Laurel Halo: Wie „Atlas“ entstanden ist
Laurel Halos Musik ist im besten Sinne rätselhaft. Und wer sie in Schubladen wie Ambient, Jazz, experimentelle Musik, Techno oder Avant-Pop einordnen will, wird zwangsläufig scheitern. Im Laufe der letzten 15 Jahre hat die Musikerin ihren ganz eigenen Weg gefunden: mit mehreren Alben auf Hyperdub, mit Filmmusik und dem Zusammenspiel mit Moritz von Oswald in einem Jazz-Trio. Aber auch als DJ, als Moderatorin einer Radiosendung und seit kurzem als Dozentin am California Institute of the Arts.
Halos neues Album Atlas wurde von der Musikpresse als eine der herausragenden Veröffentlichungen des Jahres 2023 gefeiert. Hier verzaubert sie ihr Publikum mit einer vielschichtigen Klangwelt aus Klavier, Cello, Gesang, Synthesizer und dekontextualisierten Fragmenten. Die Kompositionen auf Atlas sind von Halos neu entdeckter Freude an der „Besteigung des Jazz Mountain“ geprägt – und auch von einigen kongenialen Gastmusiker:innen.
Das Ergebnis dieses Zusammenwirkens positiver Kräfte ist Halos bislang detailreichstes, komplexestes und vielleicht auch persönlichstes Werk. Wir haben uns kürzlich mit ihr via Zoom getroffen, um über die Themen zu sprechen, die Atlas zugrunde liegen. Außerdem wollten wir erfahren, wie die einzelnen Kompositionen entstanden sind, und wie die Künstlerin an diesem besonderen Punkt ihrer Entwicklung das Musikmachen an sich betrachtet.
Welche Themen liegen Atlas zugrunde?
Es ging darum, ein Gefühl für einen Ort oder eine Verbindung zu meiner Umgebung zu schaffen. Ich habe die Platte in einer unsteten Phase gemacht – sowohl in Bezug auf meinen physischen als auch auf meinen emotionalen Aufenthaltsort. Dazu kommt ein Mix von Sinneseindrücken – zum Beispiel der Anblick von Nebel in einer nächtlichen Stadt, das Verlorensein in einem Wald bei Sonnenuntergang oder ein Bergpanorama. Dabei habe ich mich von Schriftsteller:innen wie Italo Calvino, W.G. Sebald und Etel Adnan inspirieren lassen – und von Apichatpong Weerasekathuls Filmen. Als ich den Albumtitel Atlas gefunden hatte, machte plötzlich alles Sinn, weil die Musik tatsächlich wie eine Sammlung von Landkarten klingt. Vielleicht ist es eine Platte über das Schaffen von Erinnerungen, ohne dabei übermäßig nostalgisch zu sein.
Was war bei diesem Album anders als bei deinen früheren Arbeiten? Und welche Praktiken hast du von früheren Alben und Projekten übernommen?
Bei diesem Album habe ich zum ersten Mal versucht, einfach etwas „Schönes“ zu machen – ganz egal ob mir das nun gelungen ist oder nicht. Es war auch das erste Mal, dass ich viel mit Streichern gearbeitet habe – Aufnahmen von Violine und Cello – und der Fokus mehr auf Jazz-Harmonien lag. Natürlich habe ich auch frühere Praktiken beibehalten: zum Beispiel die Collage, das Übereinanderlegen von vorab komponierten und improvisierten Teilen und masochistische Mengen an subtraktivem EQ.
In einem anderen Interview habe ich gelesen, dass Atlas ein psychedelisches Album werden solllte. Was verstehst du unter Psychedelik? Und wie wolltest du diese Idee umsetzen?
Für mich hat Psychedelik damit zu tun, dass es OK ist, keine Kontrolle zu haben – dass man gebrochen und wieder ganz wird, und dabei Präsenz und Abwesenheit zugleich erlebt. Ich habe auf verschiedene Weise versucht, dieses Gefühl in der Musik zum Ausdruck zu bringen: mit dem Timing oder Flow der Tracks, der Entwicklung der Harmonien und dem Verschmelzen von elektronischen und akustischen Klangquellen.
Die Jazz-Einflüsse deiner früheren Solo-Veröffentlichungen (z.B. „Mercury“ auf Raw Silk) scheinen auf Atlas mehr im Vordergrund zu stehen. Außerdem hast du dich vor einziger Zeit dem reformierten Moritz von Oswald Trio angeschlossen. Gibt es eine Verbindung zwischen diesem Zusammenspiel und deinem Solomaterial?
Eigentlich hatte die Besteigung des „Jazz Mountain“ schon vor der Zusammenarbeit mit Moritz begonnen. In den Monaten vor und während der Pandemie habe ich sie dann richtig in Angriff genommen. Das Trio-Projekt war sicherlich ein fruchtbarer Boden für das Erforschen und Experimentieren mit Tasten. Ich bin immer noch eine blutige Anfängerin am Klavier und noch weit von höheren Regionen entfernt, aber nichtsdestotrotz ist es eine lohnende Erfahrung.
Auf deinen neuen Album gibt es viele Mitspieler:innen. Wie baust du funktionierende Kollaborationen auf?
Eine gute Frage! In erster Linie geht es darum, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die die gleiche oder eine ähnliche musikalische Sprache sprechen. Alle, die bei „Atlas“ dabei waren, sind feinfühlige Musiker:innen – und Zuhörer:innen.
Wie viel von der Musik wurde im selben Raum aufgenommen?
Mit Bendik Giske und James Underwood habe ich mich persönlich getroffen, um die Musik aufzunehmen. Coby Sey und Lucy Railton' haben mir Demos und Sprachnotizen geschickt – wir waren via Telefon, SMS und E-Mail in Kontakt.
Hatten deine musikalischen Gäste eher die Rolle von Studiomusiker:innen? Oder konnten sie auch eigene Ideen beitragen? Kannst du uns dafür Beispiele nennen?
Ich habe allen Beteiligten allgemeine Vorgaben gemacht, zum Beispiel welche Formen oder Klangfarben ich erzeugen wollte. Für manche Teile habe ich mit Vocals und Violine bestimmte Melodien oder Texturen skizziert. Es gab auch Teile, die professionell transkribiert wurden, damit Lucy sie spielen kann. Aber innerhalb dieser Vorgaben gab es viel Raum für Interpretation und Improvisation. Ich habe beispielsweise James Underwood einen Violinen-Part gegeben, den ich zuerst eingesungen und dann auf dem Klavier gespielt hatte, um die Noten zu betonen. Er hat dann aber von sich aus ein Vibrato oder eine Dynamiksteigerung eingesetzt, an die ich gar nicht gedacht hatte. Und das gab dem Stück dann einen ganz eigenen Zauber. An anderer Stelle hat Coby eine bestimmte Stimmlage eingebracht, mit der ich nicht gerechnet hatte. Und Lucy zauberte eine Textur oder Harmonien hervor, die ich so nicht hätte artikulieren können.
Für mich sind Tracks sind eigentlich nie fertig, aber ich lasse sie irgendwann einfach los.
Auf „Atlas“ kann sich das Raumgefühl ziemlich drastisch ändern. Bei manchen Tracks ist der physische Abstand zwischen Klavier und Geige deutlich hörbar. Aber wie viel wurde in einem traditionellen Studio-Setup mit mikrofonierten Instrumenten aufgenommen? Und wie viel von diesem Eindruck hast du mit Effekten in deiner DAW erzeugt?
Es ist sicherlich eine Mischung aus elektronischen und akustischen Klangquellen. Wenn ich mir die Platte anhöre, vergesse ich manchmal, woher die Sounds kommen. Das Klavier, die Streicher und das Vibraphon sind akustisch. Aber es gibt auch Streicher, Synths und Samples aus VST-Libraries, die für die Gesamtatmosphäre oder harmonische Palette sorgen.
In „Belleville“ wirkt alles plötzlich viel näher und intimer als bei den vorigen Tracks. Mit welcher Absicht? Und wie hast du diesen Effekt erreicht?
Ich habe „Belleville“ absichtlich in der Mitte des Albums platziert – nach vier recht dichten Stücken. Für mich machte es Sinn, dass einem Track mit acht oder maximal zehn Stems mehrere Tracks mit 30, 40 und mehr Stems vorausgehen. Wahrscheinlich wirkt „Belleville“ einfach deswegen so intim, aber es liegt bestimmt auch am Arrangement und an der Produktion. Ich habe das Stück in einem Take und mit Nah-Mikros aufgenommen – ein sanft gespielter Flügel, bei dem jedes Detail mit viel Kompression und Saturation aufgeblasen wird. Vielleicht tragen auch die Vocal-Verzierungen dazu bei, denn dies ist der einzige Gesang auf der Platte.
Du hast in einem anderen Interview darauf hingewiesen, dass das Komponieren bei diesem Album ein additiver Prozess war – das hört man vor allem in den groß und dicht klingenden Abschnitten. Wann entscheidest du, keine weiteren Elemente mehr hinzuzufügen und etwas als fertig zu betrachten?
Für mich sind Tracks sind eigentlich nie fertig, aber ich lasse sie irgendwann einfach los.Dann höre ich mir den Mix und das Master an. Und wenn sich die Musik gut genug anfühlt, nehme ich sie so, wie sie ist.
Der Titeltrack „Atlas“ ist voller Klavierläufe und anschwellender Streicherklänge – das muss beim Spielen sehr zufriedenstellend sein. Aber du hast jedes dieser Elemente so weit bearbeitet und verwischt, dass es in der Gesamtkomposition ungewöhnlich klingt. Willst du beim Komponieren bestimmte Elemente, die zu harmonisch oder vorhersehbar wirken, bewusst vermeiden oder verschleiern?
Ich finde es immer interessant, über die Beziehung zwischen Konsonanz und Dissonanz nachzudenken. Zwischen Noten, die „richtig“ oder „falsch“ klingen – oder richtig oder falsch gestimmt sind. Wenn die Musik zu tonal oder konsonant ist, ohne eine Form von Tiefenladung zu besitzen, kann sie schnell passiv, klebrig süß oder künstlich wirken. Gleichzeitig kann harmonisch komplexe, geräuschhafte oder atonale Musik ohne einen gewissen Sinn für die Morgendämmerung, für Humor und Leichtigkeit wiederum stumpf und unzugänglich wirken. Es ist eine schöne Herausforderung, da einen Mittelweg zu finden.
Wie lässt sich das Album deiner Meinung nach auf die Bühne bringen? Musstest du große Entscheidungen treffen, um die Musik so zu gestalten, dass sie auf der Bühne funktioniert?
Bei der „Atlas“-Liveshow ist normalerweise die Cellistin und Improvisatorin Leila Bordreuil dabei. Sie hat mehrere Mikros und einen Amp auf der Bühne, um damit Feedbacks zu erzeugen. Ich selber spiele Klavier und Gitarre und bearbeite die Instrumente mit Bodeneffekten, auch um sie zu verstimmen. Außerdem erzeuge ich Klavier-Loops und -Texturen, zu denen wir zwischen den Tracks des Albums improvisieren. Live wirkt die Musik dank der Improvisation natürlich aktiver, wobei wir „Belleville“ und „Naked To The Light“ fast unverändert spielen.
Eine der größten Fragen bei der Live-Umsetzung dieser Musik war wahrscheinlich, wie „klein“ oder „groß“ die Liveshow gestaltet werden kann – weil nicht ganz klar ist, ob die Platte eher leise oder richtig laut gehört werden will. Wir haben uns auch gefragt, wie tonal oder textural Leila spielen sollte. Es ist wirklich spannend, dieses relativ dichte Album auf der Bühne umzusetzen und im Performance-Kontext lebendig werden zu lassen. Denn so können wir diese Vorstellungen von An- und Abwesenheit herausarbeiten, die bei „Atlas“ im Mittelpunkt stehen.
Mehr zu Laurel Halo gibt es auf Instagram, Bandcamp und auf ihrer Website.