Luke Sanger: Equipment als Werkzeug
Jede:r Musiker:in hat eine ganz eigene Herangehensweise an Musikequipment. Während so manche Musikkarriere komplett auf einem oder zwei Instrumenten aufbaut, geht es anderen Musikschaffenden, und so auch Luke Sanger, nicht um das Medium, sondern vor allem um das Endergebnis – gerade im Bereich elektronischer Musik führen schließlich immer mehrere Wege zum Ziel.
„Ich habe immer noch die akustische Gitarre, die mir mein Vater geschenkt hat, als ich ein Teenager war – und habe noch nie darüber nachgedacht, die wegzugeben”, erzählt Sanger im Rahmen eines Zoom-Interviews, „aber ich habe festgestellt, dass elektronisches Musikequipment für mich nur Mittel zum Zweck ist. Manche Teile bleiben, weil ich sie mag, aber ich werde auch oft Sachen aus einer Laune heraus los, um mir was anderes zu holen.”
Sanger ist ganz der Typ des omnivoren Musiknerds, verzweigte Wege führten den Musiker durch die Welt des Undergrounds elektronischer Musik: Als Luke’s Anger produzierte er verspulten Techno, als Duke Slammer verspielten Elektro, in letzter Zeit entdeckte er unter eigenem Namen und als Natsukashii experimentellere, langsamere elektronische Musik. Das Projekt basiert auf einem Low-Key-Kassettenrelease namens Driving East sowie auf musikalischen Experimenten, für die er ausschließlich den Open-Source-Synth Dexed nutzte. Mit dem Synth entwickelte der Musiker ganz eigene Spielarten elektronischer Sounds, während er gleichzeitig auf vielfältigste Studiomethoden zurückgriff, um seine restliche Musik für jenseits des Dancefloors zu produzieren.
Tracks, die es nicht auf Driving East schafften, wurden Teil einer Musiksammlung, die Sanger an Balmat schickte, ein neues Label des Musikkritikers Philip Sherburne und Albert Salinas vom Label Lapsus Records. Resultat der Zusammenarbeit ist Sangers letztes Album Languid Gongue – ein Projekt, dessen natürlicher innerer Zusammenhang in Anbetracht der Vielfalt der dafür verwendeten Mittel erstaunen mag.
Holen Sie sich hier das Live-Set von Sanger’s Track ‘Efflorescence’
Ableton Live 11 erforderlich
„In der ersten Unterhaltung mit Balmat ging es um Massen an Soundschnipseln, die bei der Produktion anderer Alben übrig geblieben sind,” erklärt Sanger, „dazu gehörte zum Beispiel unverwechselbarer, psychedelischer Elektro-Akustik-Kram, ein bisschen was vom Monome, ein bisschen Synth, ein bisschen Violine, ein bisschen Gitarre und die ganzen Sachen, mit denen ich experimentiert habe, dazu noch ein oder zwei FM-Synth-Tracks, die ich mit dem Dexed gemacht habe. Dass Philip, der als Journalist richtig viel Musik hört, diese Sounds durchging und Entscheidungen getroffen hat, die ich mir nicht mal hätte vorstellen können, machte mir Lust aufs Produzieren neuer Sounds.”
Ein Album nimmt Form an
Languid Gongue ist ein stimmiges Album voll von verschiedenen Spielarten elektronischer Musik ohne Beat. Zwar wurde die Platte ursprünglich als Ambient-Projekt angekündigt, eine ganze Reihe an rhythmischen, repetitiven und nach vorn gehenden Elementen lässt jedoch Zweifel an dieser Einordnung aufkommen. Viel eher kann die Musik auf Languid Gongue als warme, nahbare und experimentelle Elektronika bezeichnet werden, von West-Coast-Synths beeinflusst und durchzogen von wobbeligen Pitchs, verschobenen Taktarten und einer großen Fülle an Details. Am ehesten lässt sich die Platte vielleicht mit dem Bild von Ökosystemen und organischer Materie beschreiben. Das mag ganz unterschiedliche Formen annehmen; gemeinsam ist den Tracks aber, dass sie ihre eigenen Welten entstehen lassen, bevölkert von untereinander verbundenen Spezies, die so fantastische wie unvorhersehbare Muster aufleben lassen.
Neben vielen anderen Tools hatte das Equipment von Ciat-Lonbarde den größten Einfluss auf die natürliche, organische Energie des Albums. Nachdem er gemeinsam mit einem Freund während des Lockdowns sein komplettes Modularsystem auf den Kopf gestellt hatte, befasste sich Sanger mit den Möglichkeiten dieser durchweg besonderen Instrumente, und fügte ein paar seiner spontanen Experimente der Playlist hinzu, die er an Balmat schickte.
„Philip hat sich ein paar der wirklich merkwürdigen mikrotonalen Experimente ausgesucht, die ich mit den Sachen von Ciat-Lonbarde gemacht habe”, erzählt Sanger. „Diese Stücke richten sich sehr stark nach dem Equipment, weil man den Pitch nicht quantisieren kann. Sogar die Clocks darin sind komisch. Nachdem ich akzeptiert hatte, dass sie mich genauso spielten wie ich sie, kam ich ein bisschen besser mit ihnen zurecht, und habe damit kompositorische Möglichkeiten erschlossen, die sonst wohl unentdeckt geblieben wären. Ich fands echt gut als das Label sagte, man könne diese Experimente in die produzierteren Tracks einbauen – wie bei den alten Alben von Raymond Scott, auf denen erst Werbe-Musik kommt, dann ein Themen-Song aus dem Fernsehen, und dann ein Experiment mit sowas wie einem richtig primitiven Sequencer.”
Sangers Experimente mit Ciat-Lonbarde sind auf den Tracks Coco n Plums, Basic Lurgy und Fruity Textures zu hören. Dabei handelt es sich um eigensinnige musikalische Abschweifungen, die mit den harmonischeren Teilen des Albums brechen; wo sie auftreten, weicht der ebenmäßige Charakter der Musik einer faszinierenden Welt mikrotonaler Skalen. Obwohl Sanger, so gesteht er uns, mit alternativen Stimmungen vertraut gewesen sei, habe er das Ciat-Lonbarde-Equipment hier einfach nach Gehör gestimmt. Dabei habe er nach Frequenzen gesucht, die beim beim Halten nur einer Note rhythmische, psychoakustische Effekte erzeugten.
Retro-Futurismus
Die kurzen Tracks haben auf dem Album nicht nur narrative Funktion, sie lassen darüber hinaus merkwürdige und fremdartige Welten entstehen. Das mag an Scifi-Filme aus der Mitte des 20. Jahrhundert erinnern, deren Soundtracks normalerweise aus frühen Synth-Experimenten bestanden, für die die Geräte ähnlich flexibel gestimmt wurden. Und natürlich gibt es noch andere Musiker:innen, die in ihrer Musik einzigartige Welten und Räume aufleben ließen, besonders im Bereich modularer Synthese. Als ein Beispiel nennt uns Sanger nennt das im letzten Jahr erschienene Album Aphasic Forest von Lee Evans. Auch Evans Label-Kollege Tristan Arp nutzt derartige Methoden, hochgelobte Künstlerinnen wie Kaitlin Aurelia Smith und Emily A. Sprague erwecken mithilfe technischer Systeme komplexe musikalische Organismen zum Leben.
Ein Track from Lee Evans Aphasic Forest – Inspiration für Luke Sanger
Zoom auf den Sound
Nachdem Balmat ihm seine erste Rückmeldung gegeben hatte, begann Sanger mit der Produktion weiterer Sounds, die dem Album Form geben sollten. Bei der Arbeit mit seinem eigenen, auf dem Make Noise Shared System aufbauenden modularen Setup zog er zunächst jedes einzelne Kabel raus und verband dann jedes mal alles neu, um zu sehen was passierte.
„Es gibt da so gewisse Fallen, in die ich aus Gewohnheit tappe, zum Beispiel den Reverb und Delay am Ende der Kette zu haben”, erläutert Sanger. „Es ist immer interessant, mit dieser Gewohnheit zu brechen, aber ich komme mit [meinem System] echt schnell dahin wo ich will. Wenn ich mit Ansätzen arbeite, bei denen es mehr um natürliche Organismen geht als um lineare Komposition, versuche ich an Makro und Mikro zu denken. Was auch immer ich verkable, ich will dabei das hauptsächlich treibende Elemente des Sounds über mikroskopischere Versionen schichten – so, als würde man die ganze Welt aus dem All betrachten und dann bis zu den Ameisen zoomen. Die Idee wurde von Curtis Roads Microsound-Buch beeinflusst.”
Derzeit wichtige Quelle technischer Inspiration ist für Sanger neben einem Eurorack-Modularsystem sein Monome-System. Monome, eine Firma mit Ursprüngen im Bereich Raster-basierter Sequenzer-Controller, stellt heute auch Produkte rund um Norns her. Dabei handelt es sich um ein flexibles System, auf dem Scripts laufen, die verschiedenste musikalische Aufgaben ausführen können. Dank einer lebhaften Community von Usern, die frei erhältliche Skrips herstellen, wurde daraus schnell ein eigener kleiner Mikrokosmos der Musik-Technologie. Der Track Mycellium Networks auf Languid Gongue begann als ein Norn-basiertes Experiment mit einem Looper. Das von Sanger entwickelte Skript ist für Norns-User:innen hier erhältlich.
„Es gibt viele sehr nette Leute in der Norns-Community, die einen großen Teil der harten Arbeit übernommen haben und wirklich coole Skripts machen,” erklärt Sanger. „Was ich quasi als Programmierer mache, ist daran rumzubasteln oder bereits vorhandene Teile davon zu ändern. Besonders gut sind [Norns] für DSP-Verarbeitung, Looper und sowas. Ich habe einige Looper auf Mycellium Networks richtig viel genutzt, habe mit einer Blues-Akkordfolge und einem FM-Synth gejammt, und habe dann diese sehr außergewöhnlichen Looper genutzt, um das ganze wieder zu loopen, darüber zu spielen und es dann in Live aufzunehmen. Dann beginnt das puzzeln, ‘wie krieg ich daraus was, was ein bisschen zusammenhängender ist?’ Manchmal funktioniert das nicht, manchmal aber schon.”
Live als Leinwand
Alle Experimente, die zu Languid Gongue beigetragen haben, endeten in Live, wo Sanger sie final bearbeitete. Mal nutzte er Live nur für eine Stereo-Aufnahme aus seinem Mixer, mal setzte er hier einzelne Elemente zu einem großen Ganzen zusammen. Komplett in Live entstand etwa das Herzstück des Albums, der Track Yoake, für den Sanger mit dem erwähnten Open-Source-Synth Dexed arbeitete. Das kostenlos verfügbare Plug-in basiert auf dem ikonischen Yamaha DX7 – einem Synth, der dafür bekannt ist, besonders schwer programmierbar zu sein. Yoake entstand im Zuge des Natsukashii-Albums und kann als Antwort auf japanische Ambient-Musik der frühen 80er Jahre gelten; Künstler:innen wie Hiroshi Yoshimura etwa arbeiteten häufig mit dem cleanen und klaren Sound des DX7.
„Ich finde Tracks wie Yoake ziemlich geradlinig planbar, weil sie auf pentatonischer FM-Synthese beruhen,” erklärt uns Sanger. „Ich kann den DX7 so direkt hören, dass ich darüber nachdenke, wie ich das Projekt angehe und dann ein paar Spuren Dexed drauflege – eine für den Bass, eine für Akkorde und eine für die Melodie. Hinsichtlich der Komposition ist das wahrscheinlich der am wenigsten ungewöhnliche [Track] auf dem Album.”
Der Dexed mag nicht so herausfordernd sein wie die Bedienoberfläche eines originalen DX7, dennoch stellt der Synth Menschen ohne viel Vorerfahrung vor Herausforderungen. Sangers Erfahrung im Bereich der FM-Synthese reicht aus, um ein gutes E-Piano von Grund auf zu bauen – dennoch spart sich der Musiker die stundenlange und mühsame Arbeit gern. Patches, wie etwa für ein ideales Kalimba, sucht er sich aus dem Internet, um sie dann an seine eigenen Bedürfnisse anzupassen. Glücklicherweise arbeitet Dexed dabei mit originalen DX7-Patches – besonders für ein kostenfreies Plug-in sind die klassischen Sounds dadurch relativ einfach verfügbar.
Passing Sines
Passing Sines, ein kürzlich auf Apache Music veröffentlichtes Stockmusik-Album, ist neben Yaoke ein weiteres gutes Beispiel für Sangers Arbeit mit der DAW. Zwar wird das Album als „analoge Ambient-Entdeckungsreisen mit modularem Synth” beschrieben, tatsächlich wurden viele der Tracks aber zu großen Teilen mit Live 11’s Inspired By Nature für Max for Live produziert. Die neuen Instrumente und Effekte bilden eine Brücke zwischen Sangers Arbeit mit Hardware und Software; sie ermöglichten innerhalb der DAW experimentelle Arbeitsweisen, die ihm sonst eher analoge Synths boten.
„Ich glaube, ich gehe mit Live und mit externem Equipment gerade ziemlich ähnlich um,” überlegt Sanger. „Ich benutze alles ziemlich experimentell, verfahre mit den Plug-ins, wie ich es auch mit Modulen oder Modular-Synths tun würde. Für mich, jemanden der Live seit der ersten Version benutzt hat, noch bevor es MIDI hatte, fühlt es sich an als würden sie die Zeiten auferstehen lassen, als Live eher ein experimentelles Tool war als eine vollumgängliche DAW. Der Großteil der Tracks auf Passing Sines entstand mit den neuen Live-11-Tools aus Ausgangspunkt. Eleven Ways ist das eindeutigste Beispiel dafür, [der Track] nutzt die neuen Drone-Funktionen als Hintergrund, dann das Bouncy-Notes-Plug-in, um den Vector-FM-Synth zu triggern, mit ein paar neuen granularen Effekten und Delay dazu. Ich habe weder die Timeline noch BPM fürs Sequencing genutzt, ich habe Sachen nur rein- und rausautomatisiert, wenn es sich richtig angefühlt hat.”
Vertraute Stimmen
Es spricht für Sangers, dass er trotz so vielfältiger kreativer Ansätze eine konsistente musikalische Identität aufgebaut hat – Passing Sines hinterlässt ähnliche Eindrücke wie seine Arbeit auf Languid Gongue, obwohl er das Album auf Balmat noch vor dem Live-11-Release fertiggestellt hatte. Insbesondere seine Synth-Stimmen haben eine ganz eigene Qualität, der Pitch scheint zu flattern, die Noten gleiten in Kaskaden, erinnern an Perlen. Sie wurden unverkennbar mit FM-Synthese produziert, und wie Sanger uns erzählt, entstammen große Teile der Synth-Stimmen von Languid Gongue derselben Quelle.
„Ach, ja, das ist eins der Geheimnisse des Albums”, lacht Sanger. „Der [Elektron] Digitone ist eine der Haupt-Synth-Stimmen und kommt auf vielen Tracks vor, aber sogar hier habe ich mit dem Norns gespielt, geloopt und wieder mit dem Sequencer bearbeitet. Dieser wabernde Sound hingegen ist einfach ein Patch, das ich ansteuere. Es ist echt einfach, einen FM-Patch auf dem Digitone komplett von Grund auf aufzubauen. Die machen das im Vergleich zum Dexed so einfach, das muss von einem Musiker gebaut worden sein.”
Tunes, nicht Tools
Wenn so viele verschiedene Ansätze in einen Prozess einfließen, kann eine konsistente Synth-Stimme das Element sein, das ein ganzes Projekt zusammenhält. Auf Languid Gongue ist diese wiedererkennbare Figur die Stimme des Digiton: Sie webt sich durch all die musikalischen Landschaften, die ursprünglich als fragmentierte Sammlung von Schnipseln aus anderen Projekten begonnen hatten. Wo der Raum zwischen DAW, Plug-ins, Systemen, Stimmen, Effekten und Mischpulten verwischt, wird alles modular und kann miteinander verbunden werden, ohne verkürzten Vorstellungen darüber zum Opfer zu fallen, was erlaubt ist und was nicht. Wenn die Grenzen zwischen den verschiedenen Tools und ihren Funktionen unscharf werden, verschwimmt auch die Vorstellung davon, was eigentlich als „authentisch” gelten darf – eine Frage, die Sanger scheinbar ohnehin nicht beschäftigt hält.
„Es gibt offensichtlich einen Trend unter elektronischen Musiker:innen, sich über ihr Equipment zu definieren, sich ‘Modularsynth-Künstler:in’ zu nennen oder ein Album mit den Tools anzukündigen, die dafür benutzt wurden,” erklärt er. „Das erzeugt dann bei den Hörenden schon gewisse Annahmen, bevor sie überhaupt die Musik gehört haben. Das Tolle an der schieren Unendlichkeit der Möglichkeiten, Audio-Tools zu verbinden, ist dass man ganz einfach selbst entscheiden kann, wie man DAWs, Plug-ins, Hardware, Module, Tonabnehmer, Kontaktmikrofone, akustische Instrumente, Mikrofone kombiniert, um etwas einzigartiges zu erschaffen.”
Hinter den Interfaces und Systemen stehen laut Sanger fundamentale jedoch musikalische Themen, die mehr Aufmerksamkeit verdienen als das verwendete Equipment.
„Je mehr man versteht, wie Dinge kompositorisch funktionieren, desto mehr wird man etwas Hörbares bekommen,” argumentiert er, in seinem Ton wird der musikpädagogische Hintergrund des Künstlers deutlich. „Ich glaube, Leute tappen schnell in die Falle, wenn sie sagen ‘Ach, ich mochte Computer wegen der ganzen Plug-ins nicht, also bin ich auf modular oder DAW-frei umgestiegen’, eigentlich machen sie damit aber nichts besser. E stellt viele gute Sachen aus dem Internet in den Schatten, dass Leute mit ihrem Equipment angeben wollen. Und das ist auch okay, aber es macht es auch ein bisschen schwieriger, die gute Musik zu finden.”
Text und interview von Oli Warwick
Mehr Infos und Neuigkeiten zu Luke Sanger finden Sie auf seiner Website, Instagram and Soundcloud.