Lawrence English: Feldnotizen
Lawrence English hat in den letzten Jahren viel unternommen, um neue Hörer für Field Recordings zu gewinnen – als Künstler, Kurator und Aktivist. Sein Label Room 40 bietet eine Plattform für Veröffentlichungen von Künstlern wie Ben Frost, Tim Hecker, Marina Rosenfeld und Rafael Anton Irissari, und seine eigene Musik zieht weltweit ein stetig wachsendes Publikum an – dank faszinierender Alben und Live-Präsentationen, die größtenteils auf Field Recordings basieren. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen Klangexpeditionen in die stürmischen Gefilde Patagoniens und der Antarktis sowie das Klangporträt einer quirligen Stadt auf der kroatischen Mittelmeerinsel Korčula.
Lawrence English verbringt viel Zeit damit, der Welt zu lauschen – und hat demzufolge ein raffiniertes Koordinatensystem entwickelt, das ihn über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Field Recording nachdenken lässt. In unserem Interview spricht er über verschiedene Arten des Hörens, die organischen Ohren unseres Körpers, die prothetischen Ohren des Mikrofons und darüber, wie diese Faktoren zusammenwirken, um Räume in Räumen zu erschaffen – verkopfte Themen, doch das Lesen lohnt sich garantiert. Freundlicherweise teilt Lawrence nicht nur seine Gedanken mit uns, sondern auch eine kostenlose Sammlung von Field Recordings aus seinem Archiv, die an verschiedenen Orten in Australien entstanden sind.
Dein jüngstes Album „Approaching Nothing“ hat eine besondere Beziehung zu Luc Ferraris „Presque Rien“, das als Meilenstein des Field Recording als Klangkunst gilt. Wie ist dieses Projekt entstanden?
Für mich ist Ferraris „Presque Rien“ eine bahnbrechende Arbeit. Das Stück ist wunderbar schlicht und legt das Fundament für spätere Generationen des Field Recording. „Presque Rien“ bedeutet „fast nichts“, was sich laut Ferrari auf den Umfang der Nachbearbeitung der Aufnahmen [aus der kroatischen Stadt Vela Luka] bezieht. Er nahm die Szenerie einfach auf und veränderte so gut wie nichts an den Ergebnissen – mal abgesehen davon, dass er die Aufnahmen in Fragmente zerlegte, um sie dann zu arrangieren.
Vor ein paar Jahren sprach ich mit meinen kroatischen Freunden Leila Topic und Petar Milat über Ferraris Stück. Petars Familie stammt von Korčula – der Insel, auf der Vela Luka liegt. Ich hatte großes Interesse daran, diesen Ort zu besuchen, und die beiden machten es für mich möglich. 2013 reiste ich also auf diese Insel. Der Sommer neigte sich gerade dem Ende zu und die Geräusche der Zikaden waren am Ausklingen. Das ist ein wunderschönes Fleckchen Erde und ich konnte sofort spüren, warum Ferrari diesen Ort zum Aufnehmen ausgewählt hatte. Landschaftlich, gesellschaftlich und geschichtlich betrachtet ist Korčula einzigartig – die Insel hat eine tiefgründige Atmosphäre.
Ich wollte mich Ferraris Ideen und Interessen annähern und sie in mancherlei Hinsicht auch weiterdenken – für mich ist dieses Stück definitiv das zweite Kapitel der Erforschung von Vela Luka im Lauf der Zeit.
Ich verbrachte viel Zeit mit reinem Hören, ohne die Aufnahmetaste zu drücken, um ein Gespür dafür zu entwickeln, was ich aus diesen Orten, Räumen und Tageszeiten eigentlich extrahieren wollte. Das bedeutete natürlich, dass einige seltsame und einzigartige Geräusche nicht aufgezeichnet wurden, doch das gehört für mich zur Natur der Sache. Manche Sounds und Erlebnisse sind eben nur für mich bestimmt. Sie sind die Geister des Stücks – Erfahrungen, die zu gegebener Zeit und am jeweiligen Ort einen starken Eindruck hinterlassen, aber nur in meiner Erinnerung fortbestehen.
„Presque rien“ entstand 1969, doch wo steht Field Recording heute als Kunstform? Genauer gefragt: Was sind die Begleiterscheinungen, wenn Klangmaterial, das manche Hörer als „objektiv“ oder „dokumentarisch“ verstehen, als Musik präsentiert wird?
Mit diesen Fragen habe ich mich ausgiebig beschäftigt und dabei so etwas wie eine Philosophie des Hörens skizziert – insbesondere die Vorstellung einer Politik der Wahrnehmung. Hinsichtlich des Field Recordings finde ich es wichtig, sich zu fragen, wo diese Methode ihren Ursprung hat, wo sie heute steht und in welche Richtung sie sich bewegt. Als der Begriff „Field Recording“ zum ersten Mal auftauchte, war er auf Methoden der Ethnographie und Anthropologie bezogen. Die Aufnahmen stammen von Forschern, die sie zu jener Zeit - ungefähr bis Mitte der 1970er Jahre - als „objektive“ Darstellungen eines Subjekts/Materials präsentierten. Glücklicherweise wurde diese Annahme der „Objektivität“ zugunsten der Subjektivität der aufnehmenden Person verworfen.
Wenn sich das Field Recording von seinen Wurzeln im 20. Jahrhundert weiterentwickeln und in den Kanon der Klangkunst eingehen soll: Worin besteht die kreative Qualität dieser Kunstform?
Diese Frage ist bewusst einfach formuliert, doch damit fehlt auch der theoretische Aspekt. Für mich findet sich hier eine entscheidende Lücke in der Argumentation. Es geht nicht um reine „Dokumentation“ – sonst hätte das Field Recording ja nichts mit Kunst zu tun. Wir müssen uns also neu positionieren. Ich würde dafür folgende These vorschlagen: Der kreative Ausgangspunkt von Field-Recording-Künstlern lässt sich direkt auf ihr individuelles Hören zurückführen.
Der französische Schriftsteller Peter Szendy hat zwei wunderbare Provokationen in die Welt gesetzt, mit denen ich mich in den letzten Jahren ausgiebig beschäftigt habe. Er fragt: „Können wir das Hören von Hörern hören? Falls ja – lässt sich dieses Hören in seiner Einzigartigkeit übermitteln?“ Für mich ist das der Punkt, der Field Recording so spannend macht. Ich finde es toll, Aufnahmen zu hören, die mich das Hörerlebnis des jeweiligen Künstlers spüren lassen. Wenn man sich die Arbeiten von Chris Watson, Jana Winderen, Aki Onda oder Douglas Quin anhört, wird deutlich, dass sie zwar ähnliche Sujets behandeln, aber komplett unterschiedlich klingen. Die geometrischen Punkte des Hörens werden von Künstler zu Künstler anders festgelegt. Somit ist die Art und Weise, in der Räume innerhalb der Klangszenerie erschaffen werden, sehr verschieden.
Ich habe eine theoretische Position entwickelt, die hoffentlich auch für andere Field-Recording-Künstler hilfreich ist. Sie heißt „relationales Hören“ und antwortet direkt auf Szendys provokante Thesen. Genauer gesagt geht es darum, sie im Detail zu entdecken.
„...der Horizont des Hörens – anders als der Horizont des Sehens – ist nicht linear festgelegt.“
Die erste These lautet: Das Hören ist subjektiv – jeder Mensch hört anders. Das Hören unterscheidet sich hinsichtlich der Wirkung – es spiegelt psychologische Voreingenommenheiten und Interessen der Hörer wider. Daraus folgt, dass das, was wir hören, nicht zwangsläufig dasselbe ist wie das, was eigentlich zu hören ist. Ein einfaches Beispiel für die Leser: Macht an dieser Stelle mal eine kurze Pause und achtet auf die Geräusche, die ihr beim Lesen unbewusst ausgeblendet habt – das leise Summen des Computers, der Fernseher in der Nachbarwohnung, euer Zimmernachbar oder Hundegebell auf der Straße. Diese These schließt auch mit ein, dass der Horizont des Hörens – anders als der Horizont des Sehens – nicht linear festgelegt ist. Er ist dynamisch, stets im Wandel begriffen und wird von anderen Gegebenheiten als dem Lichtspektrum beherrscht.
Die zweite These lautet: Wenn wir das Hören dieses Hörers übermitteln wollen, ist dazu ein Interface notwendig. Für mich wäre das ein zweites Ohr – das prothetische Ohr des Mikrofons. Anders als unser inneres, psychologisches Hören teilt das Mikrofon keine unserer Voreingenommenheiten – es ist im Grunde apolitisch. Das zweite Ohr ist durch bestimmte technische Konfigurationen bedingt, etwa die Art des genutzten Mikrofons. Damit ist sein Horizont des Hörens anders – es beabsichtigt nicht, einen Raum innerhalb der eingefangenen Umgebung zu erschaffen. Wir sind ihm gleichgültig – und müssen trotzdem eine Beziehung zu ihm finden. Wir müssen ein verbindendes Gewebe zwischen unseren organischen Ohren und dem prothetischen Ohr des Mikrofons entwickeln.
Darauf zielt „relationales Hören“ im Grunde ab: Wie stellen wir als Künstler eine Beziehung zwischen diesen beiden Ohren her? Ich habe verschiedene Wege gefunden, um über die Art und Weise zu sprechen, wie diese beiden Horizonte des Hörens in Einklang kommen könnten. Sobald sich die beiden Horizonte des Hörens partiell überschneiden, besteht die Möglichkeit, das individuelle Hören eines Hörers zu übermitteln. Je größer die Übereinstimmung der beiden Horizonte des Hörens ist, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass sich das individuelle Hören übermitteln lässt. Dies funktioniert auch umgekehrt – nämlich dann, wenn uns das prothetische Ohr etwas offenbart, das zu unserem Fokus in einem bestimmten Horizont des Hörens wird. Ich bin mir sicher, dass viele Field-Recording-Künstler instinktiv auf diese Weise verfahren. Trotzdem sollte eine ausführliche Diskussion über die Konsequenzen dieser Methode stattfinden.
„Viento“, eine weitere Arbeit von dir, basiert auf Aufnahmen von Wind in Patagonien und der Antarktis. Wie bist du an diese abgelegenen Orte gelangt? Und wie nimmt man eigentlich Wind auf?
„Viento“ war ein ganz besonderes Projekt für mich. 2010 hatte ich das große Glück, von der Argentine Antarctic Division zu einer Antarktis-Reise eingeladen zu werden. Es war toll, mit dieser Organisation zusammenzuarbeiten und ich schätze mich glücklich, dass ich diese Möglichkeit hatte. Ich hoffte, dass es mir gelingen würde, das physiologische Empfinden beim Aufnehmen – über die Ohren, nehme ich an – zumindest teilweise rüberzubringen.
Auf unserem Weg nach dort unten saßen wir für ein paar Tage in Rio Gallegos in Patagonien fest – ein schwerer Sturm war aufgezogen und es war zu gefährlich, mit dem Flugzeug zu starten. Die meisten mitreisenden Wissenschaftler und Künstler machten es sich in den militärischen Unterkünften gemütlich. Ich hörte den Lärm von draußen und dachte, ich muss da raus und versuchen, das aufzunehmen. So verbrachte ich drei oder vier Tage damit, unter erschwerten Bedingungen Aufnahmen zu machen. Ich werde oft gefragt, wie ich diese Aufnahmen von Wind gemacht habe. Es ist wichtig zu wissen, dass man nie den Wind selbst aufnimmt, sondern Objekte, die durch den Wind in Bewegung versetzt werden. Als ich in der Antarktis war, gab es einige Stürme und Blizzards, die ich ebenfalls aufgenommen habe.
„...Sound ist eine zeitabhängige Kunstform. Sie lässt sich nicht beschleunigen – die Aufnahmen machen oft nur dann Sinn, wenn man Geduld hat.“
Eine Frage zur Praxis: Was ist zum Einfangen guter Field Recordings notwendig?
Da gibt es so einiges – etwa ein rotes Fahrradlicht, um Gerätschaften wiederzufinden, die man tief im Wald aufgebaut hat. Francisco Lopez gab mir diesen Tipp (danke, Francisco!). Und ein Handtuch – Douglas Adams lag damit in „Per Anhalter durch die Galaxis“ absolut richtig. Man weiß nie, ob man vielleicht Stechmücken verjagen oder unterwegs ein verletztes Tier aufsammeln muss. Oder einfach nur um etwas Sauberes zu haben, wenn man sich für eine Weile hinsetzen möchte. An wasserdichte Transportboxen sollte man ebenfalls denken. Und vor allen Dingen daran: Das Hören mit dem Wunsch, Field Recordings zu machen, wird einem nicht geschenkt. Es braucht Zeit, um sich zu entwickeln, und Sound ist eine zeitabhängige Kunstform. Sie lässt sich nicht beschleunigen – die Aufnahmen machen oft nur dann Sinn, wenn man Geduld hat. Dann entfalten sie sich wie von selbst, während man sich aufs Aufnehmen konzentriert. Diese Unmittelbarkeit, die unseren Alltag bestimmt, spielt bei Field Recordings keine Rolle.
Lawrence English hat freundlicherweise eine Auswahl an Field Recordings aus seinem Archiv zur Verfügung gestellt. Hier können Sie die Sounds hören und herunterladen:
Hier Lawrence' Anmerkungen zu diesen Aufnahmen:
„Bei allen Field-Recording-Künstlern sammeln sich mit der Zeit sicherlich unzählige Aufnahmen an. Auch bei mir sind es mehrere hundert Stunden an Aufnahmen von verschiedenen Reisen und Projekten. Nur ein Bruchteil davon wird jemals veröffentlicht werden. Die Feldaufnahmen in meinem Sound-Pack sind allesamt in Australien entstanden. Für mich beschreiben sie eine bestimmte ästhetische Qualität, die verschiedene Umgebungen in Australien versinnbildlichen. Die Aufnahme mit den Kakadus und dem aufziehenden Sturm in Ravenswood fängt jene Momente ein, wenn die anhaltende Trockenheit jäh unterbrochen wird und sich zurückzieht. Die Zikaden, die ich im Nordwesten von Australien aufgenommen habe, sind aus dem hiesigen Sommer nicht wegzudenken – sie sind auf Hunderten von Home-Recordings quer durch die Musikgeschichte Australiens zu hören. Und die Küste – diese Aufnahme entstand nahe meinem Wohnort in Bribie Island. Das ist eine meiner Lieblings-Aufnahmen und hält aus meiner Sicht eine Erfahrung fest, die dem „relationalen Hören“ sehr nahe kommt. Falls es mir jemals gelungen sein sollte, das Hörerlebnis eines individuellen Hörers zu vermitteln, dann ist diese Aufnahme ein gutes Beispiel dafür.“
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