Lucrecia Dalt: Das cineastische Ohr
Die ideale Arbeitsumgebung für Musiker ist frei von Umweltreizen, so die landläufige Meinung. Und tatsächlich sind manche von uns sehr darum bemüht, sich von visuellen, akustischen oder andersartigen Ablenkungen zu isolieren. Dahinter steht eine einfache Rechnung: Je weniger von „außen“ kommt, desto mehr lässt sich von „innen“ zutage fördern. Aber was, wenn Musiker diesen Zusammenhang einfach auf den Kopf stellen und einen konstanten Strom audiovisueller Reize in ihre Arbeit einfließen lassen? Genau das hat die Produzentin und Songwriterin Lucrecia Dalt beim Aufnehmen zweier demnächst erscheinender Releases gemacht. Vor kurzem zog sie nach Berlin und nahm dies zum Anlass, ihre Neugier auf die Stadt und ihr Interesse an Filmen in einer unorthodoxen, doch sehr ergiebigen Kompositionstechnik zu vereinen. Dalt verwandelte ihr Studio kurzerhand in einen Vorführraum und ließ sich von den Bilderwelten, Sounds und Stimmungen des Neuen Deutschen Films inspirieren – wohlgemerkt nicht in ihrer Freizeit, sondern parallel zum kreativen Prozess.
Dalt erzählt, wie ihre Kompositionstechnik entstanden ist:
Mit meinem Album Syzygy hat sich alles verändert. Für mich konnte eine kreative Umgebung nur noch dann inspirierend sein, wenn sie übersättigt war und viele divergierende Informationen lieferte – aufgeklappte Bücher, Filme auf dem Bildschirm, Straßenlärm durchs offene Fenster und Musik von anderen Leuten. Die Geräusche meines Mitbewohners beim Musikmachen, beim Sex und beim Schlafen. All das oszillierte im Kopf und ich musste es in meine Musik einblenden, um voranzukommen. Diese Cluster von zufälliger Information führten zu interessanten Unfällen, aus denen neue Arbeitstechniken entstanden. Die spannendsten Momente erlebte ich aber bei der Interaktion mit Filmen. Beim Aufnehmen ließ ich sie stumm laufen und drehte den Ton gelegentlich kurz auf, parallel zu den Spuren, mit denen ich gerade beschäftigt war. Diese unwillkürlichen, kurzen Sounds funktionierten wie Weichen – wie Saatgut für plötzlich mögliche Melodien. Mit dieser Technik habe ich in meinem letzten halben Jahr in Barcelona angefangen. Als ich nach Berlin zog, konnte ich diese Arbeitsweise dank des Musicboard-Stipendiums weiterentwickeln und die komplexe emotionale Dynamik beim Filme-Schauen und Musik-Produzieren genauer erforschen – einfach um zu sehen, wohin das führen würde. Für das deutsche Kino habe ich mich aufgrund meines neuen Lebensumfelds entschieden. Auf diese Weise sind meine zwei nächsten Releases entstanden: eine selbstbetitelte EP, die im Oktober bei Other People erscheint, und eine LP auf dem Label Care of.
Kannst du ein konkretes Beispiel dafür nennen, wie die Filmrezeption zum Bestandteil eines Songs wurde?
„Paralela“, der Opener der LP auf Care Of – beim Aufnehmen lief „Der Rosenkönig“ von Werner Schroeter. Ich machte den Filmton nach eine Weile aus. Um mein Klanggedächtnis zurückzusetzen, hörte ich etwas anders und begann anschließend eine neue Komposition – orchestrale Sounds aus dem OP-1, die ich mit dem Effektpedal Moog Murf zu einer Akkordfolge erweiterte. Dabei ließ ich mich von den theatralischen und überfrachteten Bildern des Films inspirieren. Die Stunden vergingen. Ich verglich meine Aufnahme mit dem Sound des Filmanfangs und stellte fest, dass er das Element war, das die Struktur meiner Aufnahme bestimmen würde. Sowas funktioniert nicht immer, aber in diesem Fall hat es geklappt.
Hatten die Filme etwas gemeinsam, vom Land ihrer Herkunft mal abgesehen? Hast du die Filme in irgendeiner Weise manipuliert, zum Beispiel manche Ausschnitte geloopt?
Das nicht, ich ließ die Filme auch nicht immer von Anfang an laufen. Wenn die Filme sehr geschichtsträchtig waren, legte ich auch mal eine Pause ein und schaute einfach zu. Die einzige Gemeinsamkeit war vielleicht, dass ich mir Filme ausgesucht hatte, die mir Raum zum Arbeiten ließen. Auf der ästhetischen Ebene waren die Filme sehr unterschiedlich. Natürlich war meist das Moment der Angst enthalten, aus offensichtlichen Gründen. Konflikte zwischen privater und öffentlicher Sphäre, Welten am Rand der Katastrophe bzw. andere Welten, die genau an dieser Stelle errichtet werden wollten. Es ging um das Bedürfnis, über die Metapher oder das Ritual eine Parallelwelt entstehen zu lassen.
Wie bist du mit der klanglichen Ebene der Filme umgegangen? Wanderten Dialoge oder Filmmusik direkt in deine Kompositionen? Oder war die Inspiration eher indirekt?
Ja, ich habe Samples verwendet – manche ließ ich unverändert, andere schickte ich durch mein Murf-Pedal (oft sogar mehrmals). Es machte mir großen Spaß, die Dialoge zu „murfen“ und in Rhythmen und Texturen zu verwandeln. Beim Großteil der Lyrics ließ ich mich von den englischen Untertiteln leiten.
Was hast du bei diesem kreativen Prozess gelernt?
Dass es sehr knifflig ist, aus Zufällen eine Methode zu machen.
Und was hast du über deutsche Filme in Erfahrung gebracht?
Ich habe tolle Entdeckungen gemacht: „Unter dem Pflaster ist der Strand“ von Heike Sander (wenn ich nur wüsste, von wem der fantastische Soundtrack stammt). Oder die filmischen Exzesse von Werner Schroeter und seinen Filmfiguren – Magdalena Montezuma, Carole Bouquet. „Die Parallelstraße“ von Ferdinand Khittl – ein umwerfender Film. Alexander Kluge, Margarethe von Trotta, Gudrun Ensslin, Heiner Goebbels, Cassiber, Oscar Fischinger, Hans Richter. Und ich denke (hoffe), dass mein Deutsch etwas besser geworden ist.
Sehen und hören Sie mehr von Lucrecia Dalt
Hören Sie den Track „Esotro“ von Lucrecia Dalts neuer EP auf Other People