Krust: Selbstkritik runterpegeln
„Erinnerst du dich an ‚Indiana Jones und der Tempel des Todes‘? Der Film beginnt mit einer Schlägerei in einem Nachtclub. Sie besteigen ein Flugzeug, springen mit dem Fallschirm ab und landen auf einem Berg. Dann schlittern sie den Hang hinab und fallen in einen reißenden Fluss – aufregend”, sagt Kirk Thompson, mit Betonung auf dem letzten Wort. „Das erste Stück auf The Edge Of Everything beginnt wie ein Jungle-Track, aber dann ist das Arrangement ganz anders und es hat überhaupt nichts mit einem normalen Jungle-Track zu tun. Man fragt sich: ‚Bin ich überhaupt noch in diesem Territorium?‘ Spätestens am Ende des Tracks kennt man die Antwort.“
In manchen Fällen kann es schwierig sein, die künstlerische Intention nachzuvollziehen – nicht so bei Thompson. Wenn er den Beginn seines neuen Albums mit dem dramatischen Plot eines Spielberg-Klassikers vergleicht, macht das durchaus Sinn. „Hegel Dialectic“ startet überfallartig und scheint sich zu einem echten Breakbeat-Banger aufzuschwingen. Doch schon beim ersten monumentalen Orgelakkord ahnen wir, dass das Stück einem ganz anderen Plan folgt. So beginnt die aufregende Reise von The Edge of Everything – dem Comeback-Album von Krust.
Wer ist Krust?
Als Krust (oder DJ Krust) ist Thompson seit den frühen 1990er Jahren ein einflussreicher Akteur der Jungle- und Drum-and-Bass-Szene. Genau wie seine Full Cycle-Kollegen Roni Size, DJ Die und Suv steht Krust für die Evolution der Bristol-Soundsystem-Kultur. Er hat unzählige Genre-Klassiker produziert, immer einen Bogen um Majorlabels gemacht und die Drum-and-Bass-Kultur entscheidend geprägt. Auf The Edge Of Everything ließ er sich weniger von der Entwicklung seines Genres inspirieren, sondern eher von der überwältigenden Wirkung großer Kinoproduktionen.
„Ich erinnere mich, wie ich mit Roni ‚Matrix‘ gesehen habe – auf dem Heimweg hat keiner von uns etwas gesagt. Als wir uns ‚Interstellar‘ angeschaut haben, war es genauso. Nach solchen Momenten suche ich. Ich will euch nicht zum Tanzen bringen. Mir geht es um ein unvergessliches Erlebnis. Für mich war das ein Konzert von Public Enemy beim St. Paul's Carnival in Bristol. Oder als ich ‚Eric B Is President‘ entdeckt habe. Solche Erlebnisse meine ich. Auch jetzt lässt sowas mein Herz schneller schlagen.“
Von der prägenden Erfahrung afro-karibischer Karnevalsumzüge bis hin zum überraschenden Chart-Hit mit der Band Fresh 4 war Thompson schon in früh in der Musikszene aktiv, und unter dem Alter Ego Krust feierte er große Erfolge. Bis 2006 hatte er drei Alben und unzählige Singles und EPs veröffentlicht und war pausenlos als DJ auf Tour – mit all dem Druck, den ein solches Leben mit sich bringt. Dann hörten die Veröffentlichungen plötzlich auf und Thompson zog sich aus der Szene zurück.
„Ich hatte dieses Leben als Krust schon so lange gelebt und komplett vergessen, wer ich eigentlich bin. Und das musste ich wieder herausfinden.“ Über einen Zeitraum von sieben Jahren behielt Thompson die Musik weiterhin im Auge, während er die Lifestyle-Coaching-Agentur Disruptive Patterns aufbaute. Schließlich begannen sich seine Studio-Klangexperimente wieder zu einem neuen Workflow zusammenzufügen, und Thompson entdeckte die Möglichkeiten von Software-Synths und Plug-ins. Später bot sich die Gelegenheit, selbst ein Sample-Pack zu produzieren, und dies brachte Thompsons Arbeitsweise im Studio auf ein neues Level.
„Früher saß ich im Studio, nahm alle Sounds auf und habe solange an einem Track gearbeitet, bis er fertig war“, erinnert sich Thompson. „Aber immer öfter verbrachte ich die Zeit damit, auf einen leeren Bildschirm zu starren – oder mich mit einem einzigen Beat zu beschäftigen. Dann kam über meinen Verlag die Anfrage, eine Sample-Library zu produzieren. Ich habe im Studio alles dafür vorbereitet und drei Monate lang nie versucht, einen Track fertigzustellen. Stattdessen habe ich jede Menge Loops mit 16 oder 32 Takten gemacht – einfach ein Arrangement gestartet und darin Loops und Sounds kombiniert. Nach einer Weile konnte ich genau hören, was den einzelnen Loops noch fehlte. Und nach drei Monaten hatte ich vier oder fünf Tracks fertig, ohne das bewusst angegangen zu sein. Das hat meine Arbeitsweise komplett umgekrempelt – und ich arbeite jetzt immer so.“
Welcher Sound?
Mit neuem Workflow und Veröffentlichungen auf Full Cycle und anderen Labels, richteten sich Thompsons Gedanken natürlich auf die Produktion eines umfangreicheren Werks. Er ließ seine sogenannte „Widescreen-Ära“ Revue passieren – legendäre Tracks wie „True Stories“, „Future Unknown“, „Soul In Motion“ und „The Last Day“, die um die Jahrtausendwende herum erschienen waren. Monatelang vertiefte er sich in diese Tracks, um herauszufinden, ob sich diese Ausdrucksweise mit dem neu entdeckten Workflow in die heutige Zeit übertragen ließe.
„Nachdem ich über ein neues Album nachgedacht hatte, war die nächste Frage: 'Welche Tools brauche ich, um diese Geschichte zu erzählen?'“ sagt Thompson. „Ich bin von der Musik der 1970er Jahre geprägt und mit George Clinton, George Benson, Dionne Warwick und Stevie Wonder aufgewachsen. Dieser Sound hatte was. Und später auch der frühe HipHop, als er auf SSL-Mischpulten gemixt wurde – fett und crunchy. Genau diesen Sound wollte ich für mein neues Album. Aber wie erreiche ich dieses Ziel?“
Bestimmte Klangerzeuger im Krust-Studio können manche der gesuchten Sounds zuverlässig liefern – zum Beispiel sein EMU E64 Sampler. Doch um diesen ganz bestimmten 1970er-Studio-Sound, der ihm vorschwebte, zu erreichen, musste er neue digitale Saturation-, Kompressor- und EQ-Emulationen ausprobieren – vor allem die Neve- und SSL-Plug-ins.
„Ich wollte wirklich herausfinden, wie ich diese Plug-ins nutzen kann – alles mit diesen Effektketten bearbeiten, um zu sehen, was passiert, wenn ich dieses Oldschool-Feeling mit einer neuen und digitalen Produktionsästhetik kombiniere. Ich wollte auch wissen, was passieren würde, wenn ich das Ganze auf die Spitze treibe. Ich habe das Ganze eher als Skizzenblock verstanden und war nicht so pingelig mit den Sounds – man hört viel Rauschen, Glitches und Töne abseits der Skala. Ich habe das einfach dringelassen. Weil das für mich Pinselstriche sind. Alles klar?“
Szenen entwickeln
Thompson beschreibt den Prozess des Musikmachens gerne mit visuellen Begriffen und beruft sich dabei auf Antony Williams' Malerei mit Temperafarben – oder nennt gefeierte Filmregisseure wie Martin Scorsese und Stanley Kubrick als Einfluss. The Edge Of Everything ist auf einer Erzählskizze aufgebaut – mit einem Protagonisten, „der die Orientierung verloren hat und herausfinden will, wer er ist“. Manche Tracks beziehen sich auf bestimmte Szenen dieser Erzählung – hochdramatische Momente, in denen der namenlose Protagonist vor richtungsweisenden Entscheidungen und Wagnissen steht. Wenn Thompson diese Momente beschreibt, wird ihre Verbindung zur Musik deutlich.
„Hör dir die Musik so an, als ob du einen Film anschauen würdest“, sagt er. „Das ist meine Herangehensweise. Ich halte mich kaum an die musikalischen Regeln, sondern suche nach dem besten Weg, diese Geschichte zu erzählen. Am Ende von ‚Negative Returns‘ sind hohe Streicherklänge zu hören, die sich immer weiter aufbauen. Das ist mein Protagonist, dem am Rande der Klippe gesagt wird: ‚Komm bis zum Rand‘. Er sagt: ‚Nein‘. ‚Komm bis zum Rand‘ – ‚Nein‘. Er macht es dann doch, wird hinabgestoßen und fürchtet sich vor dem Aufprall. Aber so weit kommt es nicht. Das alles sollen diese Streicher vertonen.“
Wenn es einen Track auf The Edge Of Everything gibt, der die Spannung zwischen Thompsons experimentellem Ansatz und seiner Verwurzelung in der Drum-and-Bass-Dynamik auf die Spitze treibt, ist das „7 Known Truths“. Er befindet sich in der Mitte des Albums und spielt eine zentrale Rolle in der Erzählung. Die Musik scheint drei Minuten lang seltsam stillzustehen – ein Bad aus Sweeps, Tönen und umherkreisenden Delays – bis dann völlig unerwartet der Drop kommt. Als ob ein neuer Track beginnen würde. Beginnen muss. „7 Known Truths“ ist von cineastischer Dramatik durchdrungen und nicht-linear aufgebaut, doch diese wuchtigen Drums und Bässe kennen wir nur zu gut: Das ist Thompsons unverwechselbare Handschrift.
"Man hört viel Rauschen, Glitches und Töne abseits der Skala. Ich habe das einfach dringelassen. Weil das für mich Pinselstriche sind. Alles klar?“
„‚7 Known Truths‘ war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, so Thompson. „Die ersten vier oder fünf Tracks hatte ich schnell fertig, aber zu diesem Track kam ich immer wieder zurück. Er ist sehr typisch für die Musik, mit der ich mich in letzter Zeit beschäftigt habe. Es gab zwei oder drei Teile, von denen ich dachte: ‚OK, sie funktionieren noch nicht, aber das will ich ändern‘. Also fügte ich sie zusammen und dachte: ‚Wie beunruhigend!‘. Am Ende klang alles genau so, wie ich es wollte.“
„Das Spannendste an diesem Track war für mich die Energie, die das Drum-Pattern entwickelt – das war komplett neu für mich. Ich habe da komplett neue Techniken verwendet. Der Beat besteht eher aus weißem Rauschen und Gate-Effekten als aus richtigen Hi-Hats und solchen Sounds. Das kam durch Experimentieren zustande, durch Anhören von Musik mit modularen Synths und den Versuch, das alles zu verstehen. Auf diese Weise habe ich etwas gefunden, das wirklich Energie hat.“
Die DNA
Selbst wenn The Edge Of Everything für Thompson neue musikalische Möglichkeiten eröffnet und seinen Trademark-Sound in spannende Gefilde geführt hat, ist das trotzdem noch ein typisches Krust-Album – ein logisches Kapitel seiner verschlungenen Diskographie und früherer Errungenschaften, auf Basis einer gemeinsamen musikalischen DNA. Angesichts der neuen Sounds und Kompositionsmethoden wird diese DNA weniger durch markante Klänge erkennbar, sondern eher durch ein alles durchdringendes Grundgefühl – manifestiert im Knurren der Bässe oder im unerbittlichen Hämmern der Drums. Die technischen Beschränkungen, mit denen Thompson und seine Kollegen in frühen Jungle-Tagen noch konfrontiert waren, führten zu bestimmten Regeln, die auch 30 Jahre später noch Bedeutung haben.
„Klar – es ist sehr einfach, die DAW auf Aufnahme zu schalten und tagelang Klänge zu sampeln“, sagt Thompson. „Das ist sehr praktisch für das Jammen und Tracks skizzieren, kann aber auch zu Selbstzufriedenheit führen. Wenn du keine gute Geschichte hast, hilft dir die Technologie auch nicht weiter. Als die erste Welle digital produzierter Tracks herauskam, ging alles in Richtung ‚Weil es das jetzt gibt, sollten wir es auch nutzen‘. Alle rieten mir, die Kick-Drums mit Kompression und EQ zu bearbeiten – aber dadurch wurde der Sound nicht unbedingt besser. Da wurde mir eines klar: Wenn du niemanden erzählst, wie du den Track im Einzelnen gemacht hast, finden ihn alle großartig. Aber wenn du es ihnen im Studio zeigst, glauben sie dir nicht.“
„Ich habe jahrelang niemandem verraten, wie die Bassline von ‚Warhead‘ entstanden ist. Alle meinten: ‚Du hast doch bestimmt diesen oder jenen Synth dafür verwendet?‘. Als ich dann doch erzählt habe, dass ich nur ein Kabel angefasst und das Feedback aufgenommen hatte, waren alle baff: ‚Echt jetzt?‘ Ich habe gerade erst 20.000 Pfund für dieses Setup ausgegeben, um diese Bassline nachzubilden!“
Analoger Einfallsreichtum und Glückstreffer bildeten unter anderem das Fundament von Drum-and-Bass – und das Sampling die Arena für so manchen grandiosen Technologie-Missbrauch. Thompson erinnert sich an die Herausforderungen beim Beschleunigen der Drum-Breaks auf 170 BPM – einem Tempo, bei dem die Sounds dünner klangen und ihre Wirkung verschwand. Eine Zeitlang wurden mehrere Drum-Breaks übereinander geschichtet, um sie wuchtiger klingen zu lassen – oft mit chaotischen Ergebnissen. Bis man dann auf die Idee kam, die Breaks auseinanderzunehmen und in der gewünschten Geschwindigkeit wieder zusammenzubauen. Als die computergestützte Produktion zu einer praktikableren Option wurde, gehörte das Sampling zu den Bereichen, in denen sich die Grenzen deutlich erweiterten und sich mühselige Arbeitsprozesse beschleunigen ließen. Doch für die Generation, die ihren Sound durch die Verdoppelung der Samplingzeit und die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten einer Hi-Hat gemeistert hatten, stellten die neuen Möglichkeiten eine Art Identitätsfrage dar.
Digital werden
„Irgendwann hatten wir es einfach drauf“, erzählt Thompson. „Die Musik klang toll, sie klang groß, sie war laut. Und plötzlich waren wir mit der Bequemlichkeit des Digitalen und den damit verbundenen Möglichkeiten konfrontiert. Es war verlockend, also haben wir uns alle darauf gestürzt. Trotzdem gab es definitiv eine Lernkurve. Aber die letzten 10 Jahre Musik haben mir wahrscheinlich wieder genauso viel Spaß gemacht wie zu Beginn. Ich habe meinen Sweet Spot inzwischen gefunden – und herausgefunden, wie ich die Musik so klingen lasse, wie ich es will. Das war eine große Sache für mich – zu verstehen, was in diesem neuen digitalen Bereich mein eigener Sound ist.“
Wie bei einem Junglist nicht anders zu erwarten, konzentrierte sich Thompson bei seinen ersten Versuchen mit Live zuerst auf das Sampling und Time-Stretching, das Verschieben von Warp-Markern und das Sound Design. Seine wichtigste Produktionsumgebung blieb zunächst Pro Tools – Live spielte in Thompsons Workflow vorerst eine Nebenrolle. Dies änderte sich dann mit der 2018 auf 31 Records erschienenen 12" The Portal / Concealing Treachery. Bevor er sich's versah, war Krust mit Live plötzlich ein komplettes Track-Arrangement gelungen.
„Ich bin eigentlich ein überzeugter Pro-Tools-User. Aber dann hatte ich in Live plötzlich einen Track fertig und dachte: ‚Wow, das ging ja ziemlich einfach‘. Seitdem ist Live mein Lieblings-Skizzenblock – damit macht es wirklich Spaß. Es fühlt sich nicht so an, als ob ich Tracks komponiere oder etwas ganz Bestimmtes erreichen will. Und genau das mag ich – über nichts anderes nachzudenken als: ‚Lass mich mal dies hier nehmen und an einer anderen Stelle ausprobieren. Dann alles zusammenbauen, exportieren und fertig‘.“
The Edge Of Everything ist das stolze Ergebnis von Thompsons Errungenschaften im hybriden Bereich der analog-digitalen Produktion. Instrumente wie sein Roland V-Synth sind zwar nach wie vor eine Konstante in seinem Studio, doch der gedankliche Fokus liegt inzwischen weniger auf bestimmten Klangquellen, sondern auf dem direktesten Weg, die eigene Musik Gestalt annehmen zu lassen. Für sein neues Krust-Album hat Thompson seine Selbstkritik ein Stückweit runtergepegelt, um in den entscheidenden Flow zu kommen – wohin auch immer er ihn führen mag.
„Darum geht es doch bei der Kunst“, fasst Thompson zusammen. „Ich weiß nicht, was es ist – bis es dann fertig ist. Ich kenne die Richtung, bin aber sehr offen in Hinsicht auf den Weg – und auf das Ergebnis.“
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