich stark beeinflusst. Und Jazzplatten, die wiederum von HipHop-Künstler:innen gesamplet wurden. Weil ich in einer Jazz-Familie aufgewachsen bin, war diese Verbindung für mich offensichtlich: Alles ist miteinander verbunden. Als ich versuchte, diese Beats nachzuspielen, klangen sie einfach anders. Wie wird das gemacht? Genau – man manipuliert einen alten Sound, oder einen anderen Sound, und gibt ihm einen neuen Zweck. Das fand ich faszinierend: Vorhandene Sounds zu nutzen, um etwas Neues zu erschaffen.
Wie hat sich deine Arbeitsweise seit deinem 2016 auf International Anthem erschienenen Album In The Moment verändert?
Ich habe ein wachsendes Repertoire an Techniken, um Audiomaterial zu zerlegen, umzufunktionieren und neu anzuordnen. Dieser Aspekt hat sich weiterentwickelt. Ich zerlege Tracks frei Hand, zum Beispiel in der Arrangement-Ansicht. Dabei gehe ich den kompletten Track durch und schneide Samples raus, gebe ihnen Farbcodes und rearrangiere sie dann. Die Länge der Samples ist meist sehr unterschiedlich. Ich arrangiere und bearbeite sie neu, und dann komponiere ich eine kleine Collage mit verschiedenen live gespielten Elementen. Aus der Collage entsteht dann eine Geschichte, die ich formen kann. Oder ich nutze Push zum Zerlegen von Samples, die ich dann mit einem virtuellen Instrument re-interpretiere. Es gibt so viele Wege, Samples auseinanderzunehmen. Das ist natürlich auch in der Session-Ansicht möglich: Ich erzeuge verschiedene Clips, die ich dann arrangiere oder performe und so bearbeite, dass sie zum narrativen Kontext der Platte passen. Immer wenn ich eine Platte mache, erforsche ich das Aufnehmen neu – als ein anderes Tool zur Klangerzeugung.
Die Live-Sessions auf deinen Platten stammen aus verschiedenen Quellen. Bei deinem Mixtape Where We Come From hast du Aufnahmen deiner Chicago x London-Konzerte im britischen Total Refreshment Centre verwendet. Für deine Interpretation von Gil Scott-Heron’s I’m New Here auf XL hast du hingegen Jam-Sessions im Studio aufgenommen. Worauf kommt es dir an, wenn du Musiker:innen zusammenbringst, um ihre Sounds später zu samplen?
Es geht mir vor allem um die elektrisierenden Momente. Ich bin sehr gerne im Studio, aber es fühlt sich ganz anders an, wenn andere Leute dabei sind. Das verstärkt das Gefühl – und verändert die Stimmung. Das Studio wird zu einem komplett anderen Ort. Ich versuche immer, eine geerdete Atmosphäre zu schaffen: intim und nicht zuviel Tamtam. Die Musikschaffenden sollen sich beim Spielen wohlfühlen. Im Idealfall kann ich auf diese Weise einen Teil der musikalischen Magie einfangen, um sie später zu destillieren. Das Festhalten der Energie gehört einfach dazu – es geht nicht so sehr um die beste Aufnahme, sondern eher um flüchtige Momente, die sich nur selten einstellen.
Welche Klangquellen hast du auf deiner XL-Veröffentlichung genutzt?
Samples von den ersten drei Platten meines Vaters. Ich musste sie direkt vom Vinyl samplen, weil es sie in digitaler Form gar nicht gibt. Die Oldschool-Technik hat mir viel Spaß gemacht. Bei den Sessions waren Ben Lamar Gay, Jeff Parker und Junius Paul. Ich habe Wurly, Synthesizer und Bass gespielt. Es gab zusätzliche Sessions mit Greg Spiro am Klavier und Brandee Younger an der Harfe. Anschließend habe ich alles mit Ableton bearbeitet: Editing, Komposition, Klangmanipulationen und -schichtungen. Und kreatives Mixing. So mache ich Musik: Ich greife auf Kontakte zurück, buche Sessions und versuche herauszufinden, was die Musik braucht. Und dann gibt die Musik die Richtung vor. Ich mache immer viele Track-Versionen. Sobald die Stücke Form annehmen, entwickle ich eine Erzählung und erweitere sie durch kurze Interludes.
In den meisten Fällen spielst du selbst bei den Sessions mit. Dabei folgst du natürlich dem Flow des Zusammenspiels. Aber denkst du auch gleichzeitig daran, dass die Session eine Sample-Quelle ist?
In gewisser Weise schon. Ich fühle mich dafür verantwortlich, die Sessions sozusagen zu managen. Das begann bei einer Reihe von Gigs, die wir in Chicago hatten – die Reihe Spontaneous Composition, wo Musiker und Musikerinnen zwei 45-minütige Sets spielten, die wir dann aufgenommen haben. Aus diesem Material ist In The Moment entstanden. Wir haben frei gespielt, aber ich wechsle gerne den Groove und versuche, andere Räume zu finden. Und ich weiß immer einen Weg, um das Stück mit einer hohen Note zu beenden.
Beim Improvisieren gibt es so viele Ebenen. Improvisation kann nicht-idiomatisch sein: Dann abstrahieren wir traditionelle Sounds oder Rhythmen und koppeln sie von der Zeitebene ab. Improvisation kann eine Jam-Band sein. Oder geradeaus gespielter Jazz, bei dem über einen Loop improvisiert wird. Bei Letzterem gibt es eine zyklische Struktur: AAB. Eine wiederkehrende Form eines Loops und einen Beat, der immer weitergeht. Die Musiker:innen können Soli spielen und das Stück kann endlos weitergehen. Das ist ein zyklisches Format, bei dem alles miteinander verbunden ist. Wenn ich vor einem Publikum improvisiere, versuche ich immer, eine bestimmte Richtung beizubehalten. Ich moderiere die musikalische Konversation ein bisschen und achte auch darauf, dass das Stück nicht ausufert. Ich halte die Dinge lieber in Gang, als mich zu lange an einzelnen Ideen festzuhalten. Beim Improvisieren finde ich es wichtig, dass es ein Element der Freiheit gibt. All das macht die Session interessanter für das Sampling. Und es ist nicht so wichtig, auf den Punkt zu spielen.
Ich frage mich, ob die Improvisation für manche Leute mit Vorurteilen behaftet ist. Was würdest du antworten, wenn jemand sagt, dass die Improvisation nur für ein Avantgarde-Publikum geeignet ist?
Diese Denkweise ist mir sehr fremd. Für mich ist Improvisation gleichbedeutend mit dem Leben – wir improvisieren alle. Wenn jemand sagt: „Ich kann nicht improvisieren“, finde ich das merkwürdig. Wir improvisieren alle – jeden Tag und jede Sekunde.
Auch jetzt, bei unserem Interview...
Ganz genau. Wir bemühen uns um Ordnung und einen Zeitplan, um das Chaos einzuschränken. Bei der Jazz-Improvisation ist es genauso, in Abhängigkeit von Stil und Tonart. Improvisation bedeutet nicht, dass man einfach macht, was man will. Beim Spielen bewegen wir uns in einer Form – wir richten uns nach einer Tonart, einem Rhythmus, einem Stil oder einem bestimmten Sound. Wir spielen in derselben Tonart wie unsere Mitspielenden. Selbst wenn wir die Musik vom Blatt spielen, ist der Tonfall oder die Intention an den jeweiligen Moment gebunden – und auch darin liegt bis zu einem gewissen Grad Improvisation. Ich würde behaupten, dass alle Musikschaffenden improvisieren – das ist Ausdruck des Lebens und kann in jeder Stilrichtung erfolgen. Denn Improvisation ist keinesfalls nur auf den Jazz begrenzt.
Eine ganz andere Frage: Wo befindet sich dein Studio?
Bei mir zuhause in Chicago. Es geht eine offene Treppe runter und dann in einen großen und ziemlich vollgepackten Raum. Das ist der Eingangsbereich – mit Sofas, einem Kinderschlagzeug, mehreren Samplern, Musiknoten, einem Percussion-Rack und Postern von Festivals, auf denen ich seit meinem 15. Lebensjahr spiele. An der Wand lehnen Drums. Dann kommt der nächste Raum – ungefähr 4,5 x 3,5 m, aber eigentlich groß genug. Auf meinem Klavier steht ein Roland Juno-60. Außerdem gibt es dort ein Drum-Kit und einen akustischen Bass. Alles ist ein bisschen chaotisch. Auf meinem Rhodes steht ein Akai-Sampler. Dann die Bass-Ecke mit meinem Bass-Amp. Daneben ein Holzxylophon auf einer Klavierbank, schmutzige Klamotten, ein weiterer Sampler und ein Keyboard-Rack mit dem Wurlitzer – wahrscheinlich mein Lieblingsinstrument. Und obendrauf: ein Minimoog. Außerdem ist dort noch ein Tisch mit einem 20-30"-TV-Bildschirm, der an meinen Laptop angeschlossen ist. Studiomonitore, noch mehr Sampler und eine Studio-P.A. Ich habe auch Mikrofone. Kurzum: Alles, was man zum Proben und Aufnehmen braucht. Und keine Ecke ist ungenutzt.
Du hast an der Uni an Ableton-Workshops teilgenommen. Gab es in deinem früheren Leben etwas Ähnliches? Wo bist du hingegangen, um neues Wissen aufzusaugen?
Ich habe in vielen verschiedenen Bands gespielt und mich für jede Art von kreativem Schaffen interessiert. Während meiner Anfangszeit in Chicago habe ich dann Beat-Communities besucht, zum Beispiel im [inzwischen geschlossenen Club] Morseland. Dort gab es einen Beat-Abend, bei dem alle möglichen Musiker:innen reingeschneit kamen – das war eine richtige Community. Ich bin da einfach hingegangen, um Musik zu hören.
Wie hast du damals Musik gemacht? Und auf welche Fragen hast du Antworten gesucht?
Ich hatte ein paar Sequenzer, mit denen ich rumgespielt habe. Dann habe ich mich in einem Studio mit dem Editing vertraut gemacht. Ich saß mit dem Toningenieur, der mit ProTools arbeitete, auf der Couch und fragte ihn alles, was ich wissen wollte. Meine ersten Beats entstanden mit einem Line 6-Pedal – ich habe einfach Vinyl-Samples geloopt und mit meinem Computer aufgenommen. Später habe ich dann Reason und Ableton auf dem Computer meines College-Zimmergenossen kennengelernt und mit Samples experimentiert. Mit Ableton Live habe ich schon ziemlich früh losgelegt – ich war fasziniert. Ich fand es toll, dass sich die Software als normale DAW nutzen lässt, aber gleichzeitig die Session-Ansicht hat. So nimmt man die Musik immer zyklisch wahr. Für mich ist das ein großer Unterschied: Ich kann die Musik als zyklisch betrachten – als Loops, die endlos weitergehen können. Ich kann sie ändern und manipulieren und auf diese Weise performen: Live ist weit mehr als ein Aufnahme-Tool.
Wie gehst du bei neuem Equipment vor? Schaust du dir zuerst Tutorials an oder entdeckst du es lieber beim Spielen?
Ich spiele einfach drauflos und finde heraus, was ich damit anstellen kann. Natürlich schaue ich mir auch Tutorials an und durchstöbere Handbücher. Aber am liebsten tausche ich mich anderen Usern aus – virtuell oder persönlich. Wenn man etwas nutzen will, sollte man nichts unversucht lassen. Ich finde es wichtig, neues Equipment aus vielen verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und die Meinung von Leuten einzuholen, die mehr darüber wissen und es besser beherrschen als ich.
Es gibt eine wachsende Community hochqualifizierter Musikerinnen, die manchmal auch Produzentinnen sind – zum Beispiel Emma-Jean Thackray. Oder Nala Sinephro und Marysia Osu, die Harfe und Beatmaking kombinieren. Zur Zeit steht jazzverwandte Musik im Rampenlicht. Denkst du, dass daraus eine neue Generation von Produzentinnen und Produzenten hervorgehen wird, die ein hohes Maß an Musikalität aufweisen?
Diese Entwicklung kommt nicht von ungefähr, sie liegt schon länger in der Luft. Erst jetzt bekommt sie Aufmerksamkeit. Die Kultur rund um aufgenommene Musik – wie man sie macht, wer Zugang hat und was alles möglich ist – ändert sich ständig und entwickelt sich immer weiter. Es gibt jetzt mehr Raum, Nachfrage und Inklusion für diese Art von Musik. Das Publikum ist größer geworden, und mehr und mehr Menschen schließen die Lücke.
Erfahren Sie mehr über Makaya McCraven auf seiner Webseite.
Text und Interview: Emma Warren
Emma Warren ist die Autorin von Make Some Space: Tuning Into Total Refreshment Centre. Ihre neue Streitschrift Document Your Culture ist auf Bandcamp erhältlich.