âDunkleâ Musik erlebt in den letzten Jahren eine Renaissance. Erfolgreiche Acts wie Demdike Stare und Raime und Labels wie Modern Love oder Blackest Ever Black stehen fĂŒr eine neue Generation von Industrial und Dark Ambient, die den Pionieren der 70er und 80er Jahre einiges an Inspiration verdankt. Brian Williams alias Lustmord ist einer dieser Wegbereiter: Mit seinen atmosphĂ€rischen und weit gefassten Releases setzte der Industrial-Pionier damals den Rahmen fĂŒr das Dark-Ambient-Genre. Fast drei Jahrzehnte lang lag der Fokus auf Studio-Produktionen und Sound Design fĂŒr Film und Games, jetzt kehrt Lustmord als SolokĂŒnstler auf die BĂŒhne zurĂŒck. Wir sprachen mit ihm ĂŒber die versteckten Intentionen seiner Musik, Live-Improvisation und seine langjĂ€hrige Erfahrung mit Musiktechnologie.
Lustmord: Layer von Bedeutung
Dein neues Album heiĂt The Word As Power. Doch es sind keine verstĂ€ndlichen Vocals darauf zu finden.
Das ist Absicht: Ich versuche, mit meiner Musik etwas Zeitloses zu erschaffen. NatĂŒrlich ist Technologie ein Faktor, der Hinweise auf die Entstehungszeit geben kann. Doch meine Musik soll eine zeitlose QualitĂ€t haben â auch auf diesem Album. Es geht zwar um Worte, doch ich mag die Idee, keine konkreten Lyrics zu verwenden: Sobald man Lyrics einsetzt, geschieht das in einer konkreten Sprache. Trotzdem finden sich wie bei meinen frĂŒheren Alben genĂŒgend Hinweise darauf, worum es geht. Es gibt einen roten Faden und viele Bedeutungsebenen, in diesem Fall sogar mehr als sonst, nicht zuletzt ĂŒber das Artwork â Hinweise und SchlĂŒsselmomente, die den Weg weisen sollen. Doch die Interpretation ist letztlich dem Hörer ĂŒberlassen.
Gibt es auf der musikalischen Ebene deiner Alben versteckte Elemente?
Nicht auf allen Alben: Meine ganz frĂŒhen Veröffentlichungen sind ein wenig schlichter gehalten, doch selbst dort gibt es alle möglichen Elemente, die man leicht ĂŒberhört, weil sie sehr kurz sind oder im Hintergrund passieren. Manchmal sind sie auch ĂŒbereinander geschichtet, werden von einem bestimmten Instrument transportiert, oder es liegt eine besondere Bedeutung in einzelnen  KlĂ€ngen. Diese Bedeutung ist oft auch ortsgebunden: Ich habe schon frĂŒh besondere Orte aufgesucht, die in meiner Musik dann als Details und Layer wiederkehren. Es kommt mehr darauf an, sich mit den kleinen Dingen zu befassen als mit der groĂen Leinwand, denke ich.
Auf The Word As Power finden sich Tracks mit Namen wie âBabelâ oder âAndras Sodomâ, die explizit auf biblische Themen hinweisen. Spuren von heidnischer, satanistischer oder biblischer SpiritualitĂ€t durchziehen dein gesamtes Werk. Kannst du diesen Aspekt ein wenig erlĂ€utern?
Ich bin Atheist... Hardcore-Atheist. Das mit dem Satanismus ist lustig: Die âChurch of Satanâ buchte mich tatsĂ€chlich mal fĂŒr einen Auftritt, was ein HeidenspaĂ fĂŒr mich war. Auf dieses ominöse Konzert wird immer wieder hingewiesen. Doch ich habe auch schon in normalen Kirchen gespielt! DarĂŒber schreibt interessanterweise niemand.
Ich habe mich immer fĂŒr â in Ermangelung eines besseren Begriffs â religiöse, sakrale, rituelle und kultische Musik interessiert. Solche Musik neigt dazu, einen Fokus zu haben, den es anderswo nicht gibt â auĂer vielleicht im Blues. Doch Blues hat ja denselben Hintergrund, nennen wir ihn âSpiritualitĂ€tâ. Von sehr frĂŒher Chormusik ĂŒber die Sprechchöre des Orients bis zu asiatischer Vokalmusik gibt es all diese Layer von Bedeutung â hinter der Musik oder auf der höchsten Ebene. Das hat mich immer fasziniert und meine Musik inspiriert: All die Bedeutungsebenen, von denen die Leute nicht wissen, was sie sind â weil ich es nicht verrate. FĂŒr mich zĂ€hlt die Tatsache, dass es nicht ausgesprochen wird.
Wie hat sich dein Setup ĂŒber die Jahre verĂ€ndert?
Bei meinen ersten paar Alben besaĂ ich noch gar kein Equipment â ich habe mir immer alles ausgeliehen. Ich werde oft gefragt, welche Instrumente und GerĂ€te ich besitze und verwende, und gebe gerne Auskunft. Doch wenn es primĂ€r darum geht, dasselbe wie ich zu machen, sage ich: âWarte mal â es kommt nicht auf das Equipment an, sondern auf die Ideenâ. Wer gute Ideen hat, wird auch ohne Equipment zu interessanten Ergebnissen kommen. Wer dagegen haufenweise Equipment hat, aber keine Ideen, wird nur langweilige Musik zuwege bringen. Ich hatte zu Beginn keinen blassen Schimmer von Musiktechnik. Das erste Teil, das ich gebaut habe, war diese kleine Echo-Box, die ich zu einem Distortion-Modul umfunktioniert habe, das war ziemlich gut. Ich wusste nicht genau, was ich da machte, aber sch*** drauf: Punkrock!
Kurz darauf legte ich mir den EMS VCS-3 zu â mein erster Synthesizer. Die meisten Synthies sind ja teilweise darauf ausgelegt, wie eine Flöte, ein Chor oder eine Trompete zu klingen. Ich wollte einfach etwas haben, das Krach macht, und genau das konnten der EMS VCS-3 und der AKS hervorragend â LĂ€rm machen. Daraus kannst du machen, was du willst. Heresy, mein bekanntestes Album, nahm ich gröĂtenteils mit geborgter Technik auf. Damals hatte ich schon einen Sampler und einen Atari mit einem halben MB Arbeitsspeicher â nicht Gigabyte, sondern Megabyte, wohlgemerkt. Dazu hatte ich 0,5 MB-Festplatte, und alles war in 8 Bit
FĂŒr damalige VerhĂ€ltnisse war das eine ziemlich gute Sampling-QualitĂ€t.
Die maximal mögliche Sample-LĂ€nge war drei Sekunden oder so etwas. HĂ€tte ich damals dieselbe Technik wie heute gehabt, wĂŒrde die Musik vermutlich anders klingen. Aber es geht ja um die Workarounds. Wenn man kein dreistĂŒndiges Sample machen kann und kein Surround-Sound möglich ist, muss man eben Umwege finden.
Du spielst neuerdings wieder live, und öfter als jemals zuvor. 2006 war dein erster Gig  nach 25 Jahren BĂŒhnenpause, richtig?
Ja, das war in privatem Rahmen, nur mit Einladung. 25 Jahre Pause â das ist ziemlich cool!
Was brachte dich dazu, wieder hÀufiger aufzutreten?
Ganz am Anfang wollte ich noch Gigs spielen, doch ab dem Heresy-Album entwickelte ich meinen eigenen Sound. Der war unmöglich live aufzufĂŒhren: Das hĂ€tte mehrere Leute und einen Berg von Equipment erfordert. Mein Studio wurde zu einem Instrument, doch wie sollte ich das auf die BĂŒhne bringen? FĂŒr Kraftwerk wĂ€re das kein Problem gewesen, doch was macht man ohne groĂes Budget? Wie gestaltet man eine interessante Show, die das, was du machst, gut rĂŒberbringt? Im Grunde ist es ja so: Ein Typ schraubt ewig lange herum â manchmal kommen neue Sounds dabei heraus. NatĂŒrlich hĂ€tte es Mittel und Wege gegeben, live zu spielen, doch ich konnte mir kein interessantes Ergebnis vorstellen. Also wandte ich mich anderen Dingen zu, und die Jahre gingen ins Land. Ich zog nach L.A. und machte Sound Design fĂŒr Filme â im Schnitt acht Filme pro Jahr. Da blieb keine Zeit fĂŒr andere Dinge. Ohne es zu merken, hatte ich 10 oder 15 Jahre auf keiner BĂŒhne mehr gestanden.
Irgendwann fiel mir ein, âMist, ich mache das jetzt ja seit 25 Jahren, das muss gefeiert werden!â. Zur selben Zeit meldete sich die âChurch of Satanâ bei mir: âWir machen diese Veranstaltung, und wir wollen, dass du dort spielst.â Das klang nach einer lustigen Sache â ein echter âSpinal Tapâ-Moment, den ich mir nicht entgehen lassen wollte. Also sagte ich zu, hatte eine richtig gute Zeit und verwendete Ableton Live bei diesem Gig. Ich beschallte die âChurch of Satanâ, probierte Live aus und entdeckte dabei, wie viel ich improvisieren kann. Das war fĂŒr mich einfach wichtig: Ich wollte live spielen und nicht nur in mehreren Spuren auf den âPlayâ-Button klicken. Bei diesem Auftritt merkte ich, dass âLustmord liveâ tatsĂ€chlich funktioniert: Ich kann beim Spielen improvisieren, Dinge Ă€ndern und die Musik lebendig machen.
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Wie improvisierst du mit Live und den anderen Elementen, die du in deiner Musik verwendest?
In meinem Live-Set sind viele Audio- und Sampler-Spuren angelegt, dazu unzĂ€hlige Stereo-Spuren von Drones und Texturen sowie eine groĂe Menge an Samples. Weil ich so lange keine Konzerte mehr gegeben habe, nahm ich mir meine Sammlung von Multitrack-Aufnahmen vor und machte aus ausgewĂ€hlten Summenspuren eigenstĂ€ndige, aufgerĂ€umte Sounds. Ich spiele das Material nicht wirklich live, sondern beginne beispielsweise mit den Sounds eines Tracks von meinem dritten Album. Dann fĂŒge ich Elemente hinzu, die zehn Jahre spĂ€ter auf Platte erschienen sind.
Beim Improvisieren ĂŒberlege ich mir nicht, was ich als nĂ€chstes spielen werde, sondern lasse mich von meiner Stimmung leiten. Ich habe eine unfassbar groĂe Sammlung selbstkreierter Sounds mit Tausenden von Namen und Bezeichnungen, was dazu fĂŒhrt, dass ich manchmal gar nicht mehr weiĂ, welche Sounds dahinterstehen â âAh, ich denke, ich weiĂ, welcher Sound das istâ. Dann spiele ich ihn und merke, âHm, das ist was ganz anderesâ. Trotzdem kann es auf diese Weise funktionieren: Ich spiele einen Sound, finde einen interessanten neuen Weg und baue darauf auf. Falls sich wenig daraus entwickelt, bringe ich graduell weitere KlĂ€nge ins Spiel, um das StĂŒck in eine ganz andere Richtung zu lenken.
Bestimmte Elemente und Sounds kehren natĂŒrlich immer wieder, weil sie live gut funktionieren. Weil ich geschĂ€tzte 29 Jahre lang nicht mehr auf der BĂŒhne stand, haben die Leute das Material meiner ganzen Alben ja noch nie live gehört. Ich weiĂ, dass bestimmte StĂŒcke sehr bekannt sind, und spiele manchmal Sounds dieser Tracks an, um die Leute zum LĂ€cheln zu bringen â âAh, das kenne ich doch!â
Die âGreatest Hits...â?
Ja genau! (lacht)