Unter Tränen lachen: Chrissy über Rave und Resilience
Chris Shively (alias Chrissy Murderbot oder nur Chrissy) glaubt fest an die Bedeutung der Rave-Szene der 1990er Jahre als Akteur des sozialen Wandels.
„Was die Leute damals gemacht haben, hat viel bewirkt“, sagt der Produzent aus San Francisco. „Und jetzt haben wir es mit dem letzten Widerstand der ewig Gestrigen und egoistischen reichen Arschlöcher zu tun, die die ganzen Veränderungen einfach revidieren wollen, bevor sie dauerhaft sind.“
Shively weiß, wovon er redet. Er ist in der legendären Rave-Szene des Mittleren Westens groß geworden und anschließend nach Chicago übergesiedelt – der Stadt, mit der er sich am meisten verbunden fühlt. Für ihn lieferte der Geist der Einheit, der Gleichheit und der Grassroots-Bewegungen, die Anfang der 1990er an illegale Parties gekoppelt waren, den Masterplan für eine kooperative und solidarische Gesellschaft. Mehr als 20 Jahre später macht die aufwühlende Qualität so vieler globaler Themen diese Ideale relevanter denn je.
„Ich denke, dass die politische Situation auf beiden Seiten des Atlantiks der Situation des Jahres 1991 näher kommt als jedes andere Jahr“, sagt er. „Im Grunde ist es wie Bush und Thatcher, aber noch schlimmer. Warum sollte eine politische Widerstandsbewegung, die sich über Grenzen von Rassen, Klassen, Geschlecht und Sexualität hinweg auf Tanzen, Offenheit und Gemeinschaft konzentriert, heute unwahrscheinlicher sein als 1991? Sie wurde damals einfach von Leuten gebildet, die daran glaubten, und das hat auch eine ganze Weile lang funktioniert.“
Angesichts des anhaltenden Kampfes um Rassengleichheit, der bedrohlichen Umweltprognosen im Schatten der Industrie und der aufrührerischen Rhetorik im gesamten politischen Spektrum findet Shively, dass „jetzt die Zeit gekommen ist, in der wir uns neu organisieren und ausrichten müssen“, damit die Fortschritte, die die Rave-Szene befördert hat, nicht durch repressive Werte übertönt werden. Trotz all der Probleme, mit denen die Menschheit gerade konfrontiert ist, erweist sich Shively als unerschütterlicher Optimist und hat diese Energie in sein neues Album Resilience eingespeist, das dieser Tage auf Chiwax erscheint.
„Die Wortbedeutung von ‚Resilience’", erklärt Shively, „ist die Fähigkeit, unter Tränen lachen und voller Hoffnung sein zu können, während man all den Scheiß zur Kenntnis nimmt, der gerade auf uns niederregnet. Das hilft mir dabei, die Apathie zu bekämpfen und die Dinge immer noch besser machen zu wollen."
Musik findet immer wieder neue Wege des politischen Widerstands – von Punk-Agitation über melodiöse Reggae-Protestsongs bis zu brandaktuellen sozialen Bestandsaufnahmen im Hip-Hop und Grime. Shivelys neues Album wählt beschwingtes Songwriting und eine Rave-infizierte Klangpalette als Mittel, um die Hörer wachzurütteln.
„Der Grundgedanke der radikalen Offenheit, den es seit den 1970er Jahren in der Dance Music gibt, ist lebendiger denn je", sagt Shively, „aber wenn ich in den Club gehe, höre ich diesen Spirit viel seltener als früher. Für mich klingt die Musik eher Track-lastig und leblos."
Warum Vocals wichtig sind
Schon der Opener „Like A Fantasy" macht mit schwebenden Akkorden, einer druckvollen Kick-Drum und gewundenen Acid-Lines klar, dass Resilience nicht für Schwermut, sondern für ausgeprägten Frohsinn steht. Shively weiß, dass solch ein Ansatz in diesen zynischen Zeiten für Spott anfällig ist, aber man kann sich seiner Wirkung kaum entziehen, vor allem bei den Vocal-Tracks „Your Ghost" und „So I Go Dancing". Nachdem Shively die Lyrics entworfen hatte, sang er sie als Karaoke-Versionen ein, um Anhaltspunkte bei der Suche nach den passenden Sängerinnen zu haben. Er fand sie in Gestalt von Maria Amor und Carrie Wilds, denen es tatsächlich gelingt, den unwiderstehlichen Pop-Appeal von House-Divas wie Paris Grey, Ultra Naté, Alison Limerick oder CeCe Peniston hervorzurufen.
„Der 1990er-Aspekt, den ich heute am meisten vermisse, ist das regelmäßige Erscheinen grandioser Vocal-Tracks", so Shively. „Ich finde es wichtig, ein wenig Wortkontext in der Kunst zu haben. In anderen Songs auf dem Album sind kleine Vocal-Samples und -Schnipsel, die auf die Themen des Albums verweisen. Doch ich wollte auch direkte Songs wie ‘So I Go Dancing’, das davon handelt, pleite zu sein und durch die Rave-Erfahrung Hoffnung zu finden. Oder ‘Your Ghost’ – hier geht es um all die wichtigen Menschen, zu denen man über die Jahre den Kontakt verliert, wenn man in dieser Szene ist. Manchmal verliert man sie auch für immer."
Warum retro klingen?
Auch wenn der Retro-Grad auf Resilience von Track zu Track variiert, räumt Shively ein, dass ein Track wie „Your Ghost" aus dem Jahr 1991 herübergebeamt sein könnte, während „Hold On Tight" eine unverblümte Rave-Reminiszenz darstellt: knurrende Acid-Lines, euphorische Klavierakkorde, rollende Breaks und wummernde 909-Beats. Angesichts der vielen aktuellen Releases, die sich an den 1990er Jahren orientieren, und Shivelys sorgfältiger Herangehensweise an dieses Album und dessen Botschaft stellt sich die Frage, was er mit seinem eigenen Rave-Revival erreichen will: „Ich denke, dass es schwierig ist, ein Album über die 1990er Jahre sprechen zu lassen, ohne dass es ein wenig wie die 1990er Jahre klingt".
„Manche Elemente werden 1990er-Raver in die damalige Zeit zurückversetzen", fährt Shively fort, „doch man muss nicht auf einem Rave dieser Zeit gewesen sein, damit das Album funktioniert – hoffe ich zumindest".
„Ich denke, wir können viel von den Songstrukturen der 1970er, 80er und frühen 90er lernen”, fügt Shively hinzu. „Wir können sie als Werkzeug benutzen, um Elemente zu vermischen und die Monotonie von Club-Sets zu brechen.”
„Look ma, no synths."
Shively produziert seit den 1990er Jahren elektronische Musik und ist ein mit allen Wassern gewaschener Hardware-Experte. Er nennt eine lange Liste von klassischen Synths und Samplern, mit denen er schon gearbeitet hat, und spricht fast schon zärtlich über sein jahrelanges Ringen mit Sonys DAW Acid Pro, dem der Umstieg auf Ableton Live folgte. Angesichts der vielen Oldschool-Sounds auf Resilience könnte man leicht denken, dass das Album mit einem Vintage-Setup entstanden ist. Aber es wurde komplett in Live produziert.
„Ich weiß, dass das Komponieren für andere Leute einfacher ist, wenn sie sich in einem Raum voller Hardware befinden und direkt an den Maschinen an ihren Songs arbeiten. Aber für meine Art zu komponieren ist das eher hinderlich. Wenn ich eine Idee habe, summe ich sie beim Fahrradfahren oder Spazierengehen vor mich hin und arbeite sie im Kopf aus. Wenn ich dann nach Hause komme, ist ein großer Teil der Idee schon fertig komponiert und es geht nur noch darum, das mit möglichst wenigen Hindernissen im Computer festzuhalten. Ohne einen Haufen MIDI-Kabel anschließen zu müssen oder Samples hexadezimal zu bearbeiten wie bei meinem Ensoniq Mirage-Sampler."
Neue Wege für alte Sounds
Auch wenn man beim Produzieren von Musik mit klassischem Feeling den modernen Computer-Workflow wählt, besteht die Herausforderung darin, den Klang der Hardware der damaligen Zeit nachzubilden. Auf Resilience sind die Timestretch-Breaks von „Call On Me" ein gutes Beispiel für einen typischen Effekt, der entstand, als Jungle- und Hardcore- Produzenten alles aus ihren Akai-Samplern herausholten. Weil Software beim Ändern der Sample-Geschwindigkeit sehr gründlich vorgeht, nutzte Shively eine einfache Stand-alone-Anwendung namens Akaizer. Sie dient ausschließlich dazu, den metallischen Timestretch-Effekt von klassischen Samplern wie dem Akai S950 zu reproduzieren.
Ein weiteres Beispiel ist die Sample-Wiedergabe in verschiedenen Tonhöhen auf älteren Samplern. Hierbei wurde die Samplingrate geändert. Wenn man also eine tiefere Note spielte, wurde das Sample als Teil des Prozesses tatsächlich heruntergesampelt, um eine tiefere Tonhöhe zu erreichen. Solche Details tragen viel zum Feeling und Charakter von Chrissys Musik bei, und er hat genau zu diesem Zweck ein spezielles Instrument- und Effekt-Rack entwickelt.
„Wenn ich beispielsweise eine nach oben transponierte Snare-Drum als melodisches Element im Rhythmus nutze", so Shively, „weise ich den Tasten für die tieferen Töne den Audio-Effekt Redux zu. Er reduziert die Samplingrate, damit zwischen den verschiedenen Noten der Tastatur eine subtile Klangvariation entsteht."
Freundlicherweise stellt Shively dieses und acht weitere Racks, die bei der Produktion von Resilience zum Einsatz kamen, der Ableton-Community zur Verfügung. Die Klangpalette reicht von klassischen FM-House-Chords und heruntergesampelten Rave-Stabs über Jungle-Bässe und einen Breakbeat-Vocoder bis hin zum legendären Lately-Bass. Dieser Sound war ursprünglich ein Preset von Yamaha-Synths wie dem TX81Z und wurde zu einer omnipräsenten Zutat von Dance-Produktionen der 1990er. Über den folgenden Link können Sie sich alle Racks herunterladen – inklusive ausführlicher Beschreibungen von Chrissy.
Laden Sie Chrissys Resilience-Racks kostenlos herunter
Zur vollständigen Nutzung ist Ableton Live 10 Suite erforderlich
Referenzpunkte mischen
Während die 1990er Jahre großen Einfluss auf Resilience hatten, war Shively beim Produzieren an keine starre Formel gebunden. Als Beispiel führt er an, dass der Klang vieler Platten von damals im Vergleich zu modernen Produktionen eher flach oder matschig war, was ihn dazu brachte, für das EQing und Mixing seiner Tracks einen modernen Ansatz zu wählen. Beim Delay und Reverb wiederum hielt er sich an klassische Regeln (vor allem der Audio-Effekt Echo in Live 10 erwies sich laut Shively in dieser Hinsicht als sehr nützlich).
Shively drückt der Musik auch seinen eigenen Stempel auf, indem er innerhalb eines Tracks viele verschiedene Subgenres unterbringt. Dieser Ansatz erinnert an seine legendären My Year Of Mixtapes-Shows, die zwischen 2009 und 2010 entstanden sind. Woche für Woche erschien auf Shivelys Blog ein neuer Mix, mit einem anderen Subgenre als Schwerpunkt – von Digi-Dancehall über „Hard Gay" bis zu Quebec Disco und Happy Hardcore. Das Wissen und die Stilsicherheit, die Shively an den Tag legte, machten die Reihe unvergesslich. Es überrascht wenig, das alles aus der Rave-Szene stammt.
„Als ich in den 1990er Jahren auf Raves ging, wurde dort Ghetto House, Jungle, 2-Step, Chicago House, Hard Trance oder Happy Hardcore aufgelegt – also alles Mögliche. In diesem Kontext wollte ich bei Resilience mit Genres spielen", sagt er.
„’U Can’t Stop’ hat diese Merkmale von Hip House und Chicago House", erklärt Shively, „aber dann diese Synths, die an britische Rave-Platten denken lassen. Und Bässe, die fast wie Bassline oder 4x4 Garage klingen.”
In anderen Tracks wählt Shively einen größeren Abstand zu vertrauten Bezugspunkten. „2CI Fridays” hat mit seiner knackigen Breakbeat-Manipulation und der zarten, verträumten Synth-Line einen futuristischen Touch. Auch wenn der Track nicht direkt wie 4 Hero klingt, erinnert er an deren genreübergreifenden Ansatz, der eine Blaupause für Hardcore und Jungle lieferte und tiefere Strömungen von Techno und Breakbeat erforschte. Natürlich freut sich Shively über diesen Vergleich und verweist auf 4 Heros Fähigkeit, in experimentelles Territorium vorzudringen, ohne sich der Relevanz von Strukturen und Konventionen, die mit den Anforderungen des Dancefloors verbunden sind, zu entziehen.
Von A nach B und nach C
Neben den Details der Produktion legt Shively auch großen Wert auf die kompositorischen Aspekte seiner Retro-Perspektive, die er auf Resilience einnimmt. Ähnlich wie Tadd Mullinix alias X-Alteras Ansatz befasst sich Shively mit der Songstruktur von Dance-Produktionen der frühen 1990er Jahre, die oft mehrere thematische Abschnitte besitzen und den Eindruck einer Progression zwischen diesen Abschnitten vermitteln: „Heute fällt mir bei vielen Platten auf, dass sie wie Berghain-Techno klingen, aber die Merkmale von 1992er-Rave besitzen”, was darauf hindeutet, dass es derzeit eine Tendenz zu repetitiven, linearen Tracks gibt, die von Anfang bis Ende im gleichen Groove bleiben.
„Ich denke, wir können viel von den Songstrukturen der 1970er, 80er und frühen 90er lernen”, fügt Shively hinzu. „Wir können sie als Werkzeug benutzen, um Elemente zu vermischen und die Monotonie von Club-Sets zu brechen.”
Die Tracks mit Sängern waren in der Regel durch die Vocals vorbestimmt, aber meist legte Shively für die Songstruktur einen Abschnitt A, B und C fest. Diese Abschnitte entwickelte er zunächst einzeln und dann ging es nur noch darum, sie zusammenzufügen.
„Die einzelnen Abschnitte in der Session-Ansicht zu haben und mit Push spielen zu können, um sie wie beim Jammen zu strukturieren, führte zu schlankeren und stärkeren Tracks, bei denen das Arrangement und der Edit einfach besser waren”, so Shively.
Das Thema der Verschlankung spielt bei Shively eine große Rolle – er verbringt viel Zeit mit der exzessiven Bearbeitung seiner Lieblings-Disco-Tracks. Selbst wenn er den Hut vor Orbitals 11-minütigen Epos „Impact USA” zieht: „Ein perfekter Track, bei dem sich kein Fett entfernen lässt”. Diese Attitüde und Shivelys rasanter Mixstil, der durch und durch vom Midwestern-Rave geprägt ist, sind für die Direktheit von Resilience verantwortlich.
„Mein DJ-Stil neigt dazu, in Tracks reinzugehen und schnell wieder abzuhauen", kichert er. „Ich spiele vielleicht 60 oder 90 Sekunden eines Tracks und wechsle dann schon zum nächsten. Wenn ich einen acht Minuten langen Track höre, denke ich mir: „Du musst schon einen verdammt guten Grund dafür haben, das hier länger als vier Minuten zu machen. Meine eigenen Platten sollen so tight sein, dass ein DJ wie ich beim Auflegen nicht ungeduldig wird.“
Die Tracks auf Resilience sind kompakt, mutig, melodisch – und randvoll mit Dancefloor-Energie. Gleichzeitig stecken sie voller bedeutsamer Botschaften. Ob sie dazu beitragen, die Party mit revolutionärem Spirit aufzuladen, bleibt abzuwarten. Shively gibt sich jedenfalls selbstbewusst: „Das ist kein Thema, zu dem ich in Zukunft meine Klappe halten werde".
Fotos von Bailey Greenwood und Ricky Kluge.
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