Los Guaqueros: 100 Jahre Sampling
In einer früheren Ausgabe unserer Sounds in Context-Reihe haben wir Ihnen The Meridian Brothers vorgestellt: ein Projekt, das in der lebhaften Underground-Musikszene von Bogotá, Kolumbien Tradition und Modernität kombiniert. Im selben Netzwerk von Künstlern, Produzenten und DJs sind auch Mario Galeano Toro und Mateo Rivano aktiv. Sie spüren vergessene Vinyl-Schätze und Wurzeln der kolumbianischen Musik auf, während sie die moderne Musikszene um selbstentwickelte Rhythmen und Stilistiken bereichern.
Die Vielfalt der Projekte, an denen Mario Galeano Toro und Mateo Rivano zusammen oder solo beteiligt sind, ist verwirrend. Unter anderem zählt dazu Ondatropica, eine jazzige Mélange aus karibischer Musik und Afrobeat:
Frente Cumbieros elektronisch erweiterte Vinyl-Archäologie:
Und sogar der kantige Surf Punk von Los Pirañas:
Mit ihrem Projekt Los Guaqueros („Die Plünderer”) wurden Galeano Toro und Rivanosie vor Kurzem dazu eingeladen, am Pop 16-Festival teilzunehmen, das zu Ehren von 100 Jahren aufgenommenem Sound und der Geburt der Popkultur stattfand. Doch wie ließe sich so viel Musikgeschichte und -evolution in einer einzigen Arbeit zusammenfassen? Los Guaqueros entschieden sich für eine sinnestäuschende audio-visuelle Darstellung der Entwicklung verschiedener Stilrichtungen und Merkmale der kolumbianischen Musik, eingerahmt vom sozialen und politischen Kontext der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts.
Das 45-minütige Stück „La Tragedia Rustica“ verbindet Samples verschiedener früher Musikaufnahmen aus Bogotá und ethnomusikalische Field Recordings – allesamt in Echtzeit via Ableton Live verwoben und von einer animierten Sequenz begleitet, die von Rivano (einem gefeierten kolumbianischen Straßenkünstler) live manipuliert wird. „La Tragedia Rustica“ ist eine einzigartige Erforschung der Musikgeschichte Kolumbiens – eine verblüffende, kaleidoskopische Collage von Sounds, Fotografie, Film und Animationen, die pythoneske Verspieltheit und nüchtern-archivarisches Bildmaterial kombiniert.
100 Jahre ist eine sehr lange Zeitspanne. Welche Herangehensweise habt ihr euch für dieses Projekt überlegt?
Mario: Mateo und ich sammeln zwar seit vielen Jahren Schallplatten, doch 100 Jahre aIte Schallplatten sind sehr schwer zu finden. Wir mussten also herausfinden, wann etwas aufgenommen wurde, von wem etwas aufgenommen wurde und so weiter – wir haben versucht, Beispiele für die Musik zu entdecken, die wir in das Stück einbauen konnten. Wenn man in den staatlichen Bibliotheken nach Samples sucht, sind sie schlecht katalogisiert und es gibt kaum Informationen darüber. Schließlich nahm ich Kontakt zu einem Spezialisten für diese Zeit auf – er konnte uns mit einigen der gesuchten Samples versorgen.
Mateo: Wir wussten überhaupt nichts über diese Zeit. Kolumbien ist in dieser Hinsicht schwierig – es gibt keinerlei Dokumentation. Für die visuelle Komponente suchte ich in Bibliotheken nach alten Zeitungen aus dieser Zeit. Die Qualität der Fotos ist nicht gut, da es Fotokopien der Originale sind. Also musste ich diesen Aspekt in die Arbeit integrieren, und legte damit ihre Ästhetik fest.
Hattet ihr Zugang zu Schellack- oder 78-RPM-Platten?
Mario: Es war unmöglich, Musik zu finden, die vor den 1930er Jahren entstanden ist. Die Schallplatten der 1910er und 20er sind viel zu rar. Deshalb musste ich verwenden, was bereits digitalisiert war – das meiste war sehr schlecht konvertiert. Aus geschichtlicher Perspektive fand ich es sehr interessant zu sehen, wer die Aufnahmen gemacht hat, wie der Vorgang aussah und wie das Equipment nach Kolumbien gelangt ist.
Die ersten Aufnahmen wurden von kolumbianischen Komponisten gemacht, die nach Camden in New Jersey reisten, um dort aufzunehmen. Sie hießen das Internationale Orchester und spielten Kompositionen aus ganz Amerika. Später gab es ein portables Aufnahmegerät, das 1913 nach Bogotá gebracht wurde – wir fanden heraus, dass mit dieser Maschine 60 Songs aufgenommen wurden. Wir konnten nur fünf oder sechs davon ausfindig machen, die übrigen blieben verschollen. Dass es 60 Songs waren, wissen wir nur wegen der Kataloge von von Brunswick and Victor, die in den 1970er und 80er Jahren zusammengestellt wurden. Damals nahmen kolumbianische Komponisten hauptsächlich Stilrichtungen aus dem Landesinneren auf, etwa Bambuco oder Pasillo aus Bogotá und Medellin – es gab nur wenige Sounds von der Küste.
Die Komponisten, die nach New York gegangen waren, nahmen populäre Musik auf – im Bambuco- und Pasillo-Stil oder eigene Kompositionen, die mit einem Orchester eingespielt wurden, arrangiert für Geigen und Klarinetten. Die Ensembles klangen sehr kontrolliert – nicht sehr folkig, eher klassisch, doch mit einem rhythmischen und melodischen Elementen der Folklore.
Mateo: Damals gab es in Kolumbien (genau wie anderswo auch) eine starke Trennung zwischen populärer und akademischer Musik. Akademische Musik wurde als kultiviert angesehen, während die Folkmusik etwas für die armen Leute war. In Bogotá wollten sie sie auf eine Weise interpretieren, die die Elite anspricht.
Wie weit in die Vergangenheit führten euch eure Forschungen?
Mario: Gleich zu Beginn wurde uns klar, dass wir weit zurückgehen müssen – es ging zwar um die 1920er Jahre, doch wir mussten weitere 40 Jahre zurückgehen und fanden schließlich Material aus der Zeit, als Kolumbien unabhängig wurde. Natürlich keine aufgenommene Musik, doch Informationen über die Bedeutung der Folk-Stile für die Bildung der Nation. Der Bambuco, einst der nationale Stil, hatte seinen Ursprung in der schwarzen Community Südkolumbiens und stand in Beziehung zu den Unabhängigkeits-Guerillas und dem Kampf zwischen den Spaniern und den Kreolen. Die Kreolen in Kolumbien sind die Nachkommen der Spanier, verstehen sich nach fünf Generationen aber nicht mehr als spanisch. Die Musik, die die Kämpfe auf Seiten der Kreolen begleitete, war Bambuco – er war gewissermaßen die Musik des Widerstands.
Die Kämpfe wurden gewonnen, die Musik verbreitete sich im Land, wurde in Bogotá, der neuen Hauptstadt, heimisch, und wurde zur Musik der neuen Regierung. Bambuco wurde zum institutionalisierten Elite-Ding, hat aber diese Wurzeln. Wir fanden Zeitungsartikel aus der Zeit um 1900 herum, die davon handelten, wie schockiert manche Leute darüber waren, dass Forscher die Musik auf afrikanische Wurzeln zurückführten. Inzwischen war es 100 Jahre später, die Musik klang sehr elegant und wurde in Gesellschaftsschichten gehört, die die wahren Ursprünge der Musik nicht anerkennen wollten.
Mateo: Zur selben Zeit gab es eine Gruppe von Leuten, die sich für populäre Musik interessierten, sie aber sehr exotisierend betrachteten. Sie konnten nicht an den Amazonas reisen, um zu sehen, was die Indianer spielten, also stellten sie es sich vor und erfanden etwas Neues.
Die Art und Weise, wie Musik rekontextualisiert wird – seht ihr eine Parallele zu manchen Projekten von euch?
Mario: Das ist ein guter Weg, es auf die Gegenwart zu beziehen. Nun, da wir diese europäische Technologie nutzen – Computer und Software – für uns war es immer eine konzeptuelle Auseinandersetzung zwischen lokal und global, das ist in den letzten drei-, vierhundert Jahren passiert. Und manchmal vergessen wir, dass es noch viel länger geht.
Vor hundert Jahren ging es darum, der Musik mit Geigen und Klarinetten eine Kultiviertheit zu geben, und wir versuchen etwas Neues – nicht Kultiviertheit im Sinne von Bestätigung des Stils, aber wir nutzen Tools, die es damals noch nicht gab.
Mateo: Mich hat der grafische Stil dieser Zeit sehr interessiert, und mit welchen Instrumenten er erschaffen wurde. Ich fand dieses Journal von 1907, das erste Kulturmagazin aus Bogotá namens Colombia Artistica, und die Grafiken waren toll – sie entstanden durch Schnitzen von Holz, Radieren mit hellen Farben und so weiter. Das wollte ich mit meinem Computer auf moderne Weise reproduzieren.
Für uns, Frente Cumbiero und Ondatropica sind dies tropische Stilrichtungen – Musik, um Leute bei Parties zum Tanzen zu bringen. Für dieses Projekt brauchten wir einen anderen Ansatz und Fokus – wir müssen die Leute nicht zum Tanzen bringen, sondern haben einen Kontext, in dem sich die Sounds und Visuals vermischen. Dabei wurde uns klar, dass manche dieser Stilrichtungen großes Potenzial besitzen, um Dance-orientiert interpretiert zu werden – vielleicht können wir das einen Schritt voranbringen.
Gab es für euch eine Verpflichtung, die Ergebnisse eurer Forschung zu dokumentieren? Oder war das Unternehmen komplett künstlerisch?
Mario: Es war eher eine offene Interpretation – wir haben nicht versucht, geschichtlich zu 100 % exakt zu sein. Auf musikalischer Ebene habe ich einen Mix entwickelt, den es in Wirklichkeit nicht gibt – das Bambuco aus Bogotá und Medellin wurde zu einem Ensemble von Saiteninstrumenten, mit Gitarre, Bandalo und einem zusätzlichen Cello.
Es gab keine Percussion-Ensembles, beispielsweise afrikanische Drums, die mit anderen Instrumenten aufgenommen wurden, also mischte ich diese Dinge zusammen, um eine falsche Folklore zu entwickeln. In diesem Fall nahm ich das Clave-Pattern als rhythmische Vorlage und fügte weitere Sounds hinzu, um einen Stil zu entwickeln, der zu jener Zeit gar nicht aufgenommen wurde.
Da die Idee für das Stück auf Sounds aus den 1910er und 20er Jahren aufbaute, stammte manches Klangmaterial von 100 Jahre alten 78-RPM-Schellackplatten. Mit dieser Lo-Fi-Qualität der Samples mussten wir arbeiten. Die Aufnahmen waren ziemlich verrauscht, mit vielen Knacksern und auf alle möglichen Arten digitalisiert – von hochwertigen Konvertierungen diverser Sammler bis hin zu schrecklichen MP3s, die wir im Internet fanden. Alle Aufnahmen hatten natürlich viele Knackser, Popp-Geräusche und Rauschen. Somit war die Verwendung von EQs die erste Stufe beim Versuch, das beste aus dem Klangspektrum herauszuholen. Ich nutzte dazu den EQ Eight mit manuellen Einstellungen für alle Parameter, um das beste Ergebnis zu erhalten. Zuweilen mutierte die Idee vollständig, nachdem der neue EQ einen neuen Aspekt des Samples offengelegt hatte. Die Aufnahmen waren außerdem mono, mit einem Mikro für die gesamte Band aufgenommen, deshalb nutzten wir oft nur den Anfang von Songs oder den Teil in der Mitte, wenn die Band stoppt und wieder loslegt.
Zum Rhythmus: In der kolumbianischen Musik wird häufig der 6/8-Takt verwendet. In manchen der frühen Songs der 1910er Jahre fehlt die Percussion, da die Musik hauptsächlich von gezupften Saiteninstrument-Ensembles gespielt wurde. Deshalb nutzte ich spätere Samples der 1960er Jahre, um die rhythmische Struktur zu unterstreichen, und bearbeitete sie nach Stilrichtungen, die Anfang des 20. Jahrhunderts wegen der Kluft zwischen Ethnien und sozialen Gruppen nicht aufgenommen wurden.
Mateo: Es war sehr schwierig, für die Visuals Material zu finden. Während jener Zeit gab es in Kolumbien nur eine Filmproduktion, und sie machten ein paar Spielfilme und Dokumentarfilme über Bogotá. Die Hauptarbeit war eine Collage von Fotografien, Zeichnungen und Film – ich habe alles vermischt.
Anscheinend gibt es heute eine Generation junger Musiker und Künstler, die ihr kulturelles Erbe in Lateinamerika erforschen wollen.
Mario: Für uns hat es mit dieser neuen Musikszene in Bogotá zu tun, zu der Bands wie die Meridian Brothers zählen – ein Kreis von vielleicht 100 Musikern, 20 Bands der Undergroundszene, die Folklore-Sounds reinterpretieren und neue Ansätze für Cumbia, Courau, Porro, Bambuco, Pasillo und einige andere Stilrichtungen suchen, die über mehrere Musikergenerationen in Vergessenheit geraten sind – zumindest bei der vorigen Generation, die ausschließlich auf Rockmusik stand. Wir kommen selbst vom Rock, haben aber versucht, einen neuen Sound zu entwickeln, der über Bogotá hinaus bekannt wird – und dank des Internets auch weltweit.
Auf der alternativen Seite der Musikindustrie gibt es viel mehr Raum dafür, sich mit anderen Zeiten und Leuten zu verbinden – es ist schön, das zu bemerken. Für mich steht das, was wir machen, in direkter Beziehung zu dem, was vor 50 Jahren passierte und in 50 Jahren passieren wird. Doch nun sind wir durch dieses Projekt in Kontakt mit dem, was vor 100 Jahren passierte, und können sehen, dass es ebenfalls was mit uns zu tun hat – wir hatten den Kontakt zu dieser Art von Geschichte einfach verloren. Alles dreht sich um Geschichte!