Wenn wir ein Konzert stark finden, führen wir das oft auf die „Natürlichkeit“ der performenden Person zurück. Aber im Fall von Yasmin DuBois alias Lafawndah geht dieser Zusammenhang nicht weit genug. Und er zollt der Sängerin und Produzentin auch zu wenig Anerkennung. Lafawndahs Ansatz für die Bühne und das, was auf ihr passiert, lässt sich am besten als „kritisch“ bezeichnen. Sie betrachtet das gesamte Performance-Business und dessen Konventionen mit einem gewissen Argwohn. Könnte diese Haltung auf der Bühne lähmend sein und Spontanität verhindern? Ganz im Gegenteil – Lafawndahs Performance im Rahmen von Loop 2018 war überwältigend intensiv und zeigte eine Künstlerin auf dem Zenit ihres Könnens. Im anschließenden Talk gaben Lafawndah und ihre Band spannende Einblicke in ihre Performance.
Lafawndah: Die Kluft zwischen Kunst und Publikum überwinden
Lafawndah sieht ihre neugierige Einstellung zur Tradition, in der sie sich bewegt, als Erfolgsrezept für ihre Kunst. Und ihre Haltung zu den wenig hilfreichen Dogmen, fragwürdigen Konventionen und zur unschönen Vorgeschichte dieser Tradition dürften all jene ermutigen und inspirieren, die schon mal auf der Bühne gestanden sind und sich gefragt haben: „Was mache ich eigentlich hier?“ Oder, in Richtung des Publikums gefragt: „Was macht ihr eigentlich hier?“ Wie Lafawndah zeigt, sind diese Fragen nicht nur berechtigt, sondern auch nicht einfach zu beantworten. Die Beziehung zwischen einem Performer „hier oben“ und den Leuten „da unten“ hat immer etwas Seltsames an sich. Und wenn jemand so viel über Klasse, Geld und Macht nachdenkt – und singt – wie Lafawndah, wirft die Anordnung der Menschen bei einem Konzert einfach Fragen auf.
„Bei einer Performance nutzen wir den Raum nur in eine Richtung“, sagt sie. „Dabei könnten wir diesen Raum wirklich nutzen!" Ihre Gesten beim Sprechen (und vor allem beim Performen auf der Bühne) beschwören eine Galaxie der Möglichkeiten – tausend Punkte im Raum, eine Million Konfigurationen von Menschen, und Klang und Architektur sind nur auf eine einzige Sache reduziert: Ein Darsteller auf einer Bühne und Menschen, die in ordentlich nach vorne ausgerichteten Reihen stehen oder sitzen.
Und Ausnahmen bestätigen die Regel. In Jim Jarmuschs aktuellem Dokumentarfilm über The Stooges erzählt Iggy Pop, wie er das Stage-Diving erfand. Er beschreibt den Impuls dahinter ganz ähnlich wie Lafawndah: Er wollte den Raum durchqueren, eine Kluft überwinden und mehr als nur ein Spektakel für die Zuschauer sein. Aber sogar das Stage-Diving ist längst zu einer Konvention geworden – zu einem Zeichen oder Symbol für all das, was wir mit dem Raum eines Theaters oder Konzertsaals eben nicht machen können.
Die DJ-Kultur sollte anfangs einen neuen, nicht-hierarchischen Performance-Raum eröffnen, in dem alle Anwesenden Performer sind: Das Publikum wird selbst zu dem Spektakel, das es erleben will, indem es die gewohnte Kluft bedeutungslos macht. Und vielerorts gilt dieses Angebot ja immer noch. Andererseits generieren auch Dance-Genres – von Disco bis EDM – immer wieder Stars, deren Auftritte dann schnell wieder zu dem zurückkehren, was Lafawndah als „Standard" bezeichnet. Wenn man die jüngere Musikgeschichte betrachtet, wird schnell ein vertrautes Muster erkennbar: Künstler und Publikum erforschen zuerst innovative Formen – (Anti-)Performance, Klanginstallation, Party, Happening und kollektive Freak-Outs – kehren aber am Ende wieder zum Standard zurück. „Ich finde das unbefriedigend", so Lafawndah, „und bin mir auch nicht sicher, ob das Publikum damit zufrieden ist." Was ihrer Meinung nach fehlt: die Möglichkeit des „Austauschs". Und die Einseitigkeit von Standard-Gigs, bei denen es einen Sender und viele Empfänger gibt, scheint dies von vornherein auszuschließen.
Um deutlich zu machen, was sie sich für die Liveshow erhofft, verweist Lafawndah auf den Dokumentarfilm „Transes" von 1981 über die marokkanische Folkloregruppe Nass El-Ghiwane. In einer Szene ist die Band bei ihren Chants von einer tanzenden Menschenmenge umringt, das Publikum tanzt hingebungsvoll auf der Bühne und sogar zwischen den Musikern. Die Doku zeigt, warum Nass El-Ghiwane im Marokko der 1970er Jahre zu einem Katalysator der Veränderung wurde – nicht nur auf der musikalischen Ebene, sondern auch auf der gesellschaftlichen. Wenn Sänger und Musiker zu Blitzableitern für die kollektive Energie werden und wirklich Veränderung bewirken – solche Situationen sind für Lafawndah erstrebenswert. Es ist keine große Überraschung, dass sie auch zum Theater ein gespaltenes Verhältnis hat. "Da ist eine Kluft zwischen diesem und jenem", sagt sie. Bezieht sie sich auf Los Angeles 2018 und Marokko 1973? Auf „Ich auf der Bühne und du im Publikum"? Oder ganz allgemein auf Kunst und Alltag? „Ich versuche, die Performance mit aller Kraft als einen Weg zu verstehen, die Kluft zwischen diesem und jenem zu schließen." Nur wie?
„Wir schaffen die Bühne und den Zuschauerraum ab und ersetzen sie durch einen einzigen Ort, ohne Trennwand oder Barriere jeglicher Art... So wird eine direkte Kommunikation zwischen Zuschauer und Spektakel, zwischen Schauspieler und Zuschauer wiederhergestellt. Der Zuschauer befindet sich mitten in der Handlung und wird von ihr verschlungen und körperlich einbezogen."
Der Text „Das Theater und sein Double" aus dem Jahr 1938 stammt von Antonin Artaud, dem Surrealisten in Verbannung und ehemaligen Schaupieler. Er forderte, die lahme Pantomime des damaligen europäischen Theaters mit seinen Schwerpunkten Text, Dialog und „Charakter" durch ein sogenanntes „Theater der Grausamkeit" zu ersetzen: durch Lärm, Stimmausdruck, wilde Gestik, extreme Geräusche und Lichter. Ein Theater mit kompletter körperlicher und psychischer Beteiligung des Publikums. Artauds Theater, wie die Dramaturgin Cobina Gillit zusammenfasst, „strebt nicht danach, eine abgesonderte Freizeitbeschäftigung zu sein, die vom 'echten' Leben losgelöst ist, wo hinter einer unsichtbaren vierten Wand eine Illusion der Realität inszeniert wird. Stattdessen propagiert es ein Ereignis, das in einem von Schauspielern und Publikum geteilten Performance-Raum stattfindet – ein Ort, an dem Wahrheit entstehen kann..." Das Theater, so Artaud, „muss sich dem Leben gleichsetzen". Artauds Manifest wurde von seinem Besuch der Internationalen Kolonialausstellung 1931 in Paris inspiriert, bei der – wie der Name schon sagt – die mächtigen europäischen Nationen in eigens dafür gestalteten Pavillions Beutekunst präsentierten, um den Besuchern einen Einblick in das „Leben in den Kolonien" zu geben. Im Pavillon von Niederländisch-Ostindien sah Artuad eine Aufführung von sakralen und weltlichen balinesischen Tänzen mit Gamelan-Begleitung. Hier glaubte Artaud, sowohl die Antithese zum europäischen Theater als auch die Medizin für dessen Krankheit gefunden zu haben. Hier, so dachte er, ist die Performance ein Ritual – eine ekstatische Kombination aus reiner Gestik, Klang und Farbe. Dies war Artauds Ideal: Kunst und Leben, dieses und jenes, nicht mehr getrennt, sondern ganz.
Artauds Buch zu lesen, nachdem man Lafawndahs Performance und Manifest bei Loop erlebt hat, ist eine seltsame Erfahrung. Einerseits scheint ihre Show die Erfüllung von Artauds Prophezeiung zu sein: Lichter, Kostüme, extremer Gesang und Trommeln, Trommeln, Trommeln. Andererseits gehen beide, wenngleich durch fast acht Jahrzehnte getrennt, mit ihrer Kritik am Zustand der Performance in die gleiche Richtung. Und sie kommen dabei zu ähnlichen Schlussfolgerungen. In achtzig Jahren hat sich nicht viel verändert, wie es scheint – selbst wenn in der Zwischenzeit so manches versucht wurde. Wo ist die Magie, das Ritual, die Katharsis und die Verbindung? Warum gibt es diese Kluft zwischen Kunst und Leben, und warum wird sie immer noch so sorgfältig bewacht? Die Ähnlichkeiten sind deutlich, aber es sind vor allem die Unterschiede, die aufschlussreich sind. Wie so oft ist der Kontext der Schlüssel: Artaud war ein französischer Dichter und Schauspieler, der im verlöschenden Glanz des „Empire-Zeitalters" (Eric Hobsbawm) aktiv war. Er konnte das balinesische Gamelan nur deswegen erleben, weil Bali damals eine Kolonie der Dutch East India Company war. Die Musiker und Tänzer wurden um die halbe Welt verschifft und zu einem leibhaftigen Museumsexponat gemacht, das gelangweilten Stadttouristen interessante Unterhaltung bieten sollte. Wie viele Angehörige seiner Generation glaubte auch Artaud, dass die europäische Kultur krank und degeneriert sei – der Blick über den Tellerrand versprach Heilung und Erneuerung. Und da kam ihm der Kolonialismus mit seinen Handels-, Reise- und Kommunikationsnetzen gerade recht: Frische Ideen „aus dem Osten".
Lafawndah hingegen ist eine in Paris lebende Frau iranischer und ägyptischer Abstammung. Sie wurde lange nach der Zeit geboren, in der Frankreich, Großbritannien und die Niederlande ihre Imperien aufgaben. Aber sie wurde in eine Welt geboren, die sich weiterhin mit deren Folgen auseinandersetzen muss. Lafawndah ist eine Künstlerin, die der westlichen Kultur „zurückschreibt" (wie Edward Said es ausdrückt). „Ich habe keine exotistische Position, weil ich mit nicht-westlicher Musik aufgewachsen bin", sagte Lafawndah in einem Interview für das Magazin Dazed. „Die westliche Popmusik ist das Exotische für mich." Deswegen hat sie auch eine ganz andere Sichtweise auf die beschriebene Zeitachse. Die Erfindungen von Artaud und seinen vielen Jüngern wurden für die Geschichte der Moderne beansprucht – mit anderen Worten „die Tradition des Neuen" (laut dem berühmten Zitat von Harold Rosenberg). Im gleichen Zug wurden die Formen des Post-War-Pop, der immer wieder versucht hat, die Barriere zwischen „diesem" und „jenem" zu überwinden, als eine Abfolge von Innovationen wahrgenommen. Lafawndah schlägt eine andere Sichtweise vor: „Wenn du an die Musikgeschichte denkst und aus westlichen Orten und den letzten 30 Jahren rauszoomst, war die Funktion der Musik so anders als das." Eine wirklich globale und längerfristige Betrachtung der Musik-Performance wird schnell deutlich machen, dass die westliche Kunst-Musik-Konstellation – der Künstler auf der Bühne, das Publikum auf seinen Plätzen, während der Aufführung bitte nicht reden oder essen – nicht die „Tradition" ist, die Artaud, Yoko Ono, Iggy Pop, Yves Tumour, Lucrecia Dalt und Lafawndah „verlassen" oder „erneuert" haben. Vielmehr ist sie selbst eine historische Neuheit, die sich – genau wie der bürgerliche Lebensstil, den sie begleiten sollte – irgendwie als ewige Wahrheit etabliert hat und sich endlos in die Vergangenheit und Zukunft erstreckt. „Die Chancen für ein kathartisches Erlebnis in einem Theater", sagt Lafawndah und beschreibt die Konturen des Raumes mit einer weiteren Handbewegung, „sind fast Null".
Vor diesem Hintergrund kann die Frage „Wie performen?" in einem ganz neuen Licht erscheinen. Wenn wir auf der Bühne stehen und die Situation unangenehm oder befremdlich finden, wenn wir einen Mangel an Gemeinschaft oder kollektiver Freude wegen dieser scheinbar unüberbrückbaren Kluft zwischen „hier oben" und „da unten" spüren, liegt das nicht nur an uns. Und das Dilemma lässt sich auch mit Bühnentechnik schwer beheben. Die Umstände, mit denen wir uns auf der Bühne auseinandersetzen, sind das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung, die so lange gedauert und so allmählich stattgefunden hat, dass sie fast als naturgegeben erscheint. Aber unser Gefühl, dass wir es besser haben könnten, ist auch ein Hinweis darauf, was im weiteren Sinne fehlt – nicht nur in der Performance, sondern auch im Alltag. Das „unnatürliche Gefühl" – auf der Bühne wie im Publikum - ist möglicherweise sogar nützlich. Wir können die Auswirkungen von zwei Jahrhunderten Kultur und Imperialismus zwar nicht einfach so verschwinden lassen. Aber wir können mit Räumen experimentieren, neue Beziehungen erforschen und Konventionen untergraben - und sei es nur, um uns selbst und unser Publikum daran zu erinnern, dass unser Potenzial für kollektive Freude viel größer ist, als das, was uns Live Nation Entertainment glauben machen will. Wir können uns und andere auf neue Möglichkeiten aufmerksam machen, neue Wege des Zusammenseins, Hörens und Fühlens entdecken – und wir können die Sprache, Bilder, Sounds und die Kunst der Performance selbst dafür nutzen, um auf der Bühne ähnliche Fragen zu stellen wie Lafawndah. Nicht nur um die Performance-Konventionen selbst zu hinterfragen, sondern auch die Gesellschaft und Kultur, die sie hervorgebracht haben und deren Interessen sie letztlich dienen. Dabei spielt die sorgfältig bewachte Barriere zwischen „diesem" und „jenem", Leben und Kunst, eine entscheidende Rolle.
„Kunst war schon immer anders als die Angelegenheiten der Welt – jetzt musst du hart daran arbeiten, dass alles verschwommen bleibt.” (Allan Kaprow)
Antonin Artaud, der bei seinem Ausstellungsbesuch weder den Kontext noch die Worte der Performer verstand, baute seine These auf einem sehr originellen Missverständnis der balinesischen Performance auf und produzierte das, was Rustom Bharucha „eine der verführerischsten Fiktionen des 'orientalischen Theaters', die je verfasst wurden" nannte. Trotzdem ist Artauds Wunschvorstellung inzwischen zu einer künstlerischen Tatsache geworden. Ganze Entwicklungslinien und Subgenres von Kunst, Poesie, Theater und Musik – von Performancekunst über klassischen Rock und Fluxus bis hin zu Noise – können ihren Ursprung auf Artauds Vorstellung von dem zurückführen, was er an diesem Tag im Jahr 1931 sah. Und auch auf Mary Caroline Richards' berühmte englische Übersetzung seines Buches aus dem Jahr 1958. Viele Versuche, die Lücke zwischen Kunst und Leben zu schließen, scheinen unter dem Zeichen von „Sankt Artaud" zu stehen, wie Susan Sontag ihn einmal nannte. Sontag war eine der ersten, die das Erscheinen einer neuen Kunstform namens „Happenings" in den frühen 1960er Jahren festhielt und als Erfüllung von Artauds Hoffnungen für die Bühne sah. „Das Publikum", schrieb der Künstler Allan Kaprow 1966, „muss eliminiert werden." Er war kein Verrückter, Terrorist, oder Superschurke, wie man denken könnte, sondern einfach ein früherer modernistischer Maler, der ein Manifest schreibt. Trotzdem hat er damals wohl einige Menschen aus dem Gleichgewicht gebracht. „Die Veranstaltung scheint darauf ausgelegt zu sein, das Publikum zu ärgern und zu missbrauchen", schrieb Sontag an einem späteren Tag in diesem Jahr, nachdem sie an einem Kaprow-Happening teilgenommen hatte. Sie und die anderen Zuschauer wurden zuerst in eine enge Box gesperrt, aus der sie dann mit einem Rasenmäher wieder vertrieben wurden. Es ging allerdings nicht darum, das Publikum selbst anzugreifen, sondern das Publikum als Kategorie von Menschen bei einem Kunstereignis zu zerstören. Durch die Provokation und Verwirrung der Menschen hofften Kaprow und andere Happening-Pioniere – zum Beispiel Yoko Ono und Carolee Schneeman – die Grenze zwischen Zuschauern und Künstlern zu verwischen und schließlich zu beseitigen.
Wenige Monate vor ihrem Loop-Auftritt veranstaltete Lafawndah bei einem Konzert in Toronto ein eigenes Happening. Sie traf sich im Vorfeld mit Einheimischen („normale Leute, keine Künstler!") und lud sie zur Teilnahme am Konzert ein - nicht als Tänzer, Sänger oder Musiker, sondern als Katalysatoren für eine kleine Revolution. „Ich habe sie dazu eingeladen, sich etwas vorzustellen". Ihre Aufgabe: Sich als Besucher zu verstehen, deren Mission darin besteht, einen Kontakt zu Menschen herzustellen. Nach ungefähr der Hälfte des Konzerts hörte die Band auf zu spielen und die Alltags-Außerirdischen kamen auf die Bühne. Sie stürzten sich in die Menge, sprachen und gestikulierten mit den Leuten, erzählten ihnen Geschichten, tanzten und sangen mit ihnen – „verbindend", wie Lafawndah es nennt. „Es wurde zu einer Art Therapie", fährt sie fort, „es ging einfach sehr schnell sehr tief". Aber dies würde nur möglich sein, wenn die Menschen in der Menge bereit wären, ihre übliche Rolle aufzugeben - oder sich gegen sie aufzulehnen. Mit dem Ziel, jede mitgebrachte Vorstellung von dem, wie eine Aufführung auszusehen hat, aufzugeben, um ein breiteres Feld von Möglichkeiten zuzulassen. Für das Gelingen war die erste Reaktion des Publikums entscheidend. „Sie haben gefragt: 'Ist das Konzert vorbei?'", schmunzelt Bandkollege und Koproduzent Nick Weiss. Vielleicht geht es noch weiter, aber wahrscheinlich nicht für immer.
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