Loraine James: Sanfte Konfrontationen
Loraine James ist rastlos, wenn es um ihre Musik geht. „Manchmal ist da dieser Funke. In Alben stecke ich gern ein paar Monate Arbeit rein und ziehe dann weiter. Ich lasse die Dinge nicht so gern ruhen.”
Vielleicht war die Londoner Produzentin deshalb in letzter Zeit so produktiv, hat in zwei Jahren drei Alben veröffentlicht und dabei selten einen Moment innegehalten. Sie verwebt zappeligen IDM mit verträumten Soundscapes, vereint so unterschiedliche Einflüsse wie Drill und Midwest Emo und kann auf eine ganze Reihe an Kollaborationen zurückblicken, aus denen kluge, elektronische Popsongs entstanden sind. Ihre Kreativität hat sie auf verschiedenste Pfade, zu Nebenprojekten unter verschiedenen Namen (wie z.B. Whatever The Weather) und zu ungewöhnlichen Unterfangen (wie zum Julius-Eastman-Tributalbum Building Something Beautiful For Me) geführt.
Mit James' neuestem Album unter eigenem Namen setzt sich ihr produktiver Pfad fort. Gentle Confrontation, ihre bislang raffinierteste Platte, ist Ergebnis sorgfältiger Prozesse des Editierens und Verfeinerns. Das Album ist außerdem persönlicher als seine Vorgänger, enthält stark autobiografische Tracks wie „2003" – benannt nach dem Jahr, in dem James' Vater verstarb – und eine ganze Palette an Einflüssen aus ihrer Teenagerzeit. Damit ist die Platte näher an James' Vision als jedes ihrer vorhergehenden Projekte.
„Ich glaube, ich bin heute zufriedener mit meiner Musik als vor fünf Jahren. Irgendwie ist sie näher an dem, was ich sein will – was auch immer das ist.” Für James ist das eine Leistung: Oft, so erzählt sie uns, mag sie ihre eigene Musik gar nicht so gern. Das, was man auch Imposter-Syndrom nennen könnte, hat seine Wurzeln in ihrem Debütalbum For You & I, das 2019 auf dem renommierten Hyperdub-Label erschienen ist.
„Das ist eine spannende Liebes-Hass-Reise. In der Woche vor dem Release von For You & I hab ich, das weiß ich noch, jeden Hyperdub-Release angehört und war so: ‘Das passt hier gar nicht rein, die Leute werden das hassen’. Ich bin nie so sonderlich begeistert von der Musik, die ich veröffentliche. Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Man macht einen Song und dann hört man ihn sich eine Stunde lang in Dauerschleife an. Und am nächsten Tag denke ich mir dann, ja, der ist okay.”
Vielleicht ist es diese Attitüde, die sie dazu bringt, weiterzumachen. James erzählt, dass sie sich ihre eigenen Platten nach dem Releasetag selten nochmal anhört. Stattdessen macht sie sich manisch Notizen für den nächsten Release: „Alles auf jedem Album ist für mich eine Reise. Das ist eine Vorwärtsentwicklung. Ich denke immer nach vorn.” Im Fall von Gentle Confrontation bedeutet das den Rückblick auf die Einflüsse, die James geprägt haben. Das Album war von Künstler:innen inspiriert, die ihr als Teenager in London besonders wichtig waren: Eine introspektive Reise durch Math-Rock, Emo und sanfte Electronica.
Die Einflüsse hatten schon lange ein Echo in ihrer Musik gefunden, James wusste jedoch noch nicht, wie sie diese wirklich in ihre Tracks integrieren konnte. In der Schule hatte sie nur ein bisschen Klavier gelernt und sie konnte nicht einfach eine Gitarre in die Hand nehmen und loslegen. „Als Teenager habe ich mit MIDI-Gitarrensounds gearbeitet – also den schlimmsten Sounds der Welt,” lacht sie. „Ich habe dieses Math-inspirierte Ding um 2013-2015 rum auf Bandcamp veröffentlicht. Das habe ich schon lange wieder gelöscht.”
Heute kennt James eine ganze Reihe an Musiker:innen, die einspringen können. Vor Jahren hat sie auf Bandcamp Corey Mastrangelo aus New Jersey entdeckt, einen Gitarristen, der in seiner Arbeit ähnliche Einflüsse verarbeitet. Sein Spiel ist auf „One Way Ticket To The Midwest (Emo)” zu hören, einem zweieinhalb-minütigen Track voll schimmernder Saiten und gezupften Synths.
Gentle Confrontation ist auch die erste Platte, auf der James freigegebene Samples nutzt. Sie hat Schnipsel heißgeliebter Tracks von Lusine, DNTEL und Telefon Tel Aviv durch idiosynkratische Pedalketten geschickt und granulare Wolken erzeugt, aus denen durch Resampling neue Kompositionen wurden. Auf diese Art manifestiert James die Einflüsse direkt in ihrer Musik. „Ich habe davor nie was auf einem Album gesampelt. Also habe ich Leute, die ich in meiner Jugend gehört habe, gefragt: Kann ich [eure Musik] benutzen? – das war eine runde Sache.”
Verträumte Repräsentationen wie diese haben dazu beigetragen, dass Gentle Confrontation das sanfteste Album ist, das James unter ihrem eigenen Namen veröffentlicht hat. Die scharfen Kanten ihrer Musik wurden darin ein wenig abgeschliffen und die ergreifende Introspektion ihrer Synths gewinnt ein wenig die Oberhand über ihre agitierten Rhythmen.
Darin spiegelt sich auch eine allgemeinere Veränderung in ihrer Musik. James stammt aus der UK-Clubszene, ihre glitchigen Live-Performances passten perfekt zu progressiven DJ-Sets. Heute sind Clubs in ihren Augen nicht mehr der unbedingt beste Kontext für ihre Musik – vor allem, weil das durchschnittliche Tempo und Energielevel mittlerweile angezogen haben. „Zur Zeit ist es ein bisschen kompliziert. Ich finde es schwieriger, mich durch Clubkontexte zu navigieren. Alles ist heute schneller, und da bleibt wenig Zeit für auch nur kleine introspektive Momente. Die meisten Songs auf meinen Alben kann ich nicht wirklich in Clubs spielen, weil die da nicht reinpassen. Manchmal spiele ich Songs zehn bis fünfzehn BPM schneller ab, damit sie sich einfügen.”
Sie fokussiert sich jetzt auf andere Performance-Orte. „Ich bin gespannt auf das Spielen im Herbst, weil ich nicht mehr wirklich Clubshows mache. Ich kann die Platte also in allen möglichen Geschwindigkeiten spielen und live damit experimentieren.”
Parallel stellt James eine erweiterte Liveshow vor, in der auch die Hardware aus der Albumproduktion involviert ist. Darin zeigt sich eine weitere große Veränderung: Bis dato hat James mit einem reduzierten Set-up gearbeitet, das sich um die Session-Ansicht aus Ableton Live strukturierte und durch ein MIDI-Keyboard mit 25 Tasten, ein Novation Launchpad und einen Akai-APC40-Cliplaunching-Controller gesteuert wurde. Das Set-up war vielseitig, ließ sich einfach auf Reisen mitnehmen und provozierte, so erinnert sich James, bei Tontechniker:innen zuweilen Blicke nach dem Motto: Was ist das für Spielzeug?
Im Laufe der letzten Jahre entwickelte James jedoch eine Vorliebe für Hardware, die Entstehung von Gentle Confrontation beschreibt sie als „halb in- und halb außerhalb von Ableton” – ein Verhältnis, das sie gerne auch live nachbilden möchte. Viele Pads und Synth-Arbeit auf dem Album stimmen von einem Novation Peak (etwa das stotternde Arpeggio in ‘Glitch The System (Glitch Bitch 2)’). Die Keys im Stil eines Rhodes stammen von einem Yamaha Reface CP, oft durch das Red Panda’s Raster Delay-Pedal gespielt, mit dem komplexe und dynamische Soundscapes entstehen.
Vermutlich kommen beide Synths mit auf Tour. Im Studio kombiniert James die beiden gerne mit wilderen Tools, um unerwartete Sounds zu erzeugen. „Das hat auf jeden Fall Spaß gemacht, zum ersten Mal mit Hardware zu arbeiten. Ich weiß immer noch nicht so richtig, wie man das meiste davon benutzt. Ich schaue nur gern, was passiert, und bin dann auch nicht unbedingt in der Lage, das zu wiederholen.”
Granulare Delays und Looper haben dabei einen besonderen Platz in James’ Herzen. Das ist nur folgerichtig: Die zappeligen Beats und schwarm-artigen Atmosphären in ihrer Musik wirken oft, als wären sie aus Schnipseln vertrauter Sounds gebaut. James’ neuestes granulares Spielzeug ist der granulare Synth Tasty Chips GR-1, den sie auf Tracks von Kelela und Ice Spice getestet hat. Clips wie diese zeigen, wie sich die Hardware in ihren Prozess einfügt. Sie jammt ein paar Minuten mit einer Synth-Pedal-Kette und nimmt den Sound in Live auf. Dabei können sich Fehler einschleichen, die mitunter aber auch gern gesehen sind. James nimmt selten etwas zweimal auf. „Es gibt ein paar Songs [auf dem Album], bei denen ich ein paar falsche Noten gespielt habe. Oft lasse ich sowas aber einfach drin. Im Falle von ‘Glitch The System’ war glaube ich der Peak zu heiß oder so. Deshalb knistert der ein bisschen.” Wenn sie den Jam aufgenommen hat, hört sich James alles nochmal an und isoliert einen kleinen Abschnitt – oft einen mit einem „starken Rhythmus.” Diesen warpt sie auf das Grid und macht ihn zur Basis für ihre Komposition.
Als Beispiel nennt James den Entstehungsprozess der Leadsingle des Albums, ‘2003’. Diese nahm ihren Ausgang in Ask You, einem ihrer Lieblingslieder vom 2004 erschienenen Album Serial Hodgepodge von Lusine. James fing Teile des Tracks mit dem Chase Bliss Blooper ein, einem ausgefeilten Loop-Pedal mit integriertem Pitch-Shift, spielte „ein paar Minuten” damit herum, veränderte Tonhöhe und Textur. „Ich habe nur einen fünf- oder zehnsekündigen Frame daraus verwendet, und den dann in Ableton quantisiert, damit er von der BPM-Zahl her passt.” Daraus wurde die Grundlage eines Tracks, ein hypnotischer und choraler Loop, der James’ konfessionelle Vocals umfängt.
James erzeugt spannende Sounds gerne mit komplexem In-the-Box-Sounddesign. Im Falle der Tracks von Reflection aus dem Jahr 2021 wendet sie etwa Frequency Shifter und Grain Delay auf eine duplizierte Instanz ihres Drum-Racks an und erzeugt damit faszinierende Effekte, die sich von der Hauptperkussion abheben. Wenn sie jedoch mit Outboard-Equipment arbeitet, editiert sie das Audio nicht unbedingt stark in Live.
Im Fall von „2003" kam lediglich ein bisschen Distortion durch „Trash” von iZotope zum Einsatz. James’ Plug-in-Philosophie baut auf schnelle, vertraute Tools statt auf exotische, neue Spielzeuge. „Ich habe massig Plug-Ins heruntergeladen, aber die meisten davon nutze ich nicht. Zum Beispiel habe ich noch einen anderen Saturator, aber ich benutze den von Ableton, weil ich weiß, wie er aussieht und was ich machen will. Dasselbe gilt für den Delay. Wenn ich weiß, dass ich will, dass [ein Sound] herumspringt, arbeite ich einfach mit dem Ping-Pong-Delay."
Das Ziel ist dabei immer, dass das Momentum bleibt. Egal, ob sie Audio von Hardware aufnimmt oder mit dem Rechner arbeitet, der Produktionsprozess geht immer nach vorne und lässt sich nicht von Retakes oder Herumschraubereien aufhalten. Das bedeutet, dass James Tracks mitunter sehr schnell fertigstellt: ‘2003’ etwa war „in ein bis zwei Sessions” fertig. An anderer Stelle auf Gentle Confrontation experimentierte sie jedoch erstmals mit längeren Arbeitsphasen.
„I DM U”: Ein Track, der erst nach ein paar Überarbeitungen stand.
„Für dieses Album habe ich mir ein bisschen mehr Zeit genommen. Da gab es viel mehr Revisionen als irgendwo vorher.” Als Beispiel nennt sie ‘I DM U’. Eine erste Version enthielt noch mehr elektronisch klingende Drums, die sie später durch ein akustisches Kit mit viel Raumgefühl ersetzte – ein entscheidender Kontrapunkt zu den wabernden Synth-Pads des Tracks.
James achtet dennoch darauf, dass die Editierungen eine Idee nicht zu sehr kaputtmachen. Im Großen und Ganzen hat sie eher eine Hands-on-Mentalität, wenn es um Kreativität geht: Manchmal läuft’s und manchmal nicht, und der kreative Prozess geht selten in die Richtung, die man erwartet. Wenn sie einen Track macht, setzt sie sich immer „mit einer Idee hin, als hätte ich mir vor kurzem etwas angehört. Und sobald ich dann versuche, etwas zu machen, was davon inspiriert ist, geht das in die entgegengesetzte Richtung. Also versuche ich, die Dinge einfach ihren Weg gehen zu lassen.”
Am einfachsten fällt ihr der Prozess, wenn sie „nicht zu viel nachdenkt.” Wenn die inneren kritischen Stimmen zu laut werden, um sie zu ignorieren, macht sie einfach den Laptop aus und wendet sich anderen Dingen zu. „Ich glaube, ich bin schneller darin, den auszuschalten, als ich’s früher mal war. Ich versuche dann, nicht zu wütend auf mich selbst zu sein. Manchmal mache ich ein paar Wochen lang keine Musik. Das Wichtigste ist, dass ich mich nicht zu etwas zwingen will, worauf ich keine Lust habe. Wenn mir also nicht danach ist, ist das okay.”
Alles an James’ Prozess zielt auf Momentum und geht nach vorn. Dadurch kann sie ihre kreative Zeit maximal ausnutzen, ohne über Zweifel oder Details zu stolpern. Man kann also davon ausgehen, dass sie erstmal keinen Gang runterschalten wird. Ob sie plant, nach ein paar Jahren mal ein bisschen langsamer zu machen?
„Ich beschäftige mich auf jeden Fall aktiv mit der Frage, ob ich zu viel raushaue. Ich will irgendwie nach der hier mal ein bisschen runterschalten. Aber ich habe gleichzeitig auch schon ein paar Notizen für das nächste Album. Und ich kann ja nicht zwei oder drei Jahre lang nur rumsitzen.”
Text und Interview: Angus Finlayson
Fotos: Ivor Alice
Übersetzung: Julia Pustet
Der Originaltext wurde in der Übersetzung gekürzt.
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